Obermayer German Jewish History Award

Elmar Ittenbach

Thalfang, Rheinland-Pfalz

Als Religionslehrer an einer Thalfanger Schule (heutige Erbeskopf-Realschule plus), die von Schülern aus 20 Dörfern im rheinland-pfälzischen Hunsrück besucht wird, arbeitete Elmar Ittenbach oft mit der Bibel: „Sowohl mit dem Neuen Testament als auch der Hebräischen Bibel. Und wenn das Thema Judentum aufkam, sprach ich über die Situation in Thalfang, wo vor dem Krieg viele Juden gelebt hatten. Wir gingen dann auch zu den Häusern, die damals jüdischen Familien gehört hatten“, erklärt er. „Ich war wirklich sehr interessiert an der Geschichte der Region und insbesondere der jüdischen Geschichte.“

Im 19. Jahrhundert war ein Fünftel der Bevölkerung jüdisch. Damit war Thalfang damals die Gemeinde mit dem größten jüdischen Anteil im Hunsrück – und je mehr Ittenbach über das jüdische Vermächtnis in diesem „besonderen Ort“ erfuhr, desto mehr wuchs sein Interesse. 2009 gründete er den kleinen Arbeitskreis Jüdisches Leben in Thalfang mit dem Ziel, Spenden zu sammeln für die Verlegung von Stolpersteinen zur Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Mitbürger. Während Ittenbach zu Beginn eher kleinere Beiträge zu der Gruppe plante, trieb ihn seine Leidenschaft schließlich dazu, die jüdische Geschichte von Thalfang umfassend zu rekonstruieren.

„Ich sagte zunächst einen 10-seitigen Artikel für das Kreisjahrbuch zu. Dann dachte man, es wäre besser, eine 50-seitige Broschüre zu produzieren“, erklärt er, „und schließlich wurde es ein 230 Seiten starkes Buch. Ich versuchte, möglichst viele Bilder und Geschichten über die Opfer der Shoah zu finden, damit ich sie als Menschen darstellen konnte. Während unserer Reise nach Israel konnte ich in Yad Vashem 12 Gedenkblätter für Personen übergeben, von denen man bis dahin gar nichts wusste.“

Das Ergebnis war das Buch Jüdisches Leben in Thalfang, in dem 250 Jahre Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Thalfang bis hin zur Zerstörung durch den Holocaust dokumentiert sind. Das Werk wurde 2011 von dem der Universität Trier angegliederten Emil-Frank-Institut herausgegeben und erzählt faszinierende Geschichten von ehemaligen Thalfanger Bürgern – von Menschen wie Simon Scheuer, der in der Napoleonischen Armee diente, oder dem Maler Max Lazarus.

Aber das war längst noch nicht alles. Als Nächstes widmete Ittenbach sich Recherchen zum Leben des Rabbi Samuel Hirsch. 1815 in Thalfang geboren, besuchte dieser später die Jeschiwa in Mainz und wurde ein angesehener Talmud-Gelehrter, der eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Reformjudentums in den USA und Europa spielte. „Ich interessierte mich sehr für ihn, seine Philosophie, sein Leben ... und je mehr ich über Hirsch herausfand, desto klarer wurde mir, dass er ein außergewöhnlicher Mensch mit einer starken Botschaft der Toleranz für Christen und Juden war“, so Ittenbach. „Hirschs Vision vom Judentum ist eine Vision, die für alle Religionen gültig ist, eine Vision geboren aus den Ideen von Freiheit, Humanität, Toleranz und Liebe.“

Im vergangenen Jahr kam das zweite Buch von Ittenbach heraus: Samuel Hirsch: Rabbiner, Religionsphilosoph, Reformer, das auf Deutsch und Englisch erschien. Er schlug vor, die örtliche Grundschule in „Samuel-Hirsch-Grundschule“ umzubenennen, was jedoch von den Behörden abgelehnt wurde. Erfolgreich war Ittenbach jedoch mit einer Initiative zur Umbenennung eines Platzes in Thalfang in Samuel-Hirsch-Platz. Im kommenden Jahr wird dort ein Gedenk-Obelisk aus Edelstahl errichtet, den er selbst entworfen hat.

Ittenbach wurde im nahegelegenen Trier geboren, der Stadt am Rhein, die einst die aktivste jüdische Gemeinde in Deutschland hatte (der berühmteste Jude aus Trier war Karl Marx), sagt jedoch von sich selbst, dass er als Kind nicht viel über jüdische Geschichte erfuhr. „Ich wusste, dass die alte Synagoge 1938 zerstört und die neue in den 1950er Jahren eröffnet wurde. Aber ich hatte keinen Kontakt zu Juden. Als Kind war mir eine jüdische Familie namens Süsskind bekannt, die ein Schuhgeschäft führte, aber das war alles, was ich über jüdisches Leben wusste.“

Das änderte sich, nachdem Ittenbach sein Lehramtsstudium in Koblenz abgeschlossen hatte und 1971 mit seiner Frau nach Thalfang zog, wo er Musik, Geschichte, Religion, Deutsch und Englisch unterrichtete. Was als schrittweises Eigenstudium der jüdischen Geschichte der Region begann, entwickelte sich zu einer wahren Leidenschaft: Ittenbach half bei der Wiederherstellung von Grabsteinen auf dem jahrhundertealten jüdischen Friedhof des Ortes und initiierte die Verlegung von Stolpersteinen vor den Häusern ehemaliger jüdischer Mitbürger in Thalfang ebenso wie eine Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge, die in den 1950er Jahren abgerissen und durch ein Wohnhaus ersetzt wurde.

Seit seiner Pensionierung im Jahr 2007 hat Ittenbach unermüdlich weiter recherchiert und geschrieben und Dutzende von Artikeln in Fachzeitschriften und Kreisjahrbüchern veröffentlicht, die das Vermächtnis der jüdischen Kultur in Thalfang dokumentieren. Darüber hinaus hat er Vorträge an Schulen gehalten, Lesungen organisiert, Präsentationen für und mit Schülern erstellt und Führungen zu jüdischen Stätten in Thalfang geleitet. Daneben hat er auch den Aufbau der Thalfanger Website bei der Alemannia Judaica unterstützt, die über die regionalen jüdischen Gemeinden von Talling, Dhronecken, Berglicht und Deuselbach informiert. Für die Zukunft plant er eine Informationstafel am jüdischen Friedhof, „die seine Geschichte und die Inschriften der Grabsteine erläutert. Bis jetzt gibt es dort nur eine Gedenktafel mit der neutralen Inschrift ,Den jüdischen Mitbürgern zum Gedenken. Uns Lebenden zur Mahnung‘.“

Durch sein Engagement zur Bewahrung und sorgfältigen Dokumentation der lokalen jüdischen Kultur und Geschichte hat Ittenbach „unser Verständnis für diesen Ort bereichert, nicht nur im Gedenken an die Menschen, die dem Holocaust zum Opfer fielen, sondern auch in Würdigung des Beitrags der Juden zum gesellschaftlichen Leben und zur Wirtschaft in der Region“, sagt Evan Wolfson, Pittsburgh, Pennsylvania, USA, dessen Vorfahre Egelchen Samuel im späten 18. Jahrhundert in Thalfang geboren wurde. „Im Kern ist Elmar Ittenbach nicht nur ein Genealoge und nicht nur Historiker, sondern ein Lehrer und Freund der gesamten Menschheit.“

Steven Simon aus New York City, USA, dessen Großeltern Markus und Hermina Simon von den Nationalsozialisten in den Tod deportiert wurden und an die heute auf Stolpersteinen vor ihren Häusern erinnert wird, würdigt Ittenbachs „unermüdliches Engagement für die Vermittlung von Wissen über Thalfang, seine Nachbargemeinden, die jüdischen Einwohner und das Schicksal der jüdischen Gemeindemitglieder. Ohne die Recherchen von Herrn Ittenbach hätte ich nie alle Details über das Leben [meiner Großeltern] und ihr Schicksal erfahren.“ Und Wendy Werner aus Maale Adumim, Israel, deren Familiengeschichte in Thalfang auf das Jahr 1730 zurückgeht, sagt: „Ittenbach geht es um den Brückenbau zwischen Juden und Nichtjuden und darum, die Bedeutung von Toleranz und Miteinander zu vermitteln.“

Die Botschaft des Miteinander ist Ittenbach gerade heute, vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise in Europa, ein wichtiges Anliegen. „Es ist sehr wichtig, tolerant zu sein, sich gegen Fundamentalismus und Terror zu stellen und die Menschen zum Nachdenken über diese Ideen zu bewegen. Die Juden waren über lange Zeit Teil unserer Gesellschaft. Sie waren für die deutsche Kultur von großer Bedeutung und haben sie entscheidend beeinflusst – und das sollten mehr Menschen wissen. Darauf kommt es an: Wir müssen uns an alle Menschen erinnern, die Bürger von Thalfang waren.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.