Obermayer German Jewish History Award, Jubiläums-Auszeichnung
Fußballfans erschließen sich Antidiskriminierungsthemen über die Vereinsgeschichte.
Ein bahnbrechendes Fanprojekt, das mit Hertha BSC zusammenarbeitet, setzt sich mit Vorurteilen und Antisemitismus auseinander.
In einer grünen Ecke im ehemaligen Ostberlin, nur wenige Schritte entfernt vom geschäftigen Treiben auf der Schönhauser Allee, steht ein eingeschossiges Gebäude mit einer bunt bemalten Fassade. Gleich daneben erleuchtet das Flutlicht im Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion den abendlichen Himmel.
So unauffällig das Gebäude daherkommt, so bemerkenswert ist die Arbeit, die darin geleistet wird.
Seit 1990 arbeitet das Fanprojekt der Sportjugend Berlin mit Hertha BSC zusammen, um eine tolerante und gewaltfreie Fußballkultur zu fördern. In einem gemeinsamen Projekt geht es darum, die Fußballfans mit einem unbequemen Aspekt des Mannschaftssports zu konfrontieren: Vorurteile und Antisemitismus gestern und heute.
Die Veranstaltungsreihe Aus der eigenen Geschichte lernen wurde 2015 ins Leben gerufen und soll „über die Auseinandersetzung mit der Vereinsgeschichte in der NS-Zeit zu einem Wandel in der Fußballkultur beitragen und einen positiven gesellschaftlichen Impuls setzen“, sagt Projektleiter und Historiker Söhnke Vosgerau (37), der bereits seit 2009 für das Fanprojekt arbeitet, zunächst während seines Studiums, später als freier Mitarbeiter und seit 2016 in Festanstellung.
Das Projekt verfolgt drei Hauptziele: Erforschung der Geschichte und Rolle von Hertha BSC während der NS-Diktatur, Recherche der Biographien und Schicksale vergessener jüdischer Vereinsmitglieder und Förderung des Engagements von Hertha-BSC-Fans gegen Antisemitismus, Diskriminierung und Intoleranz.
„Das übergeordnete Ziel dabei ist, die Menschen zu sensibilisieren. Sie zu ermutigen, sich gegen populistisches und diskriminierendes Verhalten zu widersetzen, ...“, sagt Stefano Bazzano, der seit 2015 in seiner Funktion als Fanbeauftragter bei Hertha BSC mit Vosgerau zusammenarbeitet.
Der Kontakt zu den Fans läuft dabei über die Vereins-Website und die sozialen Medien, wie Bazzano erklärt. Es gibt Projekte, die in kleinen Gruppen stattfinden, oder auch große Veranstaltungen, an denen mehrere hundert Personen teilnehmen. „Es kommt demnach nicht immer nur darauf an, wie viele Fans wir erreichen können, sondern eher, was wir dabei transportieren und was die Teilnehmer daraus mitnehmen“, erklärt er.
„Da wir in unserer alltäglichen Arbeit viel im Austausch mit unseren Fans sind, sprechen wir sie auch direkt an und geben einen Flyer mit. Es geht uns dabei auch um potenzielle Multiplikatoren, die unsere Werte und diese Haltung dann in die Szene und in die Kurve tragen.“
Das Projekt ist eine Erfolgsgeschichte: Einige Teilnehmende haben sogar eigene Initiativen gestartet, zum Beispiel für die symbolische Rücknahme der Vereinsausschlüsse jüdischer Mitglieder während der NS-Zeit. „Dieser erfolgreiche Antrag ging selbstinitiativ von ehemaligen Teilnehmern unseres Projekts aus“, sagt Bazzano.
Einige Ansätze des Fanprojekts wurden von anderen Fanvereinigungen und Fußballvereinen in Deutschland übernommen. Die Erforschung der Vereinsgeschichte hat sich laut Vosgerau als wirksames Mittel zur kritischen Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der Fußballfankultur erwiesen:
„Wir haben eine sehr stark ausgeprägte Fußballkultur in Deutschland, die allerdings auch ihre Schattenseiten hat“, sagt er. „Schon im Amateurbereich sind diskriminierende Gesänge an der Tagesordnung, und man erlebt leider immer wieder Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Gewalt.“
„Wir sind immer auf der Suche nach neuen Wegen und Möglichkeiten, um dem zu begegnen“, erklärt er.
Aus der eigenen Geschichte lernen richtet sich an Fans aller Altersgruppen. Bei den bisherigen Veranstaltungen lag das Alter der Teilnehmenden zwischen 17 und Mitte 50.
Das Projekt erreicht „Menschen, die man normalerweise nie erreichen würde und die sich im Alltag überhaupt nicht bewusst machen, was den Juden in Berlin angetan wurde“, sagt Adam Kerpel-Fronius, der als Historiker bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas arbeitet. „Aber wenn es um ein Vereinsmitglied oder einen Mannschaftsarzt geht, kann das ihnen die Augen öffnen.“
Eines der ersten Gruppenprojekte war eine Biographie über Hermann Horwitz, der in den 1920er und 1930er Jahren Mannschaftsarzt bei Hertha BSC war und in Auschwitz ermordet wurde. Seine komplexe Biographie wurde von Fans akribisch rekonstruiert und 2017 als Buch herausgebracht. „Eine phantastische 20-köpfige Fangruppe hat recherchiert, E-Mails in alle Welt geschickt, Archive besucht und sämtliche verfügbaren Mittel genutzt, um an Informationen zu gelangen“, sagt Vosgerau.
Eine andere Gruppe erforschte später das Schicksal von Vereinsmitgliedern, die 1938 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ausgeschlossen wurden. Vosgerau würde eigentlich auch gerne zum Thema Täter in der Vereinsgeschichte recherchieren. „Das wird allerdings schwieriger“, räumt er ein, „weil wir damit am Image von Idolen kratzen könnten.“
Aus der eigenen Geschichte lernen „hat bei Hertha BSC – sowohl im Verein als auch bei den Fans – eine neue Agenda gesetzt“, sagt Vosgerau. „Bis dahin war das Thema überhaupt nicht präsent ... Heute ist es Teil unserer Vereinsgeschichte und Identität. Und es hat unter den Hertha-Fans eine Diskussion über Diskriminierung in der heutigen Zeit angestoßen.“
Er fügt hinzu: „Das heißt nicht, dass wir alle Menschen mit begrenzten Weltbildern erreichen können, aber es ist ein Anfang. Es bringt die Menschen zum Nachdenken. Und die Diskussion geht weiter.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.