Obermayer German Jewish History Award

„Wir befinden uns an einem kritischen Punkt.“

Die Joseph-Gruppe

Die Erzählungen eines Holocaust-Überlebenden waren für diese fünf Schülerinnen und Schüler so inspirierend, dass sie ein Buch schrieben und eine Stiftung gründeten. Heute regen sie Schulklassen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte an.

Im Jahr 2003 kam es bei einem Schulausflug zu einer Begegnung zwischen einem älteren jüdischen Mann und einer Gruppe von Neuntklässern aus Berlin, deren Leben sich durch diese Begegnung nachhaltig verändern sollte. Sie inspirierte die Gruppe zu einem Buch über das Leben dieses Mannes, um Gleichaltrigen das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte anschaulich zu vermitteln. Später wurde ein Wettbewerb, gekoppelt mit einer Bildungsinitiative, ins Leben gerufen, der jedes Jahr Hunderte junger Menschen dazu anregt, sich ernsthaft mit der jüdischen Geschichte Deutschlands auseinanderzusetzen.

Zum Zeitpunkt der Begegnung wussten sie all das natürlich noch nicht. Die Schüler trafen Rolf Joseph bei einem Besuch der einhundert Jahre alten Synagoge in Berlin-Charlottenburg. Er erzählte ihnen die Geschichte seines Überlebens in einer Zeit, die ihnen bis dahin nur sehr abstrakt vermittelt worden war.

Der 1920 geborene Joseph erlebte den aufkommenden Antisemitismus der 1930er Jahre und überstand den Holocaust im Keller eines Lumpensammlers im Berliner Wedding. Zeitweise lebte er nur von Beeren, die er im Wald außerhalb der Stadt sammelte, bis er schließlich doch noch von der Gestapo gefasst wurde. Man folterte ihn und kettete ihn mit einer kleinen Gruppe anderer Gefangener zusammen, die nach Auschwitz deportiert werden sollten. Auf der Fahrt zur Bahnstation gelang es Joseph, einem seiner Bewacher eine Zange zu entwenden und zu verstecken. Mit ihrer Hilfe konnte er sich selbst und andere Gefangene im Bahnwaggon befreien und aus dem fahrenden Zug springen. Mehrfach entkam Joseph nur ganz knapp dem sicheren Tod.

Die Schüler Fabian Herbst, Dorothea Ludwig, Pia Sösemann, Simon Strauss und Simon Warnach wurden gemeinsam mit ihrem Lehrer Albrecht Hoppe von Josephs Geschichte in den Bann gezogen. „Wir waren wirklich geschockt von dem, was er uns erzählte“, erinnert sich Herbst, der damals 15 Jahre alt war. „Er machte Geschichte lebendig für uns, und wir beschlossen, dass wir ihn besser kennen lernen wollten.“

Joseph hatte schon seit vielen Jahren Schulen besucht, von seinen Erfahrungen berichtet und die Schüler über den Holocaust informiert; einer dieser Besuche führte ihn auch an das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, das die fünf Schüler besuchten. Schließlich beschlossen die fünf Teenager, etwas zu tun, das noch niemand zuvor in Angriff genommen hatte: Josephs Geschichte zu dokumentieren.

„Wir trafen uns jeden zweiten Monat mit ihm und nahmen alles auf Band auf“, sagt Herbst. Strauss fügt hinzu: „An einem Punkt meinte jemand: ,Lasst uns das einfach aufschreiben‘, und am Ende sagten wir uns: ,Jetzt müssen wir einfach dieses Buch herausbringen.‘ Wir wollten Joseph dieses Buch geben, um ihm zu zeigen, dass er uns etwas bedeutet.“ Vier Jahre später, im Jahr 2007, gelang es der Gruppe, die Biographie von Rolf Joseph als Gemeinschaftswerk in einem 90-seitigen Buch unter dem Titel Ich muss weitermachen herauszubringen. Damals bezeichneten sich die Schüler bereits als Joseph-Gruppe.

„Wir wollten ein Buch von Schülern für Schüler schreiben“, sagt Herbst. Eine der Autorinnen, Pia Sösemann, studierte später an einer Universität in Florida und übersetzte das Buch ins Englische. Im Jahr 2012, nach dem Tod von Rolf Joseph, diskutierte die Gruppe, was mit den Einnahmen aus dem Buchverkauf geschehen sollte. Sie überlegten zunächst, eine Gedenkstätte in Josephs Namen zu errichten oder das Geld zu spenden. Schließlich entschieden sie sich jedoch für eine andere Idee: Sie lobten einen Preis aus, um andere Schüler dazu anzuregen, sich mit Themen rund um die jüdische Geschichte in Deutschland auseinanderzusetzen, wie es Joseph bei ihnen gelungen war. Im Jahr darauf wurde der Rolf-Joseph-Preis erstmals ausgelobt. „Besonders die Jugendlichen, mit denen Rolf Joseph so gerne sprach, die 13- bis 16-Jährigen, wollten wir mit dem Material, mit der Geschichte in Berührung bringen“, sagt Herbst.

Der Preis würdigt Schüler, die sich auf sinnvolle und nachhaltige Weise – in Texten oder Filmen – mit der jüdischen Geschichte in Deutschland befassen. Die Projekte legen den Fokus auf ganz unterschiedliche Themen, von der frühen jüdischen Geschichte über die Erfahrungen jüdischer Gemeinden im Nationalsozialismus bis hin zu Stolpersteinen oder der Beschäftigung mit jüdischen Straßennamen. 2017 gehörte beispielsweise eine achte Klasse aus Hemsbach in Baden-Württemberg zu den Preisträgern, deren Videoprojekt sich um jüdische Familien drehte, die früher dort gelebt hatten. Sie stellten die Frage: „Wie würde Hemsbach heute aussehen, wenn die Familien noch da wären?“ Ein zweiter Preis ging an eine Gruppe Berliner Gymnasiasten, die von einer geplanten Stolpersteinverlegung für deportierte Mitglieder der Familie Lipski zu einem Video über das Leben dieser Familie angeregt wurden. Es gelang ihnen, Kontakt zu einer der Nachfahrinnen der Familie in Israel herzustellen, die sie zur Verlegung nach Berlin einluden, um den Stein zu widmen.

Die Preisverleihung findet alljährlich im Jüdischen Museum Berlin statt und ist eingebettet in ein Workshop-Wochenende, das jungen Menschen neben dem Leben von Rolf Joseph vor allem auch Aspekte jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte nahebringen soll. Der Preis findet große Anerkennung in der deutschen Presse, und die Verleihung zieht mittlerweile mehrere hundert Besucher an.

„Was die Arbeit der Joseph-Gruppe so besonders macht, ist, dass ihr Werk in zweierlei Hinsicht einen Beitrag zur Erforschung der jüdischen Geschichte leistet. Zum einen durch die Niederschrift und Veröffentlichung des bewegten Lebenswegs von Rolf Joseph“, sagt Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, „und zum anderen durch die Stiftung des Rolf-Joseph-Preises, der junge Menschen motivieren möchte, sich mit jüdischer Geschichte sowie jüdischer Kultur in der heutigen Zeit zu befassen.“

Die 14 Jahre gemeinsamer Arbeit haben die Gruppe eng zusammengeschweißt, auch wenn ihre Mitglieder inzwischen unterschiedliche Berufswege eingeschlagen haben: Herbst, Ludwig und Sösemann studieren Jura, während Strauss als Journalist tätig ist und Warnach derzeit im Fach Umweltphysik promoviert. Angesichts eines vollgepackten Alltags ist die Fortführung des Rolf-Joseph-Preises eine große Herausforderung: Die Gruppe muss nicht nur alle Einreichungen begutachten, sondern auch Schulen und Lehrer kontaktieren, damit sie den Wettbewerb in ihren Lehrplan integrieren. Was sie zum Weitermachen bewegt, ist die Dringlichkeit der Aufgabe und das Gedenken an Rolf Joseph.

„Wir befinden uns gerade an einem kritischen Punkt, weil die letzten Augenzeugen aus der Zeit des Holocaust nicht mehr sehr lange da sein werden“, sagt Strauss, der als publizierter Schriftsteller auch für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schreibt. „Unsere Gruppe hatte die Ehre und die großartige Chance, jemanden zu treffen und kennen zu lernen, der uns half zu verstehen, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geschah. Das war für uns alle zugleich eine lebensverändernde Erfahrung. Diese Wissensvermittlung aus erster Hand kommt nun langsam an ihr Ende.“

Schüler „haben die Gedenkstätten, Schulbücher, Filme und vielleicht noch Berichte ihrer Eltern“, fährt er fort, „aber sie haben nicht mehr die Gelegenheit, jemanden von Angesicht zu Angesicht zu treffen, der die Zeit wirklich erlebt hat.“

Um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, arbeitet die Joseph-Gruppe mit der FAZ zusammen, die Platz für Schülerartikel und -berichte zu jüdischen Themen bietet. Die Gruppe hofft, dass andere Jugendliche sich ebenfalls mit der jüdischen Vergangenheit ihres Landes befassen und den Preis fortführen werden, um ihn auf Dauer fest in Deutschland zu verankern. „Dabei geht es vor allem auch darum, Menschen miteinander zu verbinden“, sagt Strauss. „Es ist unsere Pflicht, dieses Engagement fortzuschreiben und andere junge Leute zu dieser Art aktiver Erfahrung anzuregen. Es geht um den Brückenbau zwischen historischen Ereignissen und unserer heutigen Zeit.“

 
 

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