Obermayer German Jewish History Award

Karl und Hanna Britz

Bodersweier, Baden-Württemberg

Awards2018_Britz2.jpg

Im Jahr 1983 wurde Karl Britz, damals Grundschullehrer und Mitglied des Ortschaftsrates von Bodersweier, gebeten, an einer Dorfchronik anlässlich des 1100-jährigen Bestehens des Ortes als Autor und Redakteur mitzuarbeiten. Seine damals nur vagen Kenntnisse über die Existenz einer früheren jüdischen Gemeinde waren der Anstoß für ihn und seine Frau Hanna, darüber zu recherchieren. „Man kann dieses Buch nicht ohne die Geschichte der alten jüdischen Gemeinde schreiben“, war das Paar überzeugt. „Damit fing alles an.“

Nach umfassenden Recherchen in Zusammenarbeit mit Hans Nußbaum, einem Jugendfreund und damaligen Ortschaftsrats-Kollegen, wurde die ausführliche Geschichte der jüdischen Gemeinde 1986 unter dem Titel Das Schicksal der Juden von Bodersweier publiziert. Diese Chronik dokumentiert den gesamten Zeitraum der jüdischen Vergangenheit des Ortes, von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Holocaust. Unter anderem sind, nach Familien geordnet, namentlich alle Juden aufgeführt, die vor Hitlers Machtergreifung noch im Ort gelebt hatten.

Im Rahmen der 1100-Jahr-Feiern wurde auf Initiative von Karl Britz und Hans Nußbaum 1984 auf dem Gemeindefriedhof in Bodersweier ein Gedenkstein errichtet, auf dem alle 17 Juden der Ortschaft namentlich vermerkt sind, die im Holocaust ihr Leben verloren hatten. „Damals wurde erstmals die jüdische Vergangenheit in ihrem ganzen Ausmaß erkannt“, sagt Karl Britz.

Doch damit war das Engagement des Ehepaares noch längst nicht erschöpft. So reisten die zwei nach New York, Frankreich und Israel, um jüdische Überlebende aus Bodersweier und ihre Nachfahren zu treffen. Karl Britz veröffentlichte zahlreiche Zeitungsartikel zum jüdischen Vermächtnis in der Gemeinde sowie mehrere weitere Bücher, darunter Glück, ganz besonderes Glück über den bemerkenswerten Überlebenskampf des badisch-elsässischen Ehepaars Jules und Denise Kaufmann im besetzten Frankreich. In seinem Kinderbuch Das Doppeldipp von Dappelsheim widmet sich ein Kapitel der Diskriminierung eines jüdischen Schulmädchens in der NS-Zeit. So wird Kindern vermittelt, wie wichtig es ist, nicht einfach der Masse zu folgen.

Das Ehepaar Britz hat außerdem Geburten-, Ehe- und Sterberegister für alle Juden von Bodersweier erfasst und für ihre Familien persönliche Familienstammbäume erstellt. Die Transkriptionen dieser Register sind heute im Internet unter „Familienforschung Bodersweier“ jedermann zugänglich. Und in Vorträgen an Schulen und bei öffentlichen Veranstaltungen ist es Karl Britz inzwischen gelungen, vielen anderen Menschen die einst reiche jüdische Kultur in Bodersweier nahezubringen.

Hanna und Karl Britz wurden beide während des zweiten Weltkriegs geboren und wuchsen im badischen Bodersweier auf. In dem kleinen, wenige Kilometer von der französischen Grenze entfernt liegenden Dorf erfuhren sie zunächst wenig über die jüdische Vergangenheit ihres Ortes. Karls Vater war Landwirt, Hannas Vater Eisenbahnbeamter. „Wir hatten keine Erfahrung mit jüdischen Menschen, weil 1940 alle Juden nach Frankreich deportiert worden waren“, sagt Karl Britz. In der Jugendzeit des Ehepaars gab es zwar Filme und vereinzelt Schulstunden zum Holocaust – wie weit aber auch jüdische Menschen aus ihrer eigenen Wohngemeinde betroffen waren, war ihnen nicht bewusst.

„Es war und bleibt Karl Britz’ Mission, junge Menschen ebenso wie Erwachsene über die Zerstörung der Bodersweierer jüdischen Gemeinde zu informieren und ihnen zu zeigen, welch wichtigen Beitrag die Juden zum Leben im Dorf und in den benachbarten Gemeinden geleistet haben“, sagt Ethan Bensinger aus Deerfield, Illinois, USA, dessen Vorfahren aus einer der größten jüdischen Familien des Ortes stammen. „Ohne Britz’ außerordentliche Arbeit wäre die Geschichte des jüdischen Bodersweier und seiner Familien für immer verloren gegangen.“ Eine andere Nachfahrin Bodersweierer Juden, Shlomit Klein aus Nahariya, Israel, würdigt Britz als „einen lebenslangen Lehrer und Botschafter, der sich nicht nur der Erinnerung und dem Gedenken widmet, sondern der nächsten Generation auch die Lehren aus diesen schrecklichen geschichtlichen Ereignissen vermittelt, um zu verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt.“

Doch nicht alle Einheimischen in Bodersweier waren den Bemühungen des Ehepaares um die Aufdeckung der NS-Vergangenheit gegenüber von Anfang an aufgeschlossen. „Dies betraf hauptsächlich Menschen, die von Wiedergutmachungsforderungen nach dem Krieg betroffen waren und sich ungerecht behandelt fühlten“, sagt er. „Weniger kritisch waren ehemalige NSDAP-Mitglieder oder ihre Nachkommen, denn keiner aus dem Ort wurde bezichtigt, in Verbrechen verwickelt gewesen zu sein. In der Reichspogromnacht wurden beispielsweise auswärtige SS-Leute in Bodersweier eingesetzt, um die Synagoge zu demolieren und alle jüdischen Männer über 16 Jahre in so genannte ,Schutzhaft‘ zu nehmen und ins Konzentrationslager Dachau zu verbringen.“

Im Jahr 2005 beteiligte sich Karl Britz mit seiner damaligen Grundschulklasse am ökumenischen Jugendprojekt „Mahnmal“ zum Gedenken an die mehr als 5.600 Juden aus 139 badischen Gemeinden, die 1940 in das Internierungslager Gurs deportiert wurden.

Der mit den Kindern gestaltete Gedenkstein wurde im Ortszentrum aufgestellt. „Das Projekt war eine gute Möglichkeit, den Kindern die jüdische Vergangenheit unseres Ortes nahezubringen“, erinnert sich Karl Britz. „Sie redeten mit ihren Eltern und Großeltern darüber und brachten so einen Austausch in Gang.“

Karl und Hanna Britz ergänzen sich gegenseitig in ihrem engagierten Einsatz zur Bewahrung der jüdischen Geschichte ihrer Gemeinde. Während Karl Britz sich stärker auf die Recherchen und das Schreiben konzentrierte, war seine Frau besonders in die Organisation von Begegnungen mit den Nachfahren der Bodersweierer Juden eingebunden. Sie half bei der Transkription von Dokumenten, führte Interviews und prägte den Kontakt zu den jüdischen Familien, wodurch das Ehepaar im Laufe der Zeit immer mehr über die Vergangenheit ihres Heimatortes erfuhr und weiterhin erfährt. „Die ganze Arbeit ist alleine nicht zu schaffen“, sagt Karl Britz. „Hanna hatte immer gute Ideen und Vorschläge, und sie hat geholfen, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Da außerdem viele Texte nicht in lateinischer, sondern in Sütterlin- oder [sogar noch älteren Formen der] Kurrentschrift verfasst sind, ist ihre Hilfe bei den Transkriptionen aus regionalen und lokalen Quellen besonders wichtig.“ Darüber hinaus unterstützt Hanna Britz ihren Mann als Lektorin bei der Abfassung und beim Feinschliff seiner Publikationen.

Seit dem Jahr 2011 ist Karl Britz auch in die Verlegung von Stolpersteinen im nahegelegenen Kehl einbezogen. Die Stolpersteinverlegungen werden vom Arbeitskreis „27. Januar“, der sich dem Gedenken an die ermordeten Juden der Region widmet, organisiert. Erst 2017 wurden 18 neue Steine verlegt – damit gibt es in Kehl jetzt 63 Stolpersteine. Nach wie vor organisiert das Paar zudem für die Nachfahren Bodersweierer Juden und für andere Interessierte Besuche auf den jüdischen Friedhöfen in Freistett und Kehl.

Für Hanna und Karl Britz ist es ein großes Anliegen, dass jemand aus der jüngeren Generation ihre Arbeit weiterführen möge, um die Erinnerung an die Bodersweierer Juden auch in Zukunft lebendig zu halten. „Für uns ist es Teil unseres Lebens geworden. Gerade heute ist es wichtig zu wissen, wie sich der Antisemitismus im 19. und im frühen 20. Jahrhundert entwickeln konnte und wie das alles mit den schrecklichen Verbrechen an den jüdischen Mitbürgern in der NS-Zeit geendet hat. Wir müssen aufpassen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Wenn wir uns heute mit den Berichten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern beschäftigen – über den Hass und die Angriffe gegen Ausländer, gegen muslimische Flüchtlinge, auch gegen Juden –, wird uns stets bewusst, dass die Nazis die Judenverfolgung nicht erfunden haben. Antisemitismus gab es schon, bevor Hitler 1933 an die Macht kam. Darum müssen wir Vorurteile bekämpfen, und wir müssen am Beispiel der jüdischen Schicksale zeigen, wozu die Diskriminierung einzelner Gruppen führen kann. Dies ist eine sehr wichtige Lektion für die Gegenwart und die Zukunft – nicht nur in Deutschland.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.