Obermayer German Jewish History Award

„Ich denke an diesen Menschen, weil ...“

Christa Niclasen

Mauern dienen in der Regel der Trennung. An dieser Schule wächst jedoch seit zwei Jahrzehnten eine Mauer, die Menschen verbindet.

Als Christa Niclasen 1986 als Lehrerin an die Löcknitz-Grundschule kam, blätterte sie zufällig durch die handschriftlichen Aufzeichnungen eines ehemaligen Schulleiters. Dabei stieß sie auf einen erschreckenden Eintrag nach der Reichspogromnacht im November 1938: „Er schrieb, dass es an der Zeit sei, die Juden von der Schule zu entfernen, da sie gefährlich wären für die deutsche Rasse, und dass von da an kein Jude mehr Zutritt zu unserer Schule haben sollte“, sagt Niclasen. „Ab diesem Zeitpunkt gab es keine jüdischen Kinder mehr an der Schule.“

Die Löcknitz-Grundschule liegt in einem Berliner Viertel, in dem damals 16.000 Juden lebten. Zu den prominenten Einwohnern gehörte der Physiker Albert Einstein ebenso wie der Theologe Leo Baeck, der Soziologe Erich Fromm oder der Autor Alfred Kantorowicz. Die Schule wurde am Standort einer ehemaligen Synagoge errichtet.

Niclasen (Jahrgang 1951) dachte daran, wie wenig sie selbst in ihrer Heimatstadt Braunschweig über die Geschichte gelernt hatte. Sie erinnerte sich an Erzählungen ihres Großvaters: „Er erzählte mir Geschichten über den Krieg und darüber, wie schrecklich alles war. In der Schule erfuhren wir nur, dass der Zweite Weltkrieg von 1939 bis 1945 dauerte.“ Alles Weitere musste sie sich aus Büchern und Filmen aneignen.

Sie beschloss, dass ihre Schülerinnen und Schüler etwas über die einst so lebendige jüdische Nachbarschaft und Kultur im Umfeld der Schule erfahren sollten.

Als Niclasen 1994 Schulleiterin der Löcknitz-Grundschule wurde, entwickelte sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Waltraud Hardtke einen einzigartigen Unterrichtsplan. Dafür zogen sie ein Gedenkbuch heran, in dem mehr als 6.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger aufgelistet wurden, die früher in der Nachbarschaft gelebt hatten und in Konzentrationslagern getötet wurden. Die Schülerinnen und Schüler der sechsten Klassenstufe wurden aufgefordert, sich jeweils eine Person auszusuchen, die ihr Interesse weckte. Einige entschieden sich für Menschen, die in ihrer Straße gelebt hatten, andere für eine Person, die am gleichen Tag wie sie Geburtstag hatte.

Christa NiClasen

Christa NiClasen

Da in der Nachbarschaft zufällig gerade ein Haus aus gelben Ziegelsteinen gebaut wurde, beschaffte Niclasen eine paar Dutzend solcher Steine für ihr Projekt. Die Schülerinnen und Schüler schrieben Name, Geburtsdatum und Tag und Ort des Todes auf ihre Steine. Danach wurden diese ersten 27 Steine auf dem Schulhof verlegt – der Beginn einer Mauer, die von da an jedes Jahr ein bisschen weiter wachsen sollte. Zu jedem Stein sagten die Schülerinnen und Schüler „Ich denke an diesen Menschen, weil ... “, gefolgt von einigen Informationen zur jeweiligen Person.

Heute wird das Projekt unter dem Namen Denk-mal an jüdische Mitbürger von den sechsten Klassen jedes Jahrgangs mit Begeisterung weitergeführt. Inzwischen sind 1.500 Gedenksteine verlegt, und es gibt noch viel Platz für weitere Steine.

Im Gegensatz zu anderen Mauern, die dazu dienen, Menschen auszusperren, hat diese Mauer Besuch aus der ganzen Welt angezogen. Schulklassen interessieren sich ebenso wie Prominente und Menschen aus der Politik für das einzigartige Projekt und den Lehransatz der Schule für die Vermittlung der jüdischen Geschichte. Hannah Pick-Goslar, Anne Franks beste Freundin, hat die Schule im Laufe der Zeit vier Mal zu unterschiedlichen Gelegenheiten mit Angehörigen besucht.

Zu den beeindruckendsten Momenten gehören die Besuche ehemaliger jüdischer Schülerinnen und Schüler, die 1938 von der Schule verwiesen wurden. Ihre Lebensgeschichten ziehen die Kinder jedes Mal in ihren Bann. „Auch mit 11 oder 12 Jahren kann man über die emotionale Schiene gefiltert sehr viel an Betroffenheit erreichen“, ohne sie mit allen Fakten zu konfrontieren, sagt Niclasen. „Ich schaue unsere Sechstklässler an, wenn sie den Augenzeugen zuhören, und ich sehe und fühle, wie sehr sie die Erzählungen bewegen. Ich denke, es ist wichtig, dass die Kinder etwas über die Vergangenheit erfahren, damit so etwas nie wieder geschehen kann.“ Sie erzählt die Geschichte eines Jungen, der zunächst nicht mitmachen wollte. Er stammte aus einer palästinensischen Familie und weigerte sich, an einem Projekt teilzunehmen, bei dem an Juden erinnert wurde. Aber nachdem er gehört hatte, was geschehen war, änderte er seine Meinung und beschloss, auch einen Stein hinzuzufügen.

Judith Blumenheims Großmutter Helene, Jahrgang 1867, war unter denen, die niemals zurückkehrten. Blumenheim erfuhr von dem Projekt an der Löcknitz-Grundschule, als sie Niclasen bei der Verlegung eines Stolpersteins vor dem ehemaligen Wohnhaus ihrer Großmutter kennen lernte. 2009 wurde der 800ste Stein der Mauer hinzugefügt, mit dem Namen ihres eigenen Vaters, Ernst-Alfred BIumenheim. „Ich habe zu dem jungen Paten mit Hilfe von Frau Niclasen eine Verbindung aufgebaut“, sagt sie. „Diese Steinverlegung gehört zu den glücklichsten Momenten in meinem Leben, denn ich hatte ja nie ein Grab für meinen Vater.“

Peter Zander, der 11 Jahre alt war, als seine Familie 1933 von Berlin nach England ging, wird nie den Moment vergessen, als er die Mauer zum ersten Mal sah. Die Lokalhistorikerin Gudrun Blankenburg hatte ihn bei einem Spaziergang zu der Schule geführt.

„Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam. Frau Blankenburg hatte einen Schlüssel zum Schulhof und öffnete das Tor … Einige Kinder spielten auf dem Hof. Ich sah eine lange, gelbe Mauer, ich sah die einzelnen schwarz beschriebenen Backsteine, in verschiedenen kindlichen Handschriften, manche in Sütterlin. Ich war baff und brach in Tränen aus.“

Die Mauer ist für Zander mehr als eine Gedenkstätte. Sie ist auch eine Stätte der „Erinnerung an die schönen Zeiten, in denen die jüdischen Bürger einfach deutsche Mitbürger, einfach Berliner waren.“

 
 

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