Obermayer German Jewish History Award
„Ich möchte den Menschen die Wahrheit erzählen ...“
Roland Müller lässt die jüdische Geschichte der heute zu Polen gehörenden Stadt Breslau wieder lebendig werden.
Für jemanden, der 40 Jahre in einem technischen Beruf tätig war, hat Roland Müller eine beträchtliche Anzahl viel beachteter Artikel und Bücher zur Geschichte veröffentlicht, insbesondere zur jüdischen Geschichte der polnischen Stadt Breslau (Wrocław).
Müller hat an der Technischen Universität Dresden Ingenieurökonomie des Bauwesens studiert und später an der betriebswirtschaftlichen Fakultät promoviert. Heute spricht er jedoch lieber über andere Themen, zum Beispiel das Buch, das er über die Synagogengemeinde von Breslau vor dem Holocaust geschrieben hat, oder die von ihm initiierte Gedenktafel zu Ehren von Adolf Heilberg, der vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ein hoch angesehener jüdischer Rechtsanwalt, Friedensaktivist und Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung gewesen war. Oder auch den Stadtplan und die Broschüre, die er für einen geschichtlichen Rundgang zum jüdischen Breslau erstellt hat.
Eigentlich wäre Müller schon als Kind gerne Historiker geworden. Aber die ostdeutsche Lebenswelt, die Geschichte ausschließlich durch die Brille des Kommunismus betrachtete, dämpfte diesen Wunsch.
Müller wurde 1942 im südbrandenburgischen Elsterwerda geboren. Er wuchs ohne Vater auf, der kurz vor Ende des Krieges nahe Krakau gestorben war. Im Alter von 12 Jahren begann Müller eine Brieffreundschaft mit dem jüdischen Mädchen Tamara Burstyna in Warschau, die er zwei Jahre später in den Weihnachtsferien besuchte. Burstynas Vater war Kommandant in der polnischen Armee gewesen, ihre Familie hatte den Krieg im Untergrund überlebt. Müller war der erste Deutsche, den die Familie nach 1945 traf.
Er lernte auch Burstynas jüdischen Freundeskreis kennen – eine Erfahrung, die ihn tief beeindruckte. „Damals wurde mein Interesse für die jüdische Geschichte geweckt“, erinnert er sich. „Ich begann nachzudenken, nachzufragen und zu lesen: zur jüdischen Vergangenheit und dem Alltag der Juden, zum Holocaust und den Konzentrationslagern.“
Bei einem Besuch in Warschau entdeckte Müller 1961 das deutsch-hebräische Lehrbuch der Israelitischen Religion für Schulen von 1877. Es war mit dem Stempel „Jüdisches Reform-Realgymnasium Breslau“ versehen. Dieses Schuldetail faszinierte Müller und weckte seine Neugier. „Das war das erste Buch, aus dem ich etwas über die jüdische Religion und jüdisches Leben erfuhr“, sagt er. Bis zum 2. Weltkrieg gehörte das heute polnische Wrocław zu Deutschland. 1925 hatte Breslau die drittgrößte jüdische Gemeinde des Landes.
Müller reiste in den nächsten Jahrzehnten immer wieder nach Breslau. Dabei besuchte er gerne das Stadtmuseum, um mehr über die Geschichte der jüdischen Schulen vor dem Krieg zu erfahren. Als er Ende der 1990er Jahre aufgrund eines wirtschaftlichen Abschwungs im Bausektor seine Arbeitsstelle verlor, „beschloss ich, das Beste aus der Situation zu machen und mich in dem Bereich zu engagieren, der mich schon immer am meisten interessiert hatte – Geschichte“, erzählt er. Müller tauchte ein in die Erforschung der jüdischen Schulen der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, durchforstete die Polnischen Staatsarchive, um die Geschichten vergessener Menschen, Institutionen und Synagogen zu erforschen, die das reiche kulturelle Leben vor dem Krieg geprägt hatten.
2003 erschien Müllers erstes Buch, Das Breslauer Schulwesen in der Weimarer Republik, das sich mit der Zeit zwischen dem Ende des 1. Weltkriegs und der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 befasst. Das Buch ergänzte eine Ausstellung des Breslauer Architekturmuseums. Seitdem arbeitet Müller nahezu im Alleingang daran, die jüdische Vergangenheit Breslaus zu erforschen und zum Leben zu erwecken, indem er sowohl die herausragenden Leistungen als auch die tragische Auslöschung der Gemeinde durch die NS-Verbrechen ans Licht bringt. Ohne institutionelle oder finanzielle Unterstützung hat Müller Artikel in Zeitschriften und Magazinen veröffentlicht, Ausstellungen organisiert und Vorträge über die jüdische Stadtgeschichte gehalten.
„Ich fand es sehr wichtig ... zu zeigen, wie die Juden von Breslau auf zweifache Weise vom NS-Regime betroffen waren – nicht nur durch die Shoah, sondern auch durch ihre Vertreibung als Deutsche nach dem Krieg“, sagt er. In dieser Zeit wurden die Deutschen aus Schlesien, Böhmen und anderen ehemals von Deutschland besetzten Gebieten vertrieben. „Ich wollte zeigen, dass das Schicksal der verfolgten jüdischen Bevölkerung aus Breslau nicht in Vergessenheit geraten darf.“
Er nahm Kontakt zu Überlebenden aus Breslau und ihren Nachkommen auf und reiste 2006 nach Israel. Dort traf er jüdische Menschen, die früher in Breslau gelebt hatten und von denen einige jüdische Schulen in der Stadt besucht hatten. Auf dieser Reise lernte Müller auch Werner Ansorge, einen Emigranten aus Breslau, kennen, der ihm seine Lebensgeschichte erzählte. Müller veröffentlichte sie unter dem Titel Meine ersten achtzig Jahre: von Breslau nach Israel.
2012 brachte Müller eine Biographie des letzten demokratisch gewählten Bürgermeisters von Breslau heraus: Otto Wagner (1877–1962) im Spannungsfeld von Demokratie und Diktatur: Oberbürgermeister in Breslau und Jena). Darin spannt er einen weiten Bogen über die Geschichte der Demokratie in Breslau.
2014 schuf Müller einen Stadtplan und eine Broschüre für einen Rundgang durch das jüdische Breslau: Auf den Spuren der Breslauer Synagogengemeinde bis zur Shoah. 2018 fügte er weitere Pläne und eine Broschüre über jüdische Stätten in Breslau hinzu und veröffentlichte das Ganze als Buch unter dem Titel Auf den Spuren der Breslauer Synagogengemeinde bis zur Shoah. Fakten – Personen – Geschichten.
2019 trug Müller entscheidend dazu bei, dass eine Gedenktafel an der Mauer des jüdischen Friedhofs von Breslau finanziert werden konnte, um an Adolf Heilberg zu erinnern, den prominenten jüdischen Rechtsanwalt, Politiker und Pazifisten. Heilberg, über den Müller zuvor schon einen Artikel geschrieben hatte, war auch Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft.
Helen Breslauer aus Toronto, eine Urenkelin von Heilberg, würdigt Müllers hartnäckiges Engagement so: „[Er] arbeitet mit seinen Schriften und öffentlichen Vorträgen unermüdlich daran, seine Überzeugungen in Bezug auf die demokratische Gesellschaft, Rechtsstaat und Frieden so vielen Menschen wie möglich zu vermitteln“, sagt sie.
Müller findet immer wieder neues Material zu Breslau, über das es sich zu schreiben lohnt. Die Stadt hat heute nach Warschau die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Polen. Er verknüpft seine Forschungsarbeit mit echten Menschen, deren persönliche Geschichten er lebendig werden lässt. Dabei wendet er sich gezielt an die Menschen von heute, insbesondere an die Jugend, um zu zeigen, wie vielfältig und tolerant die demokratische Gesellschaft während der Weimarer Republik war, und um zu vermitteln, „welch wichtigen Beitrag die Menschen nicht nur als Juden, sondern als Deutsche und ganz normale Bürgerinnen und Bürger von Breslau leisteten. Die Juden dieser Zeit waren Deutsche jüdischen Glaubens, und es ist wichtig, das klarzumachen. Wir dürfen nicht fälschlich zwischen Juden und Deutschen unterscheiden“, erklärt er.
Die Vergangenheit ist für Müller nicht so weit entfernt von der Gegenwart, wie viele meinen; auch deshalb ist seine Arbeit für ihn heute nötiger denn je: „Ich möchte einen Beitrag leisten“, sagt er, „zur Erinnerung an die jüdische Geschichte und, soweit es in meiner Macht steht, zur Bekämpfung des Antisemitismus, wie er sich heute wieder zeigt. Und ich möchte den Menschen die Wahrheit erzählen über das, was in der Vergangenheit geschehen ist.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.