Obermayer German Jewish History Award, Jubiläums-Auszeichnung

Über das Gelernte hinaus: ein Projekt, das Jugendliche zu eigenständigem Forschen anregt.

Geschichtomat-Projektwochen geben den Jugendlichen einen tieferen Einblick in die deutsch-jüdische Geschichte und vermitteln gleichzeitig praktische Medienkompetenzen.

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An einem nasskalten Novembermorgen spricht eine Gruppe von Teenagern der Hamburger Stadtteilschule Bahrenfeld im Park Platz der Republik Passanten auf ein großes, schwarzes Mahnmal an, das gegenüber dem Altonaer Rathaus steht, einem imposanten Gebäude aus dem 19. Jahrhundert: „Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Das Mahnmal erinnert an die ermordeten Juden aus Hamburg-Altona. Es wurde von dem amerikanisch-jüdischen Künstler Sol Lewitt (1928-2007) geschaffen und 1989 errichtet. In Altona lebten vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten etwa 5.000 Juden. „Wissen Sie, was das ist?“ fragen die Schülerinnen und Schüler die Menschen, die bereit sind, sich filmen zu lassen. Nur sehr wenigen ist das schwarze rechteckige Gebilde bisher aufgefallen, obwohl sie häufig daran vorbeilaufen.

Aus den Antworten der Passanten und einem Interview wird die Projektgruppe gemeinsam mit Anne-Kathrin Reinberg, Referentin der Behörde für Kultur und Medien, eine Kurzdokumentation für die Geschichtomat-Website erstellen. Der Geschichtomat ist ein Geschichtsprojekt, das einen virtuellen Stadtplan zum jüdischen Leben in Hamburg erstellt und die Teilnehmenden dabei auf eine Reise durch Vergangenheit und Gegenwart schickt.

Mit fachlicher und medienpädagogischer Begleitung recherchieren die Schülerinnen und Schüler, führen Interviews mit Experten und Zeitzeugen, besuchen Museen und Archive, drehen und schneiden ihre eigenen Filme und schreiben Texte. Die fertigen Beiträge werden auf die Website hochgeladen.

Dort kann man die Stimmen von Teenagern aus der ganzen Stadt hören, wie sie die Herkunft jüdischer Namen erklären, die Geschichte jüdischer Familien aus der Nachbarschaft während der NS-Zeit erzählen, die Denkmallandschaft in Hamburg erkunden oder jüdische Traditionen und Feiertage erläutern. Die Website bietet eine große Vielfalt an Themen, von Kultur und Religion bis hin zu Migration und Verfolgung. Alle Projekte werden mit fachlicher Begleitung von den Schülerinnen und Schülern selbst erstellt. 

Der Geschichtomat wurde 2013 von Ivana Scharf ins Leben gerufen. Seitdem haben mehr als 800 Schülerinnen und Schüler teilgenommen, und es sind fast 200 Kurzfilme entstanden. 

Im Dezember 2018 zeichnete die Stiftung Bildung und Gesellschaft die Initiative für ihr kreatives Projekt zur Vermittlung des Umgangs mit digitalen Medien bei Teenagern aus. „Das Projekt ist ein tolles Beispiel, wie die Beschäftigung mit Geschichte und digitale Medien zusammenwirken können“, sagt Birgit Ossenkopf, damals stellvertretende Geschäftsführerin der Stiftung.

Die Website hat sich auch zu einer Wissensbasis für neue Projekte entwickelt, mit Lernmaterialien von Kindern für Kinder zu Themen wie koscherem Essen, jüdischen Feiertagen oder dem Kindertransport, der während der NS-Zeit einige Monate lang Kindern die Flucht nach Österreich und England ermöglichte.

Die Kinder lernen zwar in der Schule etwas über andere Religionen oder die Verfolgung und den Völkermord an den Juden während der NS-Zeit. Aber über das, was in ihrer direkten Nachbarschaft geschah, erfahren sie meist wenig. Eine Umfrage ergab, dass 90 Prozent der Teilnehmenden am Geschichtomat sich vorher noch nie mit jüdischer Geschichte und Kultur in Hamburg befasst hatte. 

„An deutschen Schulen bekommt man zu jüdischem Leben in Deutschland etwas über den Holocaust vermittelt und vielleicht noch über die Verfolgung im Mittelalter“, sagt Carmen Bisotti, Leiterin des Projekts Geschichtomat, das vom Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden getragen wird. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Das ist ein sehr wichtiger Teil der Geschichte. Aber wenn man ausschließlich lernt, dass die Juden eine verfolgte Minderheit und nicht Teil der Gesellschaft waren, vermittelt das einen ganz falschen Eindruck.“

Im Rahmen von Geschichtomat-Projektwochen bekommen Jugendliche Gelegenheit, Interviews zu führen, in Primärquellen zu recherchieren und ganz unmittelbare Erfahrungen zu machen. 

Laut Panagiotis Maltasiadis, Oberstufenkoordinator an der Joseph-Carlebach-Schule in Hamburg, stärkt die Teilnahme an dem Projekt sowohl die persönlichen Kompetenzen als auch praktische Fähigkeiten. In seinen Augen „leistet der Geschichtomat einen Beitrag dazu, dass unsere Schülerinnen und Schüler sich zu selbstbewussten und demokratischen Mitgliedern unserer Gesellschaft entwickeln.“

Die Jugendlichen erfahren einen „Perspektivwechsel“, sagt Nicole Sassen, Lehrerin an der Stadtteilschule Bahrenfeld. „Juden sind nicht immer die Opfer oder nur eine Gruppe, die gehasst wird. Sie sind einfach eine Gruppe von Menschen mit einer anderen Religion.“

Manchmal ergibt sich auch die Möglichkeit zur Begegnung mit Juden in der Nachbarschaft. Die Schülerinnen und Schüler haben Rabbis interviewt und die Synagoge und die jüdische Schule besucht. Diese Begegnungen sind „sehr wichtig“, sagt Bisotti. „Wenn man Menschen kennen lernt, die einer Minderheit oder anderen Religion angehören, entwickelt man nicht so leicht Vorurteile gegen sie, weil man merkt, dass sie Menschen sind wie du und ich.“ Allerdings können nicht in jeder Projektwoche Begegnungen mit der jüdischen Gemeinde in Hamburg organisiert werden, aus dem einfachen Grund, dass nur wenige tausend Juden in der Stadt leben. „Es ist der Gemeinde zeitlich einfach nicht möglich, jedes Jahr acht oder mehr Termine mit Schulklassen wahrzunehmen“, sagt Bisotti.

Der Geschichtomat geht auf ein persönliches Erlebnis von Ivana Scharf zurück: Bei einem Spaziergang durch ihre Heimatstadt fiel ihr die Troplowitzstraße auf. Sie wusste, dass Oskar Troplowitz (1863 bis 1918) als Gründer des Nivea-Konzerns zu den bekanntesten Hamburger Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gehörte. Sie recherchierte ein wenig und fand heraus, dass Troplowitz Jude war. Inspiriert durch diese Geschichte beschloss sie, auch anderen Menschen die jüdische Lokalgeschichte nahezubringen, „um sichtbar zu machen, welch wichtige und dennoch so normale Rolle jüdische Menschen in der Geschichte Hamburgs und Deutschlands spielen.“ 

Manchmal entfaltet ein Schulprojekt eine Wirkung, die weit über das erwartete Maß hinausgeht. So recherchierte eine Schulklasse vor einigen Jahren die Geschichte eines Stolpersteins vor ihrer Schule. Er war einer ehemaligen jüdischen Schülerin gewidmet, die während des Holocaust deportiert und ermordet wurde. 

„Als sie anfingen, gab es nicht einmal ein Foto von dem Mädchen“, erzählt Bisotti. „Sie führten ein Interview und drehten einen Film, dann war die Projektwoche vorbei. Ein paar Wochen später rief uns ihre Lehrerin ganz aufgeregt an. Eine Angehörige in den USA hatte den Film gesehen. Sie kam schließlich sogar nach Hamburg, besuchte die Schulklasse und brachte Fotos mit.“

 Heute arbeiten Sassens 14- und 15-jährige Schülerinnen und Schüler an Projekten zu jüdischen Feiertagen und Ritualen, zur Verfolgung der Juden in der NS-Zeit und zum Gedenken seit dem Ende des Krieges. Sassen stellt fest, dass die Kinder an Geschichtomat-Projekttagen immer besonders konzentriert mitarbeiten.

 „Ich habe Juden immer mit Diskriminierung in Verbindung gebracht“, sagt die Schülerin Leona. 

 „Ich habe heute gehört, wie Kinder sich gegenseitig mit ,Du Jude‘ beschimpft haben“, kommentiert ihre Klassenkameradin Yagmur. „Das ist rassistisch.“

 „Wir erfahren etwas über ihr Leben und nicht nur, dass sie verfolgt wurden“, sagt Mascha. 

 An vielen Schulen „gibt es nach wie vor Vorurteile“, sagt Bisotti. „Wir wollen zeigen, dass jüdische Menschen einfach normale deutsche Bürgerinnen und Bürger sind und waren, wie alle anderen. Und wir hoffen, dass einige Barrieren langsam fallen.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

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„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.