Obermayer German Jewish History Award
Rolf Kilian Kießling
Forchheim, Bayern
Rolf Kilian Kießling wuchs in den 50er Jahren in Forchheim auf. In dieser Zeit bekam er auch mit, wie Großmutter und Großtante sich über ehemalige jüdische Nachbarn unterhielten – darüber, wie freundlich sie waren, wie sie ihr Matze mit den Kindern teilten und wie großzügig die jüdischen Geschäftsleute waren. Aber wo waren sie jetzt?
Eines Tages las seine Großtante aus einem Zeitungsbericht über Prozesse gegen die Wachen eines Konzentrationslagers vor: „Sie zwangen die jüdischen Gefangenen im Winter, sich auf dem Appellplatz aufzustellen, und schütteten kaltes Wasser über sie. Für ein Kind war das schwer zu begreifen“, erinnert sich Kießling. „Auf der einen Seite hörte ich, dass die Juden freundlich waren und man in ihren Geschäften gut einkaufen konnte. Auf der anderen Seite wurden sie auf schreckliche Weise misshandelt, ihre Läden zerstört. Sie wurden eingesperrt, gefoltert und drangsaliert. Diese Wiedersprüche konnte ich damals für mich nicht auflösen.“ Für Kießling stand dieser innere Konflikt am Beginn eines lebenslangen Engagements: für die Aufklärung des Schicksals der Juden seines Heimatorts und für den Kontakt zu ihren Nachfahren.
Heute ist der Gymnasiallehrer bekannt als Experte für die Geschichte der Forchheimer Juden, die mehrere Jahrhunderte zurückreicht. Seine Suche hat ihn in zahlreiche Archive geführt, und er ist rund um die Welt gereist, um Juden zu treffen, die während der NS-Zeit geflohen waren. Er hat zu dem Thema über die Volkshochschule einen Vortrag im größeren Rahmen gehalten, Ausstellungen und die Errichtung eines Denkmals für die Deportierten initiiert. Daneben führt er auch Gruppen auf „historischen Spaziergängen“ durch seine Stadt. All sein Wissen, das er sich über die Jahre angeeignet hat, teilt er mit seinen eigenen Schülern, Kollegen und der breiten Öffentlichkeit. „Ich habe das Gefühl, dass viele Einwohner der Stadt großes Interesse auch an der jüdischen Geschichte haben“, erklärt er in aller Bescheidenheit.
Kießling ist Autor verschiedener Bücher, Essays und Artikel zum Thema und arbeitet zur Zeit an der Dokumentation der Zerstörung jüdischer Gemeinden in den nahegelegenen Orten Ermreuth und Dormitz. Besonders beeindruckend ist sein im Jahr 2004 erschienenes illustriertes Werk „Juden in Forchheim – 300 Jahre jüdisches Leben in einer kleinen fränkischen Stadt“. Das Buch basiert auf seinen gesammelten Recherchen und informiert die heutigen Forchheimer über ihre Vergangenheit – die hellen wie die dunklen Seiten. Das Buch folgt den Spuren der jüdischen Geschichte seit dem 17. Jahrhundert, mit Anekdoten und Verzeichnissen jüdischer Einwohner aus dem 18. und 19. Jahrhundert sowie Details zum jüdischen Leben während der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Es schließt mit Informationen zum Leben der Forchheimer Juden, die dem NS-Regime entkamen und sich in Städten wie New York, Montreal, Milwaukee oder Sydney niederließen.
Dabei ist das Werk nicht nur eine wichtige Geschichtsdokumentation; es war auch von unschätzbarem Wert für Juden auf der Suche nach ihren Wurzeln. Nach der Veröffentlichung des Buches wandten sich mehr Menschen an Kießling, um etwas über die jüdische Vergangenheit zu erfahren oder die Stadt zu besuchen, in der ihre Großeltern gelebt hatten.
Während seiner Schulzeit am Herder-Gymnasium interessierte sich Rolf Kilian Kießling, Jahrgang 1949, besonders für die Fächer Geschichte, English und Latein. Ihm und einigen Klassenkameraden fiel auf, dass kaum ein Lehrer mit ihnen über die NS-Zeit sprechen wollte. So trafen sie sich stattdessen im Rahmen der offenen Jugendarbeit mit anderen politisch interessierten Jugendlichen in einer Art politischem Club und begannen mit eigenen Recherchen. Mit 17 besuchte Kießling mit seinen Freunden das ehemalige Konzentrationslager Flossenbürg, etwa 100 Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt. „Die Baracken waren alle abgerissen worden, aber man konnte die Massengräber sehen, und wir erfuhren, dass die Häftlinge im Steinbruch arbeiten mussten. Es war eine wichtige persönliche Erfahrung.“ Im gleichen Jahr erreichte eine deutsche neonationalsozialistische Partei bei einer Wahl in seiner Region mehr als 20 Prozent. „Für uns Jugendliche war das ein Signal. Ich dachte, wir können doch nicht zulassen, dass die alten Nazis wiedergewählt werden! Gott sei Dank verloren die Menschen schnell das Interesse an der Partei. Aber uns wurde bewusst, dass es immer noch Leute gab, die diesen Rechtsextremisten ihre Ideen abkauften.“
Kießling studierte später Germanistik und katholische Theologie an der Universität Würzburg und wurde Gymnasiallehrer, ab 1997 auch an seinem alten Gymnasium in Forchheim. Dort stellte er fest, dass sich die Dinge geändert hatten: Jüngere Lehrer ermutigten ihre Schüler nun, sich damit zu beschäftigen, was ab 1933 in ihrer Stadt geschah. Kießling hielt es zudem für wichtig, auch auf die Zeit vor 1933 zu schauen, um das jüdische Leben während des deutschen Kaiserreichs (1871-1918) und der Weimarer Republik zu vermitteln.
Er erfuhr, dass die jüdische Geschichte der Stadt mindestens bis ins Jahr 1650 zurückreicht. Beim Durchblättern alter Zeitungen in den Archiven erkannte er Namen in den Werbeanzeigen und leitete daraus ab, welche Geschäfte in jüdischem Besitz gewesen waren, wo sie gestanden hatten und was dort verkauft worden war. In Steuerverzeichnissen aus dem 18. Jahrhundert fand er die Namen jüdischer Familienoberhäupter, die ein spezielles „Schutzgeld“ zahlen mussten, um ihre geschäftliche Tätigkeit ausüben zu dürfen. Weitere Namen fand er auf jüdischen Friedhöfen in der Umgebung.
Ab 1998 schrieb Kießling Artikel über ehemals ortsansässige jüdische Familien und ihr Leben für die Lokalzeitungen Fränkischer Tag und Nordbayerische Nachrichten. Mit seinen Schriften brachte er den Lesern die einstigen jüdischen Nachbarn nahe und erweckte ihre Geschichte zum Leben. So beschreibt ein Artikel beispielsweise den schwierigen Weg eines Mädchens, das mit 13 Waise geworden war und sich bis nach Amerika durchkämpfte. In einem anderen Artikel geht es um einen beliebten Kaufmann, der Trachtenstoffe verkaufte, in einem dritten um die jüdische Familie, die das erste Kaufhaus am Ort eröffnete.
„So fing alles an“, erklärt Kießling. „Die Menschen, darunter auch meine Familie, reagierten auf die Artikel und sagten ,Ja, da sind wir auch einkaufen gegangen‘, ,Ich kannte ihn‘ oder ,Seine Tochter ging mit mir in eine Klasse‘. Man erzählte mir von den persönlichen Kontakten zu diesen Menschen. Ich habe dabei nur positive Erfahrungen gemacht. Manche riefen sogar an, um mir ihre Geschichten zu erzählen: [Ein Mann erinnerte sich zum Beispiel, wie] er als Kind immer Fisch zu den jüdischen Familien gebracht hatte, und meinte, er könne immer noch hebräisch buchstabieren: Aleph, Beth, Gimel – und den vierten Buchstaben sprach er mit fränkischem Akzent aus: Dolet!“
Heute hat Forchheim 30.000 Einwohner – doppelt so viele wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Zu ihrer Hoch-Zeit um 1900 hatte die jüdische Gemeinde 200 Mitglieder. Kießling begann schon bald mit der Suche nach ehemaligen Forchheimer Juden. Eine jüdische Zeitung in Sydney, Australien, erwähnte seine Suche nach Ludwig Bauer, der 1939 mit seinen Eltern dorthin gezogen war. 1998 erfuhr Bauer, der heute in Las Vegas lebt, von Kießlings Anfrage in Australien und reagierte darauf. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Kießling nach dem Krieg geboren war, teilte Bauer seine Erinnerungen mit ihm: „Als Kind wurde ich gejagt und beschimpft, man warf Steine nach mir. Es wurde schließlich richtig gefährlich, mich allein in der Öffentlichkeit zu bewegen.“ Später berichteten auch andere Juden aus Forchheim ihm über ihre Jugend unter der NS-Herrschaft.
Der pädagogische Aspekt ist Kießling für seine Arbeit wichtig: „Wir müssen den jungen Menschen diese Geschichte nahebringen, ihnen den Ort zeigen, wo die Synagoge stand oder von wo die Menschen deportiert wurden. Das ist die Aufgabe des Lehrers: seinen Schülern zu zeigen, wo diese Menschen, die ermordet wurden, einst lebten und arbeiteten.“ Kießling ist überzeugt, dass solche Konfrontationen mit der grausamen Wirklichkeit – wie sein eigener Besuch in Flossenbürg als Teenager – am nachhaltigsten wirken.
Um an die jüdische Vergangenheit zu erinnern, hat er auch Ausstellungen und die Errichtung von Denkmälern initiiert. „Wir haben Fotos von der Zerstörung der Synagoge am 10. November 1938“, erzählt er. Das Gebäude wurde gesprengt, und „wenn Sie sich die Bilder vor und nach der Zerstörung anschauen, stellt sich sofort die Frage nach dem Warum. Warum wurde die Synagoge gesprengt?“ Ein anderes Foto im Stadtmuseum zeigt die Deportation von acht Juden aus Forchheim am 27. November 1941. „Man sieht einen alten Mann mit einem Bündel in der Hand – vermutlich einer Wolldecke –, der als Letzter auf den Lastwagen steigt. Und man fragt sich: ,Warum wird ein alter Mann, der sein ganzes Leben in Forchheim verbracht hat, einfach deportiert?‘“
“Wenn man sich diese Frage einmal gestellt hat, beginnt die Suche nach Antworten.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.