Obermayer German Jewish History Award
Detlev Herbst
Uslar, Niedersachsen
Detlev Herbst kannte in seiner Kindheit den jüdischen Friedhof seines Heimatortes nur vom Versteckspielen. Die Ruinen der in der Pogromnacht zerstörten Synagoge gegenüber seinem Gymnasium im bayrischen Bad Kissingen sah er zwar täglich, aber über die Geschichte und Bedeutung wusste er nichts – darüber wurde nicht gesprochen. Sein Vater war im Krieg an einer Lungenentzündung gestorben, die er sich in Warschau beim Sanitätsdienst der Wehrmacht zugezogen hatte. Der 1943 geborene Herbst wurde mit seiner Mutter und Großmutter während der Bombenangriffe auf Hannover nach Bayern evakuiert. Später wurde Herbst Lehrer und zog ins niedersächsische Uslar. Dort begann er, sich intensiv mit der jüdischen Geschichte in seiner Region zu befassen, angetrieben von der Überzeugung, dass ein Schweigen über den Holocaust nie wieder zugelassen werden durfte.
Herbsts Entdeckungen begannen in den 1980er Jahren, als er mit seinen Schülern ein Projekt zum Leben im Dritten Reich durchführte. „In den Schulbüchern fand ich nur Material über jüdisches Leben in der Stadt wie zum Beispiel Berlin und Hannover oder Köln, aber nichts über die ländlichen Regionen“, erinnert er sich. „Also begannen wir, ältere Einwohner im Ort zu befragen, was sie über die Juden wussten, die hier früher gelebt hatten.“ Herbst und seine Schüler entwickelten einen Fragebogen für die Einwohner von Uslar. „Wir gingen auf die Straße und befragten die Menschen – und erhielten viele interessante Antworten und jede Menge Informationen. Einige konnten uns sogar die Namen jüdischer Familien nennen und uns zeigen, wo sie gelebt hatten.“
Auf Basis der Interviews entstand eine kleine Ausstellung, die im Uslarer Rathaus gezeigt wurde. Doch das war nur der Anfang. Bald darauf wurde Herbst von einem Journalisten auf eine kleine, kaum bekannte Synagoge und einen jüdischen Friedhof im benachbarten Bodenfelde aufmerksam gemacht. „Ich wusste nichts davon, niemand hatte sie bis dahin erwähnt“, so Herbst, der daraufhin die 1825 erbaute Synagoge besuchte. Das traditionelle Fachwerkgebäude „stand zwar noch, aber es war in einem beklagenswerten Zustand. Das Dach leckte, Wasser drang in das Gebäude ein – es sah schlimm aus.“ Herbst besuchte die Synagoge mit seinen Schülern und kam dabei auf den Gedanken, dass das Gebäude eigentlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte.
So begann Herbsts Einsatz für die Wiederherstellung einer der großartigen historischen Landsynagogen in Niedersachsen. Im Jahr 2006 wurde die Bodenfelder Synagoge schließlich Stück für Stück zerlegt und in Göttingen wieder aufgebaut, auch dank der Unterstützung einer weiteren Preisträgerin der Obermayer Awards, Brigitta Stammer. Heute dient das Gebäude der liberalen jüdischen Gemeinde mit ihren 300 Mitgliedern als zentrales Versammlungs- und Gebetshaus. Herbst hat sich über die Jahre mit mehr als 200 Schülern auch um die Wiederherstellung und Pflege des jüdischen Friedhofs von Bodenfelde gekümmert. In Führungen und Vorträgen vermittelt er Kindern wie Erwachsenen die jüdische Vergangenheit ihrer Region.
Für Herbst hat sein Engagement drei Hauptantriebsfedern. Zunächst geht es ihm darum, „den vergessenen jüdischen Nachbarn Name und Gesicht zurückzugeben und den Nachfahren der Juden aus Uslar und Bodenfelde Informationen zu ihrer Familiengeschichte zu vermitteln.“ Darüber hinaus ist es ihm wichtig, „den Menschen zu zeigen, welch wichtigen Beitrag die jüdische Minderheit in ihren Gemeinden leistete, indem sie z. B. Fabriken und Geschäfte aufbaute und so Tausende Arbeitsplätze in der Möbel-, Basalt-, Braunkohle- und Glasindustrie schuf.“ Und nicht zuletzt geht es darum, „nie in Vergessenheit geraten zu lassen, dass die jüdische Bevölkerung allein aufgrund ihrer Religion vertrieben und getötet wurde.“
Nachdem erste Artikel zu Herbsts Arbeit in der Lokalpresse erschienen waren, wandten sich immer mehr Nachbarn an ihn, um ihm Begebenheiten und Geschichten aus der Zeit vor dem Krieg zu berichten. „Ich erfuhr, dass einige in jüdischen Geschäften gearbeitet oder jüdische Nachbarn gehabt hatten“, erklärt er. Und er erhielt bislang unbekannte Dokumente, Akten, Fotografien, Briefe und andere biographische Details zu den 60 bis 80 Juden, die früher in Uslar und Bodenfelde gelebt hatten. Durch seine Arbeit baute Herbst auch Beziehungen zu den Nachfahren einiger Dutzend jüdischer Familien aus der Region auf, die heute in aller Welt leben, von Südafrika und Australien über die USA, Brasilien, Italien, Schweden und Norwegen bis hin nach Israel.
Ein Höhepunkt seiner Arbeit war eine Ausstellung im Museum Uslar unter dem Titel Jüdisches Leben im Solling mit mehr als 2,500 Besuchern, die später als Dauerausstellung einen eigenen Raum bekam. Zu sehen sind die detaillierten Biographien der Familien und Beschreibungen des einstigen jüdischen Lebens, das mehr als 400 Jahre zurückreicht. Herbst schrieb ein Begleitbuch zur Ausstellung, das ebenfalls unter dem Titel Jüdisches Leben im Solling erschien, und verfasste zahlreiche Artikel zum jüdischen Vermächtnis in Uslar und Bodenfelde. Sein neuestes Buch, Spuren jüdischer Geschichte zwischen Solling und Weser, erschien 2014.
Darüber hinaus hat Herbst die Verlegung von Stolpersteinen und Anbringung von Gedenktafeln vor bzw. an den Häusern ehemaliger jüdischer Bürger in Uslar initiiert und die Mittel dafür eingeworben. Auch ein Holocaust-Mahnmal in Bodenfelde zum Gedenken an die 20 Bürger der Stadt, die in Konzentrationslagern ermordet wurden, geht auf seine Initiative zurück.
Livingstone Treumann aus Redington Beach, Florida, dessen Großeltern aus Bodenfelde flohen, sagt über den Preisträger: „Detlev Herbst baut nicht nur Synagogen und Friedhöfe wieder auf, sondern etwas sehr viel Wichtigeres und Mächtigeres: Erinnerungen für zukünftige Generationen.“ Und Rabbi Philip Heilbrunn, ehemaliger Präsident der Orthodox Rabbis of Australia, erklärt, dass Herbst für ihn „ein Fels in der Brandung und wichtiger Unterstützer für seine leidenschaftliche Suche nach den Wurzeln der Familie meiner Mutter war ...[Sein] unermüdlicher Einsatz für die Erweiterung und Vertiefung des Verständnisses für die Juden in der Region und seine enorme Zugewandtheit und Sensibilität in dieser Mission zur Bewahrung der Erinnerung ist einzigartig.“
Neben seinem vielfältigen Engagement für das aktive Gedenken an die Juden von Uslar schafft Herbst es bis heute mehrmals im Jahr, sich mit Schülern um den jüdischen Friedhof von Bodenfelde zu kümmern, indem sie Büsche und Gras schneiden, Laub entfernen und die Grabsteine reinigen. „Die Schüler arbeiten wirklich gerne dort, und wir bleiben jedes Mal 5–6 Stunden“, so Herbst. „Es ist so wichtig, dass dieser Teil der Geschichte unserer Region nicht in Vergessenheit gerät.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.