Obermayer German Jewish History Award

Werner Schubert 

Weißwasser, Sachsen

1999 schaltete Werner Schubert eine Anzeige in einer Lokalzeitung. Er war auf der Suche nach Augenzeugen der Reichspogromnacht in seiner Stadt, Weißwasser in der Oberlausitz, und schrieb, dass es fast schon zu spät war, um Menschen zu finden, die noch aus eigener Anschauung über die Geschehnisse von damals berichten konnten.

Schubert, der in der Hitlerjugend Jungzugführer war und als Soldat in der Wehrmacht kämpfte, hat sich der Aufdeckung der Wahrheit über die jüdische Gemeinde in der Stadt verschrieben, in der er seit Ende des Krieges lebt. Auf sehr persönliche und selbstreflektierende Weise hat er aufgearbeitet, was es bedeutete, Teil des NS-Regimes zu sein – und wie es war, im kommunistischen Ostdeutschland zu leben, wo die jüdische Geschichte und insbesondere das Schicksal der lokalen jüdischen Gemeinden tabu war.

„Nach der kommunistischen Doktrin waren die meisten Juden Kapitalisten – und Kapitalisten galten als Klassenfeinde“, so Schubert. „Das war einfach kein Thema. Niemand interessierte sich dafür. Zwar gab es in jedem Unternehmen eine Geschichtskommission, aber die Frage [nach Firmen in jüdischem Eigentum oder nach dem Schicksal der Juden] wurde nie gestellt.“

Die Opfer des NS-Regimes wurden offiziell in Kategorien eingeteilt: Die kommunistischen Widerstandskämpfer standen dabei ganz oben. Nur sie allein galten als Opfer, weil sie gekämpft hatten“, erklärt Schubert. „Erst danach kamen die Menschen, die aus religiösen, rassistischen oder anderen Gründen verfolgt wurden.“

Sobald es nach der Wende möglich wurde, begann Schubert seine Recherchen in Archiven, die lange Zeit verschlossen gewesen waren. Er rekonstruierte das jüdische Leben in Weißwasser, nahm Kontakt zu Nachfahren lokaler jüdischer Familien auf, wandte sich an zahlreiche Schulgruppen und Organisationen und suchte unermüdlich nach Augenzeugen.

Er fand heraus, dass es hauptsächlich einem der geschmähten Industriellen – Joseph Schweig – zu verdanken war, dass Weißwasser sich von einem kleinen Fischer- und Bauerndorf mit 750 Einwohnern Ende des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg zu einer Stadt mit 13.000 Einwohnern entwickeln konnte.

Die Grabstätte von Joseph Schweig (1850–1923), der Weißwasser zu einem international bekannten Zentrum der Glasproduktion machte, „wurde nach dem Krieg zerstört. Es gab keinen Grabstein mehr. Dieser Teil der Geschichte war fast schon verloren“, so Schubert heute. Und „nur zwei Namen von Holocaust-Opfern waren bekannt.“ Dank einiger Bücher, die nach der Wiedervereinigung veröffentlicht wurden, „kennen wir heute die Namen von 14 Opfern.“

Schubert ist Autor bzw. Co-Autor mehrerer Bücher und Artikel und hat einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung lokaler historischer Stätten jüdischer Geschichte geleistet. Dabei hat er neben dem Leben des Joseph Schweig, das ein Schwerpunkt seiner Recherchen war, auch die Geschichte etlicher anderer jüdischer Familien der Stadt erforscht und Kontakt zu mehreren Generationen von Nachfahren aufgenommen. Er war an der Lokalisierung des Standorts des ehemaligen jüdischen Friedhofs beteiligt, der erst Anfang der 1980er Jahre eingeebnet worden war. Heute ist das Gelände wieder hergerichtet und denkmalgeschützt. Im Laufe der Jahre war Werner Schubert sowohl mit versteckter als auch mit offener Ablehnung seiner Arbeit konfrontiert. Dank seines Engagements wird der jüdische Teil der Lokalgeschichte heute jedoch offen und mit Stolz in den verschiedensten lokalen Institutionen erzählt und dokumentiert.

Schubert hat auch über mutige Gegner des NS-Regimes geschrieben. In seinen Schriften entlarvt er die Verantwortlichen für Verfolgung und Völkermord und rekonstruiert die lückenhafte Geschichte der „Entnazifizierung“ nach dem Krieg. Als er im Archiv des Hauses der Wannseekonferenz herausfand, dass ein für Massenmorde verantwortlicher NS-Funktionär aus Weißwasser stammte, machte Schubert es sich zur Aufgabe, eine Biographie des Mannes zu erstellen. Denn er war überzeugt, dass junge Menschen nur durch die Auseinandersetzung mit der Lokalgeschichte die richtigen Lehren aus der Vergangenheit ziehen können.

Schubert hat „Geschichte erlebbar gemacht“, so Schulleiterin Andrea Herda in ihrem Empfehlungsschreiben. Die Schüler sprachen mit den Nachkommen ehemaliger jüdischer Bürger aus Weißwasser „nicht nur über Geschichtliches, sondern auch über aktuell-politische Themen und internationale Politik.“ Sie fügt hinzu: „Ich denke, darin besteht seine persönliche Motivation: gegen ein Vergessen zu arbeiten und eine Verknüpfung von Geschichten und Demokratie heute in Deutschland herzustellen.“

Schweigs Enkelin Ingrid Kellerman-Kluger aus Haifa, Israel, schreibt in ihrer Empfehlung: „Herr Schubert hat nicht nur dafür gesorgt, dass Schüler heute etwas über den Einfluss und das Schicksal der jüdischen Mitbürger erfahren, sondern bewahrt auch das Gedenken an die Juden aus Weißwasser“ für die Nachwelt. Er „hat der jüdischen Geschichte Weißwassers wieder ein Gesicht gegeben“, ergänzt Peter Müller aus Blankenfelde, Deutschland, ein Urenkel von Joseph Schweig.

Trotz seiner inzwischen 87 Jahre sprüht Schubert noch immer vor Energie. Im September 2011 begrüßte er Mitglieder der Familie Schweig aus Israel in Weißwasser bei ihrem ersten Besuch in der Stadt, die ihr Vorfahre mit aufgebaut hatte.

Schuberts Engagement hatte noch eine weitere tiefgreifende Wirkung: Er „hat uns geholfen, wieder Vertrauen zum deutschen Volk zu fassen. Bis dahin waren wir nicht bereit, Deutschland zu besuchen“, schreibt Yehudit Schweig aus Jerusalem, eine Urenkelin von Joseph Schweig, die im Jahr 2007 mit ihren Kindern nach Deutschland reiste. Schweig fügt hinzu, dass sie bei der Heirat ihren Familiennamen behielt, „da es keine weiteren Nachkommen gab, die ihn weitergeben konnten.“

„Ich kam mir wirklich vor, als gehörte ich zur ,königlichen Familie‘ von Weißwasser – ein Gefühl, das für einen Juden im ehemaligen Ostdeutschland schon etwas Besonderes ist“, schrieb Jonathan Kellerman aus Ramat Hasharon, Israel. Der Urenkel von Joseph Schweig besuchte Weißwasser im Jahr 2009.

„So seltsam es klingen mag, aber die Kinder, die heute in Weißwasser aufwachsen, wissen mehr über meinen Urgroßvater als ich bis vor kurzem“, fügt er hinzu. Das ist nur „dem unermüdlichen Einsatz von Werner Schubert zu verdanken.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

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