Obermayer German Jewish History Award
„Wenn ich Menschen treffe und kennen lerne, verliere ich meine Angst.“
Gabriele Hannah, Martina und Hans-Dieter Graf
Die drei Autoren wecken mit der Macht der Erzählung Verständnis für Geschichte und das Leid anderer Menschen.
Gabriele Hannah glaubt an die Kraft einer gut erzählten Geschichte. Die Art von Geschichte, bei der man die Menschen, um die es geht, wirklich kennen lernt und ihre Freuden, ihre Kämpfe und ihre Motivation versteht.
Hannah hat es sich gemeinsam mit ihrem Bruder Hans-Dieter Graf und seiner Frau Martina Graf zur Aufgabe gemacht, diese Art von Geschichte zu erzählen. Gemeinsam haben sie drei Bücher geschrieben, weitere herausgegeben und Dutzende von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, die alle das Leben der Juden in der Region Rheinhessen auf interessante und tiefgründige Weise zum Gegenstand haben.
Hannah nennt zwei wichtige Gründe, diese Geschichten zu erzählen, die gleichzeitig wohl auch der Grund sind, warum die Geschichten beim Lesepublikum so gut ankommen: Der eine ist die Erinnerung an die Vergangenheit – und zwar nicht nur an die Geschehnisse der NS-Zeit, sondern auch die Jahrhunderte lebendiger jüdischer Kultur davor.
Der zweite ist die Nutzung der Macht des Erzählens, um Intoleranz und Angst in der heutigen Zeit zu begegnen. Personen der Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, schafft Verständnis für die Menschen und ihre Kultur. „Angst habe ich vor dem, was ich nicht kenne. Wenn ich Menschen treffe und kennen lerne, verliere ich meine Angst“, sagt Hannah. „Man hat vielleicht ein Bild von einem Menschen – aber wenn man ihn durch seine Geschichten kennen lernt und erfährt, wie er gelebt hat, verliert man diese Angst; man öffnet sich. Und es schreckt einen nicht mehr, wenn jemand anders ist ... man entwickelt keinen Hass.“
Die erste Geschichte, die das Trio zum Schreiben anregte, war die von Abraham David, der 1862 im Alter von 17 Jahren in die USA auswanderte. Er stammte aus Hannahs Heimatort Gimbsheim in der Region Rheinhessen und geriet direkt in den amerikanischen Bürgerkrieg. Die Verwandten, bei denen er eigentlich unterkommen wollte, lebten im Süden, jenseits der Kampflinie. Hannah und die Grafs entdeckten, dass es im Zentrum von Wilmington in North Carolina noch heute ein Haus mit dem Namen David gibt. Nach dem Krieg ließ er sich tatsächlich im Süden nieder und eröffnete ein Herrenbekleidungsgeschäft. Als renommierter Händler brachte er unter anderem Levi Strauss Jeans in die Region.
Die drei fanden sein Leben so faszinierend, dass sie sich entschlossen, ein Buch über ihn zu schreiben: Vom Rhein an den Cape Fear River erschien 2013. Diese Biografie markiert aber nur den Anfang der umfassenden Arbeit der Familie Graf/Hannah zum jüdischen Vermächtnis in Rheinhessen.
„Mit Abraham David begaben wir uns in die jüdische Vergangenheit, und die Türen öffneten sich weit“, erzählt Hannah. „Wir sagten uns: ,Moment mal, da muss es noch viel mehr geben.‘ So machten wir uns an die Erforschung der jüdischen Familien und waren einfach überwältigt von dem, was wir fanden.“
Die Gruppe besuchte Archive in Deutschland und Belgien und recherchierte akribisch im Leo Baeck Institute in New York und dem William Breman Jewish Heritage Museum in Atlanta, Georgia, USA. Auf Basis von Primärdokumenten, Fotografien, Recherchen in genealogischen Datenbanken und einem von ihnen initiierten ausführlichen Briefwechsel mit jüdischen Nachfahren trugen sie einen riesigen Informationsschatz zum Leben von rund 1.700 Einzelpersonen aus 600 jüdischen Familien zusammen, die einst in der Region gelebt hatten. „Auch wenn ein Name nur einmal in unserer dokumentierten Geschichte auftauchte, so mussten wir herausfinden, wer dahinter stand“, erinnert sich Hannah.
Nach siebenjähriger Arbeit erschien im Mai 2018 schließlich ein 556 Seiten starkes Werk, Die Juden Vom Altrhein, das die jüdische Geschichte und die Geschichten der jüdischen Familien der Region erschöpfend darstellt. Die Nachfahren leben heute unter anderem in Schweden, der Schweiz, Großbritannien, Israel, Brasilien und den USA. Die Grafs und Hannah haben sowohl jüdische als auch deutsche Familien interviewt und stützen sich auf Berichte von einigen der letzten noch lebenden Zeitzeugen der Kriegszeit.
„Wenn wir an jüdische Geschichte in Deutschland denken“, sagt Hannah, „denkt man als Erstes an diese 12 Jahre [der NS-Zeit], und wir vergessen die fast 1.000 Jahre davor und auch die Zeit danach. Wir schulden den Toten die Wahrheit, und wir schulden ihnen unser Gedenken. Aber unser Buch ist den lebenden Nachfahren auf beiden Seiten gewidmet. Wir wollten zeigen, dass sich das Leben auch für sie verändert hat und dass es den Nazis nicht gelungen ist, die jüdischen Familien vom Altrhein auszulöschen.“
Neben der schieren Größe und dem riesigen Umfang – das Buch wiegt 2,5 Kilogramm – ist es vor allem die großartige Erzählkunst, die das Werk einzigartig macht. Hannah und die Grafs wollen durch das Schreiben die Vergangenheit erklären. Dafür bringen sie vielfältige Fähigkeiten und Erfahrungen in ihre Arbeit ein: Gabriele Hannah hat Masterabschlüsse in Germanistik und Amerikanistik gemacht und in Amerika, London und Moskau gelebt; Hans-Dieter Graf hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz und im PR-Bereich gearbeitet; und Martina Graf war als Autorin für die Brockhaus-Enzyklopädie und das Enzyklopädie-Jahrbuch tätig.
Neben Die Juden vom Altrhein hat die Gruppe zahlreiche Artikel in der Regionalpresse sowie auf ihrer Website, www.erichgraf.de, veröffentlicht. Sie haben Nachfahren durch die Orte Gimbsheim, Hamm, Eich und Worms und zu den Familiengräbern auf den jüdischen Friedhöfen von Mainz, Alsheim und Osthofen geführt. Zu ihren Publikationen gehört auch ein Kinderbuch, Moppi und Peter, das die wahre Geschichte zweier Hunde und ihrer jüdischen Eigentümer während der NS-Zeit erzählt und so ein kraftvolles Gleichnis für ein junges Publikum schafft. „Die jungen Leser können sich mit dem Schicksal von Moppi und Peter identifizieren. Sie fühlen mit ihnen mit, und dann stellen sie die richtigen Fragen. So kann man ihnen dieses so schwierige Thema vermitteln“, sagt Hannah.
In ihrer Arbeit finden sie Unterstützung bei der evangelischen als auch der katholischen Kirche in der Region sowie aus Politik und Verwaltung. Aber die Gruppe hat durchaus auch Widerstand erfahren. „Es gibt immer Menschen, die das Thema ablehnen, die versuchen, uns zu behindern und uns Steine in den Weg zu legen, um uns zu entmutigen“, sagt Hannah, „aber wir nutzen diese Steine dann einfach als Trittsteine, um auf die nächste Ebene zu gelangen.“
„Gabriele Hannah, Hans-Dieter Graf und Martina Graf stehen nicht nur für den Geist der Versöhnung und Freundschaft, sondern widmen sich auch ganz praktisch der Umsetzung dieser Ideale. Sie haben die Erinnerungen der Opfer des Holocaust bewahrt und den Nachfahren eine große Ehre erwiesen“, sagt Joe Schwarz aus Ramat HaSharon, Israel, dessen persönliche Erfahrung mit der Gruppe ihn zu seinem eigenen Buch anregte: Stepping Forward Into the Past (Ein Schritt vorwärts in die Vergangenheit) wurde später von Martina Graf aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Es ist die Hoffnung von Hannah und den Grafs, mit ihrem Buch so viel Aufmerksamkeit für die jüdische Geschichte zu wecken, dass es gelingt, gemeinsam mit den Menschen vor Ort und den Nachfahren jüdischer Familien vom Altrhein eine der wenigen noch existierenden Landsynagogen zu erhalten: die 1891 erbaute Synagoge von Eich, die derzeit immer weiter verfällt. Das Gebäude, das 1936 verkauft und später als Stall und Lager genutzt wurde, ist ein Kulturdenkmal und zeigt noch die klassischen Zeichen einer Synagoge, mit ihren zwei Gebotstafeln auf der Giebelspitze. Aber es wurde nichts für die Wiederherstellung getan, und Hannah befürchtet, dass „es nur eine Frage der Zeit ist, bis alles verfällt und verloren ist.“ Wie das Schicksal der Synagoge ist auch die Bewahrung der Erinnerung in Rheinhessen ein Wettlauf mit der Zeit.
„Es ist unsere Pflicht und es liegt an uns, ihre Geschichten zu erzählen, um sie der jüngeren Generation zurückzugeben, damit auch sie Geschichten erzählen können, so dass das Geschehene nicht in Vergessenheit gerät“, sagt Hannah. „Es war uns sehr wichtig, die Geschichte der Juden vom Altrhein zu bewahren. Das Vertrauen [der Nachfahren] hat uns sehr berührt und uns gezeigt, dass durch persönliche Begegnungen Erinnerungsarbeit tatsächlich möglich wird, die befreit und die Last der Vergangenheit erleichtert. Und wenn das geschieht, gibt es Hoffnung auf Versöhnung.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.