Obermayer German Jewish History Award

Hans-Peter Klein 

Melsungen, Hessen

Kurz nachdem Hans-Peter Klein 1986 in die kleine nordhessische Stadt Gudensberg gezogen war, entdeckte er auf einem Spaziergang durch das Zentrum ein heruntergekommenes Gebäude: „Es war total zerfallen, mit Bäumen auf dem Dach“, erinnert er sich. „Das war die Synagoge.“

Der damals 35-jährige Klein tat sich mit neun Gleichgesinnten zusammen, um die Wiederherstellung des Gebäudes, das zuvor als Lagerraum einer Bäckerei gedient hatte, auf den Weg zu bringen und es wieder nutzbar zu machen. Viele Bewohner scheuten zunächst die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und lehnten den Plan ab. Aber Kleins „Arbeitskreis Synagoge Gudensberg“ hielt den Druck jahrelang aufrecht und überzeugte schließlich die Stadt, das Gebäude zu kaufen und zu restaurieren. Die Synagoge aus dem Jahr 1843 wurde 1995 wiedereröffnet und beherbergt heute eine Jugendmusikschule, das örtliche Rote Kreuz sowie – dank Klein – eine Dauerausstellung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Gudensberg.

„Es war sehr wichtig, nicht aufzugeben“, so Klein, ein Forscher, Autor, Historiker und Gymnasiallehrer, den die Frage, „wie es den Juden erging, die emigrierten“, stets bewegt hat. „Welche Erfahrungen haben sie im Ausland gemacht, wie erging es ihnen nach der Emigration, was wird passieren, wenn die in Deutschland geborene Generation stirbt?“ Klein selbst beantwortet die Frage, indem er sich der jüdischen Geschichte und der Bewahrung des Gedenkens an die Juden in Nordhessen widmet – der Region, wie Klein mit Verwunderung feststellt, in der sich heute die einzige jüdische Landgemeinde in Deutschland findet.

„Als wir mit unseren Recherchen anfingen, konnte sich niemand vorstellen, dass es in dieser Region einmal wieder eine jüdische Gemeinde geben würde“, erklärt Klein mit Blick auf die heute bestehende Gemeinde Emet we Schalom (Wahrheit und Frieden) mit ihren 80 größtenteils russisch-jüdischen Mitgliedern. Nach Anfängen in Gudensberg ist sie heute in und um das nahegelegene Felsberg herum ansässig.

Klein wurde 1951 im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach geboren und hat Geschichte, Politik und Germanistik in Mainz und später Marburg studiert. Zu der Zeit war die Geschichte der jüdischen Gemeinden in Nordhessen weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Erfahrungen beim Wiederaufbau der Synagoge regten Klein dazu an, sich ausgiebiger mit den Archiven der Stadt zu befassen und ältere Einwohner nach ihren Erinnerungen an ehemalige jüdische Nachbarn zu fragen.

Schon bald nahm er auch Kontakt zu den Nachfahren der Juden auf, die aus der Region emigriert waren, denn „das war für mich das Wichtigste: Verbindungen zu diesen Menschen aufzubauen, aus denen Freundschaften entstanden sind“, insbesondere auch zur jüngeren Generation, erklärt Klein. Über die Jahrzehnte hat Klein zahlreiche Artikel zur nahezu vergessenen jüdischen Geschichte in der Region geschrieben und eine Website eingerichtet: Die Seite „Juden in Nordhessen“ (www.jinh. site50.net) präsentiert unter anderem Familiengeschichten und Genealogien und zählt bis heute um die 20.000 Besucher.

Klein hat auch zur Verlegung von Stolpersteinen in mehreren Orten beigetragen, zum Beispiel in Gudensberg und seinem derzeitigen Wohnort Melsungen sowie in Städten wie Leipzig und Kassel, wo kürzlich 18 Steine gesetzt wurden. In Riede nahe Gudensberg hat Klein eine Gedenktafel zu Ehren der einstigen jüdischen Gemeinde an dem Ort initiiert, an dem einst die Synagoge stand. Über mehr als 10 Jahre war Klein einen Tag in der Woche von seiner Lehrtätigkeit an die nahegelegene Gedenkstätte Breitenau/Guxhagen abgeordnet, um Führungen für Schüler und andere Besucher durchzuführen. Die Klosteranlage aus dem 12. Jahrhundert war von den Nazis zu einem Konzentrationslager für Juden umfunktioniert worden.

Über die Jahre hat Klein sich mit unermüdlichem Interesse und enormer Energie den Kindern, Enkelkindern und anderen Nachfahren nordhessischer Juden gewidmet, die auf der Suche nach ihrer Vergangenheit in die Region kamen. Seinen sorgfältigen Recherchen von den Grabsteinen bis hin zur Archivarbeit ist es zu verdanken, dass viele Nachfahren etwas über das Leben ihrer Familien in Erfahrung bringen konnten.

So war zum Beispiel Mark Gordon aus Maplewood, New Jersey, USA, mehrfach zu Besuch in Nordhessen. Klein begleitete ihn nicht nur in die Archive, sondern auch in die Städte seiner Vorfahren und auf Friedhöfe. Er bewies dabei eine „Engelsgeduld ... und verbrachte Stunden auf einem einzelnen jüdischen Friedhof auf der Suche nach verfallenden Familien-Grabsteinen“, so Gordon. Für Dennis Aron aus Skokie, Illinois, hat Klein nicht nur ein Dutzend Briefe transkribiert, die Aron’s Großmutter an seine Mutter geschrieben hatte, bevor sie dem Krieg zum Opfer fiel, sondern erstellte zudem einen Stammbaum über 10 Generationen der Familie von Aron’s Frau. Darüber hinaus begleitete er Aron auf einer 10-tägigen Tour durch 15 Städte, zu 12 jüdischen Friedhöfen und in fünf Archive in Westdeutschland und veranlasste die Verlegung eines Stolpersteins für Aron’s Familie in Borken.

„Das Geheimnis der Versöhnung ist die Erinnerung“, so Klein, dessen hohes Engagement auch aus dem Bewusstsein entspringt, dass „es für jüdische Menschen in anderen Ländern sehr wichtig ist, zu erfahren, dass ihre Geschichte, ihr Leben in Deutschland nicht vergessen sind.“ Als Gymnasiallehrer war es Klein wichtig, „über den Klassenraum und seine Bücher hinauszugehen – viel besser ist es, den Jugendlichen die Orte zu zeigen, an denen sich die Geschichte wirklich abgespielt hat, und mit Menschen ins Gespräch zu kommen.“

Deshalb hat Klein buchstäblich Dutzende von Führungen und Seminaren für Schüler und Lehrer in Auschwitz geleitet. Dazu gehören auch Begegnungen mit jüdischen Überlebenden, und – für Klein ein wichtiger Aspekt – der Kontakt zu den polnischen Nachbarn im Osten. Kein Seminarteilnehmer hat die Teilnahme je bereut“, so Klein. „Aber viele sagen: ,Auschwitz hat mein Denken verändert‘.“

Als Mitglied des Vereins „Gegen Vergessen – für Demokratie“, sieht sich Klein als Teil eines größeren Netzwerks von Forschern, die sich dafür einsetzen, das Gedenken an die deutschen Juden wach zu erhalten. „Die Beschäftigung mit der jüdischen Vergangenheit ist eine unendliche Geschichte“, erklärt Klein. „Sie kostet viel Zeit, aber jede einzelne Recherche, die ich mache, ist interessant, [weil] ich dadurch immer wieder neue Verbindungen zwischen Menschen und Familien herstellen kann.“

Auch Kleins Familie nimmt Anteil an seiner Leidenschaft für die jüdische Geschichte. So hat seine Frau geholfen, den Kontakt zu Angehörigen nordhessischer Juden aufrecht zu erhalten, während der Älteste seiner drei Söhne ihn im Alter von 19 Jahren auf einer Reise nach Israel begleitete und später sagte, dass dies die wichtigste Reise gewesen sei, die er je gemacht habe.

Am Ende sind es die Beziehungen, die Klein immer weitermachen lassen. „Das Wichtigste und Bewegendste sind die Kontakte zu den Menschen und die Freundschaften, die daraus erwachsen“, erklärt er: „Da geht es nicht nur um die Erforschung der Vergangenheit, sondern auch um das Heute und das Morgen.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.