Obermayer German Jewish History Award
„Ich wollte immer mehr erfahren, mehr tun.“
Elisabeth Böhrer
Sondheim vor der Rhön, Bayern
In ihrer Wohnung, gesteht Elisabeth Böhrer, herrscht ziemliches Chaos. „Überall stapeln sich Papiere; es sieht aus wie bei einem Professor. Ich kann nicht einmal Besuch empfangen, weil ich nur einen Raum habe, in dem man sich hinsetzen kann.“ In Wirklichkeit würde sie es gar nicht anders haben wollen, und der Grund dafür reicht drei Jahrzehnte zurück in eine Zeit, als ihr Zuhause noch deutlich „aufgeräumter“ war.
Als Gästeführerin im unterfränkischen Schweinfurt übernahm sie 1991 die Aufgabe, Dutzende ehemalige jüdische Bürger während der Feierlichkeiten anlässlich des 1200-jährigen Stadtjubiläums durch den Ort zu führen. Zur Vorbereitung auf den Besuch las sie in aller Eile so viel wie möglich zur lokalen jüdischen Geschichte nach. „Aber das Großartige war, die Menschen tatsächlich zu treffen und kennen zu lernen“, erinnert sie sich. „[Ich] empfand sie alle als so freundlich und interessant. Das war damals mein erster Kontakt mit jüdischen Menschen, und ab dem Moment hatte ich eine Verbindung zu ihnen. Das war etwas sehr Persönliches für mich. Ohne diese Begegnung mit den ehemaligen jüdischen Bürgern wäre das alles nicht in Gang gekommen.“
„Das alles“, ausgelöst durch diese ersten Begegnungen, hat sich im Laufe der Zeit zu ihrem Lebenswerk als leidenschaftliche, akribische − und autodidaktische – Lokalhistorikerin entwickelt, die sich der Bewahrung der Geschichte der Landjuden in Unterfranken und der Dokumentation jüdischen Lebens für zukünftige Generationen widmet. Die Papierstapel in ihrer Wohnung bilden ein umfassendes Archiv jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte, aus der Zeit vor dem Holocaust ebenso wie aus früheren Jahrhunderten.
Die bewegenden Familiengeschichten und -erfahrungen ließen Böhrer nicht mehr los, und so reiste sie im Jahr darauf nach New York, um einige Nachfahren jüdischer Bürger von Schweinfurt zu treffen. In der Folgezeit baute sie enge Beziehungen auf und pflegte regelmäßige Briefwechsel mit den Nachfahren. Damals begann sie auch mit der Erstellung von Familienstammbäumen. „Ich habe alles Schritt für Schritt entwickelt, im direkten Austausch. Ich wollte immer mehr erfahren, mehr tun“, sagt sie. Böhrer war unermüdlich in ihren Recherchen. Sie sammelte alte Zeitungsartikel und alles, was sie an Informationen aus der Vorkriegszeit über Schweinfurt finden konnte, wo bis 1933 noch 363 Juden gelebt hatten. Sie lud zahlreiche Nachfahren zu Besuchen in der Stadt ein, führte sie zu den ehemaligen Häusern ihrer Familien und zum Schweinfurter jüdischen Friedhof aus dem 19. Jahrhundert. Dieser war während der NS-Zeit weitgehend von Zerstörungen verschont geblieben, aber man wusste kaum etwas über ihn. Böhrer entschloss sich, das zu ändern.
„Die Grabsteininschriften waren teilweise schwer zu entziffern, und da auf dem Friedhof Menschen verschiedener Religionen begraben waren, musste ich alle Begräbnisse ab 1874 in den Registern durchgehen, um festzustellen, wer jüdisch gewesen war und wer nicht“, erklärt Böhrer. „Es war manchmal sehr kompliziert, herauszufinden, wer unter welchem Grabstein begraben lag, aber es war mir sehr wichtig, den Nachfahren die Gräber ihrer Vorfahren zeigen zu können.“ 2009, nach fünf Jahren sorgfältigster Recherche- und Schreibarbeit, brachte Böhrer ein Buch über den jüdischen Friedhof von Schweinfurt heraus, mit Informationen über mehr als 300 Gräber, die heute auch im JewishGen-Online-Register weltweiter Bestattungen (JOWBR) zu finden sind.
Aber dabei blieb es nicht: Böhrer wollte alles in Erfahrung bringen, was noch über die ehemaligen jüdischen Bürger von Schweinfurt zu finden war, und begab sich in die Tiefen der Archive in der Umgebung und in München. Die Recherchen wurden dadurch erschwert, dass Juden in der Region bis vor 200 Jahren keine Familiennamen verwendeten, sondern nur den „Vatersnamen“, sodass die Namen sich mit jeder Generation änderten. Erst 1811, als die bayerische Regierung die Dorfpfarrer zur Erfassung jüdischer Geburten, Eheschließungen und Sterbedaten verpflichtete, wurden klare Familiendaten verfügbar.
Aber von solchen Hindernissen ließ Böhrer sich nicht abschrecken. Sie wandte sich unter anderem an das Bundesarchiv und machte es zu ihrer Mission, die Namen und Schicksale von 1.500 fränkischen Juden zwischen 1933 und 1945 zu recherchieren.
Darüber hinaus half Böhrer jüdischen Familien auch beim komplexen Prozess der Restitution. „Meine jüdischen Freunde erzählten, dass sie niemals Geld für die Häuser ihrer Verwandten bekommen hätten. Die Restitution war für sie schwierig“, sagt sie. Wenn Böhrer die heutigen Hausbesitzer auf die früheren Eigentumsverhältnisse ansprach, hieß es oft: „Wir mussten zweimal für unser Haus zahlen, einmal beim Kauf und einmal bei der Wiedergutmachung.“ „Ja, ihr musstet zweimal zahlen“, war dann ihre Antwort, „weil ihr beim ersten Mal zu wenig gezahlt habt.“
Die 1953 geborene Böhrer wuchs im nahe gelegenen Bad Kissingen auf, wo ihr Vater eine Bäckerei betrieb. Ihre Mutter erzählte ihr Geschichten über das schreckliche Leiden der Juden unter den Nationalsozialisten, aber ansonsten wusste sie wenig über die jüdische Vergangenheit der Region. Als Älteste von vier Geschwistern arbeitete Böhrer nach dem Abschluss der Realschule als Verwaltungsangestellte für das Landratsamt, bevor sie in Würzburg ihre Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten abschloss. Sie heiratete mit Ende zwanzig und bekam zwei Söhne. Später zog sie nach Schweinfurt, wo sie als Gästeführerin arbeitete und ihre Leidenschaft für die Erforschung der jüdischen Vergangenheit entwickelte.
Seither hat Böhrer zahlreiche faszinierende Geschichten aufgedeckt zu Juden aus der Region Schweinfurt, die weltweit zu großem Einfluss gelangten. Einer von ihnen war Joseph Sachs, dessen Sohn Samuel später der berühmte amerikanische Investment-Banker wurde und Goldman Sachs seinen Namen gab. Böhrer fand heraus, dass Joseph Sachs aus einem nahe gelegenen Dorf stammte, und konnte das Grab seiner Familie lokalisieren.
Dank ihrer Forschungstätigkeit ist heute auch bekannt, dass Großvater und Urgroßvater von Charlotte Knobloch, der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, aus einem Dorf nahe Schweinfurt stammten. Auch für diese Familie erstellte sie einen Familienstammbaum, ebenso wie für Elizabeth Steinberger aus Chapel Hill, North Carolina, USA. Steinbergers Onkel Jack Steinberger wurde 1988 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet, und ihr Großvater Ludwig Steinberger war von 1892 bis 1937 Kantor der Synagoge von Bad Kissingen.
„Es war mir eine große Ehre, den Familienstammbaum für einen Nobelpreisträger erstellen zu dürfen“, sagt Böhrer, die zunächst anlässlich des Stadtjubiläums 1991 Jack Steinbergers Cousine Hilde kennen gelernt hatte und später die Familie bis ins Jahr 1755 zurückverfolgen konnte. „Die Familie hatte schon intensiv nach ihren Wurzeln recherchiert, aber bis dahin hatten sie keine Informationen gefunden. Ich entdeckte, dass ihr Familienstammbaum im Internet falsche Angaben zum Sterbeort von Jacks Urgroßmutter enthielt, und fand heraus, wo ihre Großmutter begraben war. Ich wusste, wo man danach suchen musste.“
Elizabeth Steinberger ist voll des Lobes für Böhrers Fähigkeiten: „Elisabeth ist das Orakel für deutsch-jüdische Geschichte in Bad Kissingen und Umgebung. Was sie nicht weißt, ist vermutlich auch nicht dokumentiert“, sagt Steinberger. „Sie ist eine erfahrene Archivarin und unglaublich sachverständig, was das Aufspüren und Entschlüsseln genealogischer Dokumente angeht. Ihre Kompetenz, ihre messerscharfe Präzision und die Sorgfalt, mit der sie sich ihrer Arbeit widmet, verdienen unseren tiefsten Respekt und größte Dankbarkeit. Ihr unermüdliches Engagement und ihre unendliche Freundlichkeit haben zur Überwindung des jahrzehntelangen Bruchs zwischen Deutschland und seinen ehemaligen jüdischen Bürgern beigetragen.“
In den letzten Jahren hat Böhrer zahlreiche Artikel für das regionale Heimatjahrbuch geschrieben; sie hält Vorträge und leitet Führungen zum Beispiel durch Obbach, ein kleines, ehemals jüdisches Dorf westlich von Schweinfurt, zu dem sie auch Beiträge für eine Chronik geschrieben hat. Daneben deckt sie mit ihrem kritischen Blick für Details auch Fehler in Zeitungsberichten zu Familiengeschichten auf und sorgt für Korrekturen. In ihrem Bemühen um die Aufdeckung und Wiederherstellung der Vergangenheit dreht Böhrer, wenn es sein muss, noch den kleinsten Stein um.
„Viele Menschen verstehen nicht, warum ich das tue. Sie protestieren nicht dagegen, aber sie haben auch kein Verständnis dafür. Aber ich denke, ich muss das machen. Es gibt noch so viel zu tun.“ Ja, ihre Wohnung ist übervoll mit Papieren, aber das ist die Sache wert: „Wenn junge Leute mich fragen, was damals passierte, kann ich es ihnen sagen. Ich glaube, die meisten Menschen wissen gar nicht wirklich, wie das Leben in Deutschland war. Ich bin überzeugt, dass die Arbeit wichtig ist für die jüdischen Menschen, die ihre Heimat verloren haben, und ich sehe ja, wie dankbar sie sind, wenn ich ihnen die Häuser und die Geschichte zeigen kann. Die Arbeit geht weiter. Es ist ein Prozess, der immer weitergeht.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.