Obermayer German Jewish History Award
Harald Roth und Volker Mall
Herrenberg, Baden-Württemberg
Im Jahr 2001 besuchten die Lehrer Harald Roth und Volker Mall eine lokale Ausstellung mit Luftaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg von einem so genannten „Arbeitslager”, das zwischen den Dörfern Hailfingen und Tailfingen gelegen hatte, rund 30 Kilometer südlich von Stuttgart. Von dem Lager ist heute nichts mehr zu sehen, aber Roth und Mall wussten, dass Hailfingen-Tailfingen tatsächlich etwas anderes gewesen war und im letzten Kriegsjahr dort Hunderte von Juden gestorben waren. „Wir empfanden es als unsere Pflicht, die wahren historischen Fakten öffentlich zu machen“, sagt Roth. „Die Leute meinten, es wäre nur ein Arbeitslager gewesen, aber wir fanden Dokumente, die belegen, dass es ein Konzentrationslager war.“ Dies gab den Anstoß für weitere Recherchen, um die wahren Bedingungen aufzudecken, die in dem Lager geherrscht hatten.
Das Ergebnis war eine fundierte Chronik zum Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, die Roth und Mall 2009 unter dem Titel Jeder Mensch hat einen Namen: Gedenkbuch für die 600 jüdischen Häftlinge des KZ-Außenlagers Hailfingen-Tailfingen als Buch herausbrachten. Darin beschreiben die Autoren, wie im November 1944 600 Juden vom KZ Stutthof bei Danzig nach Hailfingen transportiert wurden, um dort einen Nachtjägerflugplatz auszubauen. Die Gefangenen wurden zu härtester Arbeit gezwungen, und mindestens 189 von ihnen starben in den drei Monaten, die das Lager bestand. Die Überlebenden wurden in andere Lager verlegt – auf den Gewaltmärschen starben noch einmal viele von ihnen.
Für Roth war das Allerwichtigste, den vielen Namenlosen ihre Identität zurückzugeben. „Wenn Sie einige der Überlebenden fragen, was das Schlimmste für sie war, ist die Antwort nicht ,Hunger‘ oder ,Krankheit‘. Sie sagen: ,Sie haben mir meinen Namen gestohlen. Ich war nur eine Nummer.‘“ Roth und Mall gelang es mit ihrem unermüdlichen Engagement, in einem Raum des alten Rathauses eine umfassende Dauerausstellung einzurichten, die Schüler, Ortsansässige und Besucher über das Lager und die Menschen, die dort starben, informiert. „Ziel unserer Ausstellung und unserer Vermittlungsarbeit ist es, den Opfern ihre Namen und Gesichter zurückzugeben, indem wir ihre Geschichten erzählen und mit Dokumenten und Fotos zeigen, dass jedes einzelne Opfer ein Mensch war, keine anonyme Masse. Man kann von 600 Juden in diesem Konzentrationslager sprechen, aber wenn man die Geschichte von einem oder zwei von ihnen erzählt, über ihr Leben berichtet, von der Kindheit an, können die Menschen wirklich nachvollziehen, was geschah“, sagt Roth.
Im Rahmen ihrer akribischen Recherchen haben Roth und Mall mehr als 120 Überlebende des Lagers Hailfingen-Tailfingen und ihre Nachfahren kontaktiert und als Gastgeber viele von ihnen betreut, die kamen, um den Ort zu sehen, an dem ihre Verwandten starben. Gleichzeitig mit der Ausstellung im alten Rathaus wurde 2010 am Westende der Landebahn ein Mahnmal errichtet, wo die Namen aller 600 Gefangenen des Lagers eingraviert sind. Auch eine Gedenktafel mit den Namen der 75 Juden, die in einem Massengrab neben dem Flugfeld begraben und später auf den Tailfinger Friedhof umgebettet wurden, geht auf die Initiative von Roth und Mall zurück. Darüber hinaus haben die beiden zahlreiche Artikel verfasst, Vorträge gehalten und mehrere weitere Bücher herausgebracht, die das Geschehen im Lager beschreiben. Ein Beispiel ist Mordechai Ciechanower. Der Dachdecker von Auschwitz-Birkenau, die Lebensgeschichte eines der Überlebenden des Lagers. Ciechanower war der Erste, der aus Israel nach Hailfingen-Tailfingen zurückkehrte und öffentlich über seine Erfahrung sprach.
Roth und Mall „haben eine enorme Verantwortung übernomen: die Enthüllung und Bewahrung eines unglaublich dunklen, aber wichtigen Teils der Geschichte“, sagt Steven Tenenbaum aus Newtown, Connecticut, USA, dessen Onkel im Lager Vaihingen/Enz starb. „Mit ihrer Arbeit haben sie zahllosen Menschen die Geschichte nahe gebracht – nicht nur denjenigen, die ihre Werke lesen und die Stätten besuchen, sondern [auch] den Familien der Opfer, die ohne sie niemals erfahren hätten, was damals wirklich geschah.“ Für Eric Baron aus Los Angeles, Kalifornien, USA – sein Großvater Isak Abrahamovitz starb in Hailfingen, sein Vater Sam Baron überlebte – hat die sorgfältige Recherche von Roth und Mall „die mehr als 60 Jahre lang brennende Frage nach dem Verbleib der sterblichen Überreste meines Großvaters beantwortet – eine Frage, die meinen Vater verzehrt hat, der sich nach einem Abschluss sehnte.“
Im Oktober 2017 besuchte der ehemalige britische Außenminister David Miliband zusammen mit seinem Bruder Ed, seiner Mutter Marion Miliband-Kozak und seiner Tante Hadassah Kosak Hailfingen und erfuhr von der bis dahin unbekannten Verbindung zwischen seiner eigenen Familie und dem Lager. Er schrieb nach seinem Besuch: „Herzlichen Dank für Ihr engagiertes und erfolgreiches Wirken, um die Geschichte der schrecklichen Vergangenheit von Hailfingen zu erzählen und künftigen Generationen eine Botschaft der Menschlichkeit zu vermitteln. Sie haben unserer Familie die unerwartete Chance eröffnet, Antworten auf einige sehr fundamentale Fragen zu finden. Ich verließ den Ort mit einem Gefühl größter Dankbarkeit für Ihre Arbeit und zutiefst beeindruckt von der Art und Weise, wie die Deutschen Verantwortung für ihre eigene Geschichte und damit auch für ihre Zukunft übernehmen.“
In der Schule erfuhr der 1950 in Böblingen geborene Roth nichts über den Holocaust. Sein Vater (Jahrgang 1929) war Mitglied der Hitlerjugend – „seine ganze Kindheit stand unter dem Einfluss der Nazis“, sagt Roth –, für den Dienst als Soldat im Zweiten Weltkrieg jedoch zu jung gewesen. Roths Mutter war eine Sudetendeutsche, die nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei fliehen musste. Roth arbeitete nach seinem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft als Lehrer in Berlin, wo er auch erste Erfahrungen in der Vermittlung des Holocaust sammelte. Nach der Rückkehr nach Baden-Württemberg im Jahr 1982 gelangte Roth zu der Erkenntnis, dass es den herkömmlichen Geschichtsbüchern an persönlichen Geschichten und autobiographischem Material aus der Zeit des Nationalsozialismus mangelte. So begann er Geschichten zu sammeln und Überlebende zu interviewen, die aus Deutschland und Österreich geflohen waren; das Ergebnis war sein erstes Buch, das 1989 erschien. Roths zweites Buch erzählt die Geschichte des mutigen Widerstands junger Menschen: „Man muss Fakten, Fakten, Fakten lernen. Aber man braucht auch die Geschichten der Menschen, die durch die historischen Ereignisse gelitten haben“, ist er überzeugt.
Roth ging 2013 in Pension, gesteht aber, dass „die Arbeit für die Gedenkstätte ein Vollzeitjob ist“, da er beispielsweise Jugendliche für die Tätigkeit als ehrenamtliche „Guides“ schult. Roth und Mall haben ein internationales Sommerlager ins Leben gerufen, zu dem Studenten aus ganz Europa nach Hailfingen kommen, um Skulpturen für einen Gedenkpfad zu schaffen und um etwas über das Leben in der Zeit des Holocaust zu erfahren. Derzeit installieren Roth und Mall am Ort des ehemaligen Lagers Informationstafeln mit digitalem Audioguide. Damit können Besucher mit Smartphones per QR-Code z. B. Audiotracks mit den Stimmen Überlebender, die ihre persönliche Geschichte erzählen, abrufen.
Mall, dessen Vater Nazi war und 1942 an der russischen Front starb, sieht sich selbst als lebenslangen „Antifaschisten, Sozialisten und Pazifisten“, dessen wichtigste Mission als Lehrer und Holocaust-Forscher in der Aufdeckung von Fakten liegt. „Wir wollen die Wahrheit zeigen. Wir können den jungen Menschen nur erzählen, was geschah, und hoffen, dass sie daraus lernen“, sagt er. „Es besuchen auch viele Ältere unsere Ausstellung, und manchmal fangen sie an zu weinen, wenn sie die Geschichten der Familien an sich heranlassen.“ Trotz seiner 75 Jahre sucht Mall weiterhin den Kontakt zu Überlebenden und ihren Nachfahren.
Roth ist sich mit Mall einig, was das Wichtigste an ihrer Arbeit ist: dass junge Menschen aus der Tragödie Lehren ziehen. „Es geht nicht um die Vergangenheit. In Wirklichkeit arbeiten wir für die Zukunft“, sagt er. „Wenn wir auf die Welt von heute blicken, dürfen wir nicht vergessen, was in Deutschland geschah. Wir hoffen, dass wir Deutsche unsere Lektion gelernt haben. Alle sollten wissen, um was es geht, vor allem die jungen Menschen. Sie denken, dass die Demokratie selbstverständlich ist, aber das ist sie nicht: Man muss jeden Tag für sie kämpfen. Das Schönste ist, wenn Angehörige kommen und sagen, ,lasst nicht nach, macht weiter mit Eurer Arbeit.‘ Wir können niemals sagen, dass es jetzt genug ist, denn im nächsten Jahr kommt eine neue Generation – es endet also nie. Die Menschen sollten wissen, dass es Konzentrationslager direkt vor ihrer Haustür gab.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.