Obermayer German Jewish History Award

Hanno Müller 

Fernwald-Steinbach, Hessen

Oberhessen hat eine reiche jüdische Geschichte, die mehrere Jahrhunderte zurückreicht. Diese war in der Nachkriegszeit, in der Hanno Müller aufwuchs, jedoch nahezu in Vergessenheit geraten. „Ich wollte sammeln und aufschreiben, was ich über die Steinbacher Juden in Erfahrung bringen konnte. Alle im Ort sollten wissen, dass einmal Juden hier gelebt hatten“, erklärt er. Um dieses Ziel zu erreichen, stöberte er über drei Jahrzehnte hinweg unermüdlich in den Archiven – in Geburts-, Heirats- und Sterberegistern, Steuerlisten, Grundbucheinträgen, Viehhandelsprotokollen und Bürgerlisten aus dem 19. Jahrhundert. Die Erkenntnisse seiner herausragenden Bemühungen flossen in zahlreiche Artikel sowie sechs umfassende mehrbändige Familienbücher über die Juden in Oberhessen, die er teils allein, teils unter Mithilfe weiterer Autoren herausbrachte.

Der pensionierte Lehrer Hanno Müller wurde 1948 geboren. Sein Interesse an der deutsch-jüdischen Geschichte wurde im Teenageralter geweckt, nachdem ein Familiengeheimnis gelüftet worden war: Sein Großvater hatte 1940 Selbstmord begangen. Er hatte nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine langjährige Freundschaft mit der Familie Julius Katz fortgeführt, obwohl private Beziehungen zwischen Ariern und Juden strikt verboten waren. Müller fragte sich, ob sein Großvater aufgrund des Kontakts zur jüdischen Familie in Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern geraten war. In seinen Recherchen fand Müller allerdings keine Hinweise darauf, und er kam zu dem Schluss, dass vermutlich Depressionen der Auslöser für den Selbstmord gewesen waren. Dennoch weckte dieser Exkurs in die Vergangenheit seines Großvaters das Interesse an der Vorkriegsgeschichte der Juden in seiner Gemeinde und mündete schließlich in ein lebenslanges Engagement für die Bewahrung des jüdischen Erbes.

Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf dem Schicksal der ehemaligen jüdischen Nachbarn während der NS-Zeit. Müller wollte, dass sie in den Geschichtsbüchern angemessen gewürdigt wurden und die Bevölkerung Verantwortung übernahm. Direkt nach dem Krieg sprach kaum jemand darüber. Später „nannten die Leute, mit denen ich sprach, schon Namen und erzählten mir, wer Mitglied der SA gewesen war und wer an der Zerstörung der Grabsteine auf unserem kleinen Judenfriedhof teilgenommen hatte“, erklärt er.

Müller wurde Lehrer, heiratete und lehrte später Chemie, Physik und Geographie an der Brüder-Grimm-Schule in Kleinlinden. In seiner Freizeit betätigte er sich als Lokalhistoriker, wobei er sich auf die jüdische Lokalgeschichte konzentrierte. Er suchte ältere Mitbürger auf, die noch persönlich Juden gekannt hatten und ihm die Namen nennen und Geschichten über sie erzählen konnten. Als er alte Schulfotos entdeckte, spürte er ehemalige Schüler auf, um die jüdischen Kinder darauf zu identifizieren. Nun hatte er Namen zu den Gesichtern auf den Fotos.

Jedes Stückchen Information, das er fand, war für Müller ein Anlass, noch tiefer in die Materie einzudringen. Er recherchierte in lokalen Archiven, immer auf der Suche nach Hinweisen zu ehemaligen jüdischen Bürgern. In einer evangelischen Kirchenchronik von 1858 fand Müller den Eintrag eines Pfarrers, der die Juden als fehlgeleitetes Volk beschrieb, die nicht der wahren Lehre folgten. Auch wenn einige Pfarrer den Juden freundlich gesonnen waren, kam in der Chronik doch zumeist blanker Hass zum Ausdruck. „Der Antisemitismus war keine Erfindung Adolf Hitlers“, schloss Müller daraus. „Der Boden für den Antisemitismus war im 19. Jahrhundert durch manche Pfarrer vorbereitet worden.“

Sein erstes großes Projekt war die Rückverfolgung und Dokumentation jüdischer Familien in Steinbach bis ins Jahr 1700. Dabei gaben ihm Steuerlisten zum Beispiel ein Gefühl für ihre wirtschaftliche Situation. 1861 gab es bei einer Gesamtbevölkerung von 983 Einwohnern in Steinbach 93 Juden. Einige von ihnen waren arm und lebten auf dem Land; andere waren wohlhabender und besaßen Immobilien im Ort. Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Juden abzuwandern, da der Ort ihnen keine ausreichenden Zukunftsperspektiven mehr bot. 1910 lebten nur noch 28 Juden im Ort. 1938, fünf Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, gab es schließlich nur noch eine einzige Jüdin in Steinbach, die mit einem Christen verheiratet war. Zeitzeugen berichteten Müller, wie die Nazis diese Frau und ihre Familie drangsalierten: Abends stellte sich ein SA-Mann gegenüber von ihrem Haus auf, um zu beobachten, wer ins Haus ging. Einige Nazis stahlen die Hasen der Familie, um sie zu schlachten und zu verspeisen. Andere gruben den Garten der Familie um, angeblich auf der Suche nach Waffen. Die Familienmitglieder wurden zwar nicht geschlagen, und die Fensterscheiben blieben heil, aber sie waren isoliert und hatten Angst.

Hanno Müller brachte das, was er durch Interviews und Archivrecherchen erfuhr, auch in seinen Unterricht ein. Er war an der Schule bis 2002 tätig, als er aufgrund einer schweren Erkrankung in Pension gehen musste. Seine Arbeit zur jüdischen Geschichte hat Müller seitdem fortgesetzt. Zu seinen Publikationen gehören die folgenden Werke:

  • Familienbuch Butzbach, Band V – Judenfamilien in Butzbach und in seinen Stadtteilen (269 Seiten). Ausführliche Informationen zu den jüdischen Familien aus Butzbach.

  • Juden in Steinbach. Ausführliche Informationen über Steinbacher Juden von 1706-1945, 2010 in zweiter Ausgabe erschienen.

  • Judenfamilien in Hungen und in Inheiden, Utphe, Villingen, Obbornhofen, Bellersheim und Wohnbach (412 Seiten). Dieses Buch informiert im Detail über die jüdischen Familien, die sich in Hungen und den anderen Orten niederließen. Es enthält auch eine Übersetzung von Grabsteininschriften.

  • Juden in Lang-Göns: Eine Dokumentation gegen das Vergessen (140 Seiten). Dieses Buch ist in drei Abschnitte unterteilt: (1) Geschichte der jüdischen Gemeinde Lang-Göns, (2) Beschreibung der einzelnen Familien und (3) Übersetzung der Grabsteininschriften.

  • Juden in Lich, Birklar, Langsdorf, Muschenheim und Ettingshausen; Teil 1: Familien; Teil II: Grabsteine, Anhang, Register. Diese illustrierte 720 Seiten umfassende Buchreihe enthält Beschreibungen zu den einzelnen jüdischen Gemeinden, ausführliche Portraits aller Familien sowie Fotos von Grabsteinen auf den jüdischen Friedhöfen mit deutschen Übersetzungen der hebräischen Inschriften.

  • Juden in Gießen 1788-1942 (851 Seiten). Dieses illustrierte Buch enthält Informationen zu mehr als 5.000 Einzelpersonen und Familien.

Die Schriften von Hanno Müller haben eine reiche Geschichte vor dem Vergessen gerettet und es einer neuen Generation von Juden mit Wurzeln in Oberhessen ermöglicht, eine Verbindung zu ihrer eigenen Vergangenheit herzustellen. Am Anfang „war ich allein mit meiner Arbeit, fand aber in meiner Gemeinde noch Zeitzeugen, die mir ihre Erinnerungen mitteilten“, erinnert sich Müller. Heute bekommt er von allen Seiten Unterstützung – sei es, um die hebräischen Grabsteininschriften zu entziffern oder wenn es um den Zugang zu Dokumenten im Standesamt geht. Ein unerwartetes Geschenk ist für Müller der Kontakt zu Überlebenden und ihren Familien im Ausland. So schloss sich der Kreis seiner Forschungen, als er Nomi Brautman aus Israel traf. Die Mutter und Schwester ihres Vaters  waren während des Holocaust ermordet worden, aber Müller konnte Nomi Brautman ausführliche Informationen zu ihrer Familie in Hessen geben und besuchte mit ihr sechs jüdische Friedhöfe in Hessen, wo ihre Vorfahren begraben wurden.

 
 

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Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

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