Obermayer German Jewish History Award

Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt

Angelika Rieber

Frankfurt, Hessen

Das ehrenamtliche Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt hat in den nahezu vier Jahrzehnten seit seinen Anfängen Tausende von Frankfurter Schülern mit ehemaligen jüdischen Bürgern der Stadt und deren Nachfahren zusammengebracht und so einen wichtigen Beitrag zum Geschichtsverständnis auf beiden Seiten geleistet. Das Projekt geht auf eine Gruppe junger Lehrerinnen und Lehrer zurück, die einen persönlicheren Ansatz bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Frankfurt suchte. Es entstand aus dieser Arbeit eine einzigartige interdisziplinäre Methode zur Vermittlung des Holocaust, die Forschung und Lehre zusammenführt sowie ein wachsendes weltweites Netzwerk jüdischer Familien, die wieder eine Verbindung zu der Stadt, aus der sie selbst oder Familienmitglieder stammten, und ihrer Geschichte geknüpft haben.

Das Projekt erforscht die Lebensgeschichten von Frankfurter Juden, organisiert und vermittelt Begegnungen mit ehemaligen Frankfurterinnen und Frankfurtern, die während der NS-Zeit aus ihrer alten Heimat fliehen mussten, unterstützt diese bei der Spurensuche nach den Wurzeln der Familien in Deutschland und veröffentlicht die Ergebnisse der Arbeit.

Bei den jungen Menschen von heute „wird über die Lebensgeschichten dieser Menschen eine Verbindung hergestellt zwischen ihren persönlichen Erfahrungen und den Erfahrungen der Menschen, denen sie begegnen“, sagt Angelika Rieber, Vorsitzende und Mitbegründerin des Projekts. Sie ist überzeugt, dass die Schüler durch die sorgfältige Vorbereitung und Organisation der Besuche von Holocaust-Überlebenden und ihren Angehörigen in Frankfurt nicht nur etwas über ihre Stadt und die Geschichte ihrer Menschen erfahren – sie lernen auch eine neue, mutige und aufgeschlossene Art der Kommunikation, mit der sie ihre eigene Identität, sowohl als Individuum als auch über die Generationen hinweg, erkunden und verstehen. „Schüler deutscher Herkunft haben oft ein Problem damit, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen persönliche Schuld zugewiesen wird. [Aber] wenn die Schüler Überlebenden begegnen, die ihnen über ihre traumatischen Erfahrungen berichten, bedeutet das, dass sie als Menschen, als Gesprächspartner, akzeptiert werden. Das ist wichtig für sie, denn wenn man das Gefühl hat, dass einem Schuldgefühle aufgedrückt werden sollen, führt das zu Abwehr, aber wenn man sich respektiert fühlt, lässt man sich eher auf den anderen und seine Sichtweise ein. Die Antwort liegt im Gespräch.“

Die 1951 nahe Frankfurt geborene Rieber stammt aus einer Familie, die unterschiedliche Facetten des Verhaltens während der NS-Zeit zeigt: Einer ihrer Großväter war in der NSDAP. Der andere Großvater war evangelischer Pfarrer, Mitglied der Bekennenden Kirche und entschiedener Gegner des NS-Regimes. Beide Elternteile waren Mitglieder der Hitlerjugend gewesen. Im Alter von 12 Jahren verfolgte Rieber den Frankfurter Auschwitz-Prozess im Fernsehen. Dabei sah sie auch erstmals Bilder von der Befreiung der Konzentrationslager, die einen tiefen Eindruck bei ihr hinterließen.

Rieber studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Frankfurter Universität und wurde Gymnasiallehrerin. Ihr besonderes Anliegen war es, ihre Schüler zur Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der Vergangenheit Deutschlands anzuregen. Rieber empfand die Schulbücher zur NS-Geschichte als unzureichend. Sie trat einer Gewerkschaftsgruppe bei, die nach Konzepten gegen den damals neu aufkeimenden Neonazismus suchte. Einige Mitglieder dieser Gruppe waren früher im Widerstand gegen das NS-Regime gewesen. „Mit ihnen begann meine intensive Beschäftigung mit diesem Thema“, sagt sie. Ab Ende der 1970er Jahre lud Rieber ehemalige Gegner des NS-Regimes ein, um mit ihren Schülern über Diskriminierung, Rassismus, Angst und Terror zu sprechen. Zu der Zeit begann sie auch gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in einer kleinen Arbeitsgruppe zur jüdischen Geschichte in Frankfurt zu recherchieren, Dokumente zu sammeln, Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte und Schulprojekte zum Thema durchzuführen.

Die Gruppe nannte sich zunächst Spuren jüdischen Lebens und gab ein Heft zum Thema Das Alltagsleben der Frankfurter Juden heraus, mit Fokus auf den antisemitischen Gesetzen während der NS-Zeit. In dem seit 1980 bestehenden Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt für vertriebene ehemalige jüdische Bürger erkannten Rieber und ihre Arbeitsgruppe eine Chance: „Wir suchten Kontakt zu den Menschen, die aus der Stadt fliehen mussten, wollten von ihnen etwas über ihr Leben in Frankfurt erfahren und darüber, was es für sie und ihre Familien bedeutete, die frühere Heimat zu verlassen. Wir spürten, dass dies etwas sehr Positives war: Es kamen Menschen, die aus der Stadt stammen, in der wir heute leben, und denen wir Fragen zur Vergangenheit stellen können“, erklärt sie. Seit dieser Zeit widmet sich der Verein Jüdisches Leben in Frankfurt der Erforschung der Lebensgeschichten der Frankfurter Juden und dem persönlichen Austausch zwischen jüdischen Überlebenden, ihren Nachfahren und Frankfurter Schülern. Anfangs führten die Mitglieder der Projektgruppe Interviews. Sie betrieben „Geschichtsforschung mit dem Ziel, das Gedenken an das jüdische Leben zu bewahren und anschauliche Unterrichtsmaterialien zu entwickeln“, sagt Rieber.

Seit 1989 organisiert die Projektgruppe auch Begegnungen zwischen den Besuchern der Stadt und Schülerinnen und Schülern.

Das Projekt arbeitet eng mit der Stadt Frankfurt zusammen und baut auf ein großes Netzwerk von Schulen, Geschichtsinitiativen und Archiven auf. Um eine sorgfältige Vorbereitung auf die Begegnungen zu ermöglichen, nimmt die Gruppe schon im Vorfeld Kontakt zu den Besuchern auf, nicht nur, um sich zu vergewissern, dass sie an Schülergesprächen interessiert sind, sondern auch, um die Schüler mit Hintergrundinformationen zu ihren Leben und Erfahrungen umfassend vorzubereiten.

Seit seinen Ursprüngen ist das Projekt enorm gewachsen. Inzwischen nehmen jedes Jahr etwa 15 Frankfurter Schulen an den Begegnungen teil. Etwa 10.000 Schülerinnen und Schüler in und um Frankfurt hatten durch Vermittlung der Projektgruppe die Möglichkeit, mit ehemaligen Frankfurterinnen und Frankfurtern und deren Nachfahren zusammenzukommen.

„Als Mitglieder der Projektgruppe haben wir alle das Gefühl, dass diese Besuche auch uns persönlich ganz viel bringen“, sagt Rieber. „Wenn wir den Menschen begegnen, fühlen wir uns als Lernende: Wir lernen etwas über die Menschen, die Frankfurt verlassen mussten, aber wir lernen auch etwas über uns selbst. Die Lehrer sind dankbar, weil sie das Gefühl haben, dass die Jugendlichen aus diesen Begegnungen ganz wichtige Erkenntnisse mitnehmen.“

Aus der Projektgruppe heraus entstanden zahlreiche Veröffentlichungen, z. B. das Buch Unsere Wurzeln sind hier in Frankfurt, ebenso wie Artikel, Filme, Broschüren und Online-Medien zu den Biographien ehemaliger Frankfurter jüdischer Herkunft. Die Website www.juedisches-leben-frankfurt.de umfasst auch pädagogische Angebote für Lehrer, um sie bei der Organisation der Begegnungen und bei Recherchen zur Lokalgeschichte in Archiven und Museen zu unterstützen. Die Projektgruppe mit ihren rund 15 Mitgliedern, die überwiegend pensioniert und ehrenamtlich tätig sind, berät die Schulen und gibt ihnen Hilfestellung für den Umgang mit dem Thema. Für Rieber besteht das Ziel „nicht nur darin, ihnen zu zeigen, wie man Schülern den Holocaust vermittelt, sondern ihnen auch etwas über sich selbst beizubringen, damit sie sich ihrer eigenen Sichtweisen und Gefühle bewusst werden. Denn wenn man sich seiner selbst nicht bewusst ist, verursacht dies unter Umständen Probleme.“

Die Stadt Frankfurt lädt inzwischen auch jüdische Nachfahren der zweiten und dritten Generation ein – manche von ihnen haben sich jahrzehntelang von Deutschland ferngehalten, andere kennen das Land nur aus Geschichten. Viele Überlebende „haben Angst, dass Deutschland sich seit der NS-Zeit nicht verändert hat. Für sie ist es sehr wichtig, junge Menschen zu treffen, die ihre Geschichte erfahren möchten“, erzählt Rieber. „Ein Besucher fragte sogar seinen Rabbi, ob er der Einladung nach Frankfurt folgen sollte, und der Rabbi antwortete: ,Ja, aber sprich mit den jungen Leuten.‘ So nehmen die Besucher nicht nur die Einladung der Stadt und die Angebote der Projektgruppe an, sondern haben auch die Möglichkeit, etwas zu geben: ihre Lebens- und Familiengeschichten. Es ist sehr wichtig für sie zu sehen, dass ihr Lebenshintergrund und das Schicksal ihrer Familienmitglieder in Deutschland bekannt sind.“

Das Projekt hat spezifische Leitlinien zur Vor- und Nachbereitung von Interviews und von Unterrichtsgesprächen entwickelt. Dazu gehören auch eine Reihe von Fragen für die Nachbereitung der Begegnungen in Schulen: Was fand ich besonders wichtig oder bemerkenswert? Was war neu oder überraschend für mich? Was hat mich irritiert oder möglicherweise geärgert? Was würde ich gerne noch fragen? Welche Fragen stellen sich mir im Nachhinein? Mit dieser Art der Selbstreflektion gelingt es den Schülern besser, die eigenen Bilder und Stereotypen zu erkennen und zu reflektieren und die Wirkung der Gespräche auf die Besucher zu betrachten.

Die Zeitzeugen werden durch intensive Korrespondenz vor dem Besuch auf die Begegnungen vorbereitet: „Wir nehmen mit den zukünftigen Besuchern so früh wie möglich vor der Begegnung Kontakt auf, damit diese wissen, wer wir sind und welche Ziele wir haben. Sie sollen die Menschen, mit denen sie sprechen, kennen, denn viele kommen mit Ängsten hierher. Und dann sind sie meist überrascht, wenn sie Menschen treffen, die sich für ihre Geschichten interessieren“, sagt Rieber.

Das Projekt findet breite Anerkennung, unter anderem durch das hessische Kultusministerium, für seine wichtige Rolle in der anschaulichen Vermittlung der Geschichte Frankfurts und den Beitrag zum Gedenken an all diejenigen, die einst hier lebten. Für die Nachfahren selbst hat sich der Verein „in den vergangenen 40 Jahren zu einem integralen Bestandteil der Bemühungen der Stadt Frankfurt um die Vermittlung eines umfassenden Geschichtsbildes vom jüdischen Leben in Frankfurt vor dem Zweiten Weltkrieg und von den einzelnen Familiengeschichten derer entwickelt, die durch das NS-Regime vertrieben wurden“, sagen Harriet Mayer und Natalie Green Giles aus New York City, deren Familien aus Frankfurt stammen. „Die Aufgabe, zukünftige Generationen durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu sensibilisieren, um sicherzustellen, dass die Geschichte sich nicht wiederholt, ist heute vielleicht wichtiger denn je.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.