Obermayer German Jewish History Award

Fritz Kilthau 

Zwingenberg, Hessen

Fritz Kilthau wuchs in der Gemeinde Wald-Michelbach im Odenwald auf – ein Ort, an dem die Spuren der letzten Kriegstage damals noch an vielen Häuserwänden sichtbar waren. Als in den 1950er Jahren in einer Welle des Vandalismus zahlreiche jüdische Friedhöfe geschändet wurden, ging Kilthau – Jahrgang 1945 – noch zur Schule. In der Folge „zeigte unser Lehrer uns Filme über die Grausamkeit der Nazis“, erinnert sich Kilthau, der sich damals zu fragen begann, was mit den Juden in seiner Region geschehen war.

Inzwischen ist über ein halbes Jahrhundert vergangen, und Kilthau hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die lokale jüdische Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. In dieser Zeit hat er auch enge Beziehungen zu Juden aufgebaut, die Wurzeln in seiner Region haben. Seit 1978 verbringt Kilthau seine Freizeit in Archiven, vor allem in Zwingenberg und Bensheim in Hessen, wo er heute lebt. Die Arbeit ist seine persönliche Antwort auf den Rechtsextremismus, der in seinen Augen leider an vielen Orten weiter blüht. „Es gibt immer noch einige rechtextreme Organisationen, auch in unserer Region“, erklärt er. „Es ist sehr wichtig, die jungen Menschen im Detail über den Nationalsozialismus zu informieren, damit sie sehen, wohin diese Ideen geführt haben ... Wir müssen den jungen Leuten ein menschliches Weltbild vermitteln.“

Kilthau engagiert sich auf vielfältige Weise: Recherchen zum Leben ehemaliger jüdischer Bürger in der Weinbauregion Bergstraße und Veröffentlichung der Ergebnisse; Organisation öffentlicher Veranstaltungen und Führungen zu lokalen Orten jüdischer Geschichte wie dem jüdischen Friedhof in Alsbach, der Zwingenberger Synagoge und dem Konzentrationslager Osthofen; Beantwortung von Anfragen der Nachfahren ehemaliger jüdischer Bürger; Organisation einer jährlichen Holocaust-Gedenkveranstaltung und – für ihn besonders wichtig – Vermittlung dieser Themen in der jungen Generation.

Alles begann mit seinem Interesse an der Lokalgeschichte. Er las alte Zeitungen und besuchte das Bensheimer Archiv, wo er auf Gleichgesinnte traf. Zunächst gestaltete sich die Einsichtnahme in die geschichtlichen Dokumente im örtlichen Archiv etwas schwierig. „Aber dann fand ich ein kleines Buch, das ein evangelischer Pastor über die Bensheimer Juden geschrieben hatte. Und auf der allerletzten Seite wurde ein Massaker beschrieben, das die Nationalsozialisten in Bensheim drei Tage vor der Befreiung am 24. März 1945 verübten.“ Bei den Ermordeten handelte es sich überwiegend um Juden und Wehrmachtsdeserteure, die im örtlichen Gefängnis festgehalten worden waren. Gemeinsam mit seinem Freund beschloss Kilthau, mehr über die Opfer in Erfahrung zu bringen, „um den Menschen wieder ein Gesicht zu geben.“

Es folgten weitere Projekte, aus denen zum Beispiel Broschüren zur Lokalgeschichte während der NS-Zeit hervorgingen. Als Mitbegründer und Beisitzer des Bensheimer Vereins Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger e.V. und Vorsitzender des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge hält er Vorträge und bietet Führungen zur Lokalgeschichte an. Er geht auch in die Schulen und erzählt dort über die Reichskristallnacht und die Juden von Zwingenberg.

Sein 256 Seiten umfassendes Werk Mitten unter uns – Zwingenberg an der Bergstraße von 1933 bis 1945 erschien im Jahr 2000 im Rahmen der Geschichtsblätter für den Kreis Bergstraße und hat zu zahlreichen weiteren Projekten geführt: eine Broschüre zu einem Stadtgang auf den Spuren der NS-Zeit in Zwingenberg; zwei Theaterstücke, die gemeinsam mit Heribert Pauly entstanden und von Schülern des Schuldorfes Bergstraße aufgeführt wurden; und eine erfolgreiche Initiative zur Ergänzung einer Gedenktafel um die Namen der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Kilthau hofft, dass die Menschen in Zwingenberg sich zu fragen beginnen: „Wer waren diese Menschen? Wo haben sie gelebt? Warum und wie sind sie gestorben?“

Im Jahr 2009 begann er mit einer Biographie der Familie Bauer, die bis zur NS-Zeit in Bensheim gelebt hatte. Er fand Nachfahren in den USA, aber längst nicht alle freuten sich über die Kontaktaufnahme. Warum wollte ein Deutscher etwas über ihre Familiengeschichte wissen? Joanne Epstein gehörte zu den Personen, an die er sich wandte. Bis Kilthau sich meldete, kannte sie von ihren Großeltern mütterlicherseits kaum mehr als die Namen, Julius und Hedwig Bauer. Julius wurde nach dem November-Pogrom 1938 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet, und Hedwig beging kurz darauf Selbstmord. Epsteins inzwischen verstorbene Mutter sprach kaum über ihre eigenen Eltern. „Es war wohl zu schmerzvoll“, meint Epstein, die heute in Houston, Texas, lebt. Dank Fritz Kilthau „weiß ich jetzt ziemlich viel darüber, wie sie gelebt haben. Es ist so unglaublich, dass ein völlig Fremder ein Interesse daran hatte, über meine Großeltern zu schreiben!“

Im Mai 2011 wurden vor dem Haus, in dem die Bauers zuletzt in Freiheit gelebt hatten, Stolpersteine verlegt, mit Namen, Geburtstagen und Angaben zu den Umständen, unter denen die Familienmitglieder zu Tode kamen. Laut Epstein hat Kilthau die Stolpersteine selbst bezahlt. „In all der Zeit, die ich Fritz kenne, hat er nie Geld für seine Arbeit genommen“, schreibt sie. Und was er vollbracht hat, ist unschätzbar wertvoll. „Wir alle, die wir unsere Wurzeln in dieser Region haben, stehen in seiner Schuld“, schreibt Joan Gluckauf Haar aus Riverdale, New York, die Kilthau ebenfalls für die Obermayer Awards vorgeschlagen hat. Mit seiner ersten Anfrage stieß Kilthau bei ihrer Familie allerdings zunächst auf Ablehnung. „Meine Mutter sagte nur, ich sollte den Brief sofort wegwerfen. Aber das habe ich natürlich nicht gemacht“, erklärt Gluckauf Haar.

„Die Menschen sollten wissen, dass es [hier] eine sehr lebendige jüdische Gemeinde gab“, so Kilthau. „Sie war nicht sehr groß – etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Aber sie leisteten einen enormen Beitrag zur Gemeinschaft. Wenn verschiedene Kulturen an einem Ort zusammenleben, profitieren wir alle davon.“

Epstein gesteht, dass sie Kilthaus Motivation für seine Arbeit zunächst nicht verstand. „Aber die selbstlose Hingabe, mit der er sich diesem Projekt widmet, war für mich äußerst inspirierend. Er hat Julius und Hedwig Bauer für mich, für meine Familie und für die ganze Welt wieder zum Leben erweckt.“

 
 

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Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

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