Obermayer German Jewish History Award

Frowald Gil Hüttenmeister 

Stuttgart, Baden-Wüttemberg

Frowald Gil Hüttenmeister lernte während seiner Gymnasialzeit zunächst Griechisch und Latein. Später wählte er nicht nur Französisch hinzu, sondern entschied sich auch für Hebräisch. Eine Gelegenheit, diese Sprachkenntnisse in der Praxis anzuwenden, ergab sich bei einem jüdischen Sommercamp nahe Frankfurt, bei dem er als Jugendleiter auch auf Israelis traf. Aber erst 1958, als sein Hebräisch-Lehrer ihn zu einem Familienbesuch nach Israel einlud, wurde Hüttenmeisters Leidenschaft für das Thema geweckt, das seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollte.

Anstelle der geplanten zwei Wochen „verbrachte ich nahezu zwei Monate in Israel, weil ich von dem Land und den Menschen überwältigt war“, erinnert sich Hüttenmeister. Zu der Zeit gab es in Deutschland kaum Möglichkeiten zum Studium des Judentums und jüdischer Geschichte, sodass Hüttenmeister 1960 im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD nach Jerusalem zurückkehrte. Hüttenmeister promovierte später an der Universität Saarbrücken im Bereich Judaistik. In den mehr als vier Jahrzehnten, die seitdem vergangen sind, hat der heute 75-Jährige Synagogen gerettet, zahlreiche Bücher und Artikel geschrieben und Beiträge zum Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland geleistet. Er gilt heute als ein führender Experte für jüdische Friedhöfe von der Ukraine über Böhmen bis hin zum Elsass.

Hüttenmeisters akademisches Werk stand neben seiner unermüdlichen ehrenamtlichen Recherchetätigkeit stets für sich. Dennoch gelang es ihm, als Dozent für Judaistik an Universitäten von Tübingen und Duisburg bis hin nach Paris und Haifa über vier Jahrzehnte seine berufliche Laufbahn so nahtlos mit seinem leidenschaftlichen gesellschaftlichen Engagement zu verbinden, wie dies in der akademischen Welt selten zu finden ist. Mit Blick auf seine berufliche Tätigkeit ist vielleicht das im Laufe von 14 Jahren entstandene Werk Die antiken Synagogen, Lehrhäuser und Sitze des Sanhedrin in Israel als krönende Leistung anzusehen. Hierfür sammelte er umfangreiches archäologisches Material und studierte zahllose rabbinische Schriften. Die Arbeit erschien als 750 Seiten starkes Beibuch zum TAVO (Tübinger Atlas des Vorderen Orients), der rund 300 Karten aus 12 Fachgebieten aus Geschichte und Geologie, Fauna und Flora der Region umfasst.

Mit seinen fundierten Recherchen hat Hüttenmeister nicht nur zahlreichen Nachfahren deutscher und europäischer Juden geholfen, ihre Familiengeschichte zu entdecken – seine unermüdliche Arbeit zur Dokumentation und Analyse von Grabinschriften hat auch einen Beitrag zum weltweiten Verständnis des Judentums selbst geleistet. So hat er um die 2.750 Datensätze zu vier Friedhöfen gesammelt und dem JewishGen-Online-Register weltweiter Bestattungen (JOWBR) gestiftet. In Baden-Württemberg war Hüttenmeister an der Rettung von sechs Synagogen beteiligt, darunter die Synagoge in Hechingen, die der Bürgermeister bereits abreißen lassen wollte. Hüttenmeister gelang es 1979 durch eine Spendenaktion, die Finanzierung von Kauf und Restaurierung zu sichern.

Seine Stammbaumforschung hat Hüttenmeister so weit perfektioniert, dass er selbstbewusst sagen kann: „Wenn es um den Südwesten Deutschlands geht, kann ich in der Regel helfen.“

Vor etwa 40 Jahren begann Hüttenmeister auch mit der Entzifferung von Grabinschriften und der Wiederherstellung von Friedhöfen in ganz Europa, von der Ukraine, Polen und Deutschland über die damalige Tschechoslowakei bis hin zum Elsass. Wenn er mit seinen Schülern jüdische Friedhöfe besucht, lässt er sie besondere Symbole auf den Grabsteinen suchen, über die sie dann in der Gruppe sprechen. Derzeit schreibt Hüttenmeister ein Buch (gepl. Erscheinungsdatum 2014) über seine Arbeit zur Wiederherstellung und Dokumentation von mehr als einem Dutzend jüdischer Friedhöfe an der deutsch-tschechischen Grenze. „Es ist sehr wichtig, die Verbindung zwischen unseren beiden Ländern herzustellen, denn es geht um unsere gemeinsame Geschichte“, erklärt Hüttenmeister.

Anfang der 1990er Jahre dokumentierte Hüttenmeister im Auftrag des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg die jüdischen Friedhöfe der Region. Von besonderer Bedeutung waren für ihn – über seine akademische Tätigkeit und die ehrenamtliche Dokumentationsarbeit hinaus – die daraus entstandenen Beziehungen zu heute lebenden Juden. „Ich hatte den Ehrgeiz, die hebräischen Grabinschriften zu entziffern“, erinnert er sich. „Durch diese Arbeit habe ich so viele Menschen getroffen, denen ich helfen konnte und die heute meine Freunde sind. Das hat mich immer wieder motiviert, die Arbeit fortzusetzen.“

„Seine akribische Forschung und Dokumentation jüdischer Friedhöfe wurde von zahllosen deutschen Juden genutzt“, erzählt Autorin Emily Rose aus Naples, Florida, USA. Der Straßburger Universitätsprofessors Freddy Raphael drückt es so aus: „Mit seiner Fähigkeit, die manchmal schwer zu verstehende Sprache auf alten Gräbern zu lesen, erweckt Hüttenmeister längst in Vergessenheit geratene Menschen wieder zum Leben.“ Und Haim Weinstein aus Israel sagt: „Es war Gils von Herzen kommende, freundliche Kompetenz und Hilfsbereitschaft, dank derer ich die verlorene Erinnerung an die letzten Tage meiner Familie im Holocaust wiederfand.“

Hüttenmeister hat ehrenamtlich Schriften, Briefe und Archivunterlagen aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt und so zur Erweiterung des Wissens über das deutsche Judentum in Israel beigetragen. Darüber hinaus hat er zerrissene Gebetsbücher und Überreste von Zeremonialgegenständen für Ausstellungen gesammelt und katalogisiert, die in speziellen Lagerräumen – so genannten Genisot – unter den Dächern jüdischer Synagogen gefunden wurden.

Von seinen drei Kindern arbeitet eine Tochter am Institut für deutsch-jüdische Geschichte der Universität Essen. Sie hat auch einige Jahre in Israel gelebt. Hüttenmeister empfindet es als ermutigend, dass sich heute so viele junge Deutsche für die Pflege und Wiederherstellung jüdischer Friedhöfe engagieren, während sie in der Schule etwas über die jüdische Vergangenheit lernen. „Ich glaube, es gibt in Deutschland mehr Bücher über jüdische Ortsgeschichte als in irgendeinem anderen Land der Welt, eben, weil sie Teil unserer Geschichte ist“, erklärt Hüttenmeister, der sich aus seiner Schulzeit Ende der 1940er Jahre erinnert, dass der Geschichtsunterricht nur bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs reichte.

Und dennoch sieht Hüttenmeister auch die Gefahr eines wachsenden Trends zur Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, was seine Arbeit zur Vermittlung der jüdischen Geschichte umso wichtiger macht. „Ich versuche, [den Schülern] zu zeigen, wo und wie sie lernen können, wie sie Menschen finden und mit ihnen ins Gespräch kommen können – und dass man nicht alles glauben sollte, was einem andere erzählen“, so Hüttenmeister.

Hüttenmeister ist zwar seit 2008 pensioniert, aber immer noch so aktiv wie eh und je. So reiste er im Herbst 2013 zwei Wochen durch Polen, die Tschechische Republik und die ehemalige DDR, um Vorträge zu halten und jüdische Friedhöfe zu dokumentieren. Mit Blick auf die Zukunft sieht er keinen Grund, kürzer zu treten: „Mein Kopf funktioniert noch, meine Beine auch. Ich hoffe, diese Arbeit noch über viele Jahre fortsetzen zu können. Sie ist im Grunde unendlich, und ich werde sie in meinem Leben nicht zum Abschluss bringen können.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.