Obermayer German Jewish History Award
Brunhilde Stürmer
Niederzissen, Rheinland-Pfalz
Im Jahr 1977 machte sich Brunhilde Stürmer auf die Suche nach alten Fotos von ihrem Heimatort Niederzissen. Viele alte Gebäude waren abgerissen worden, und sie wollte dokumentieren, wie das Dorf früher ausgesehen hatte. Bei ihren Recherchen stellte sie jedoch fest, dass von der alten Synagoge kein Foto zu finden war – Verwandte von ihr hatten das Gebäude 1939 gekauft und nutzten es als Schmiede und später als Werkstatt für Landmaschinen. Neugierig geworden, wandte sie sich an Richard Berger in New York, den Sohn des letzten Vorstehers der jüdischen Gemeinde von Niederzissen, Karl Berger, der in Theresienstadt gestorben war. Das Haus der Familie war nach dem Krieg von Stürmers Verwandten erworben worden. Richard Berger, der den Holocaust im belgischen Untergrund überlebte, antwortete ihr und übersandte ihr fünf Original-Fotografien.
„Ich war zu Tränen gerührt, als dieser Brief ankam“, erinnert sich Brunhilde Stürmer. „Er hatte mir vertraut und schickte mir die wenigen Dinge, die er hatte retten können. Das war so bewegend, dass ich beschloss, das Schicksal der jüdischen Einwohner von Niederzissen zu recherchieren. Ich wollte wissen, welche Familien hier gelebt hatten und wo, also fing ich an, Geschichten zu sammeln. Ich fragte die Menschen im Dorf, was sie wussten. Viele erzählten mir Geschichten über ihre ehemaligen Nachbarn. Aber zu der Zeit wusste ich nicht so ganz genau, was in der NS-Zeit geschehen war und wie systematisch die Juden umgebracht worden waren. Erst als ich 1978 die Filmreihe Holocaust sah, wurde mir das ganze Ausmaß des Geschehens klar. Ich [...] suchte Kontakt zu weiteren Nachfahren überlebender Juden aus Niederzissen. So fing alles an.“
In den vier Jahrzehnten seither hat Brunhilde Stürmer unermüdlich die detaillierten Familiengeschichten der jüdischen Gemeinde von Niederzissen in der Region Ahrweiler in Rheinland-Pfalz recherchiert. Unter anderem hat sie in Zusammenarbeit mit Gerd Friedt aus München die Grabsteine des alten jüdischen Friedhofs der Gemeinde katalogisiert und die Inschriften übersetzt. Sie erstellte eine Karte aller dort bestatteten Menschen und führte Nachfahren zu den Ruhestätten ihrer Vorfahren. Über den Friedhof erschien 2012 das gemeinsam mit Friedt verfasste Buch Seit undenklichen Zeiten... Der jüdische Friedhof in Niederzissen.
Stürmer hat ein weiteres beeindruckendes Ziel erreicht: Sie war Mitinitiatorin einer Gruppe von Bürgern, die sich für den Erwerb und den Umbau der alten Synagoge Niederzissen zu einem heute gut besuchten Ausstellungs- und Veranstaltungsort einsetzte. Und im November 2017 kam ihr in akribischer Detailarbeit verfasstes Buch Ein langer Weg – Die Geschichte der jüdischen Familien der Synagogengemeinde Niederzissen im Brohltal heraus, das in Zusammenarbeit mit Brigitte Decker und mit finanzieller Unterstützung des Fördervereins Ehemalige Synagoge Niederzissen entstand. Das umfassende Werk umspannt mehr als 500 Jahre jüdische Geschichte in der Region und dokumentiert insbesondere alle jüdischen Familien, die dort vom 18. Jahrhundert bis Anfang der 1940er Jahre lebten. „Das Buch enthält sehr interessante und bewegende Geschichten – solche, die den Leser zum Lachen bringen, und andere, bei denen man nur weinen kann“, sagt Brunhilde Stürmer. Zur Vorstellung des Buches in der Synagoge kamen 26 Verwandte ehemaliger jüdischer Bürger aus Mexiko, den USA, Israel, den Niederlanden und Deutschland. Durch ihr leidenschaftliches und beharrliches Engagement für die Dokumentation der jüdischen Vergangenheit der Gemeinde sind enge Verbindungen zu den Nachfahren entstanden, für die sie die Geschichte ihrer Familien wieder lebendig gemacht hat.
Miguel und Betty Schwarz aus San Pedro, Mexiko – Nachfahren von Niederzissener Juden – sagen zu Brunhilde Stürmer: „In der Genauigkeit ihrer Arbeit spüren wir ihre Liebe und Mitgefühl. Wir sind überzeugt, dass sie mit ihrem Werk Herausragendes zur Bewahrung und Wiederherstellung des deutschen Judentums leistet – ein wichtiger Beitrag für Juden in aller Welt und unerlässlich für die Geschichte Deutschlands.“
1943 geboren, war Brunhilde Stürmer noch kein Jahr alt, als ihr Vater, ein Wehrmachtssoldat, an der russischen Front starb. Nach Krankheit und Tod ihrer Mutter im Jahr 1948 wurde zunächst eine Tante mit ihrer Erziehung betraut; nach deren Tod im Jahr 1950 wuchs sie bei ihrer Großmutter und einer anderen Familie auf. Nach dem Abschluss der Handelsschule arbeitete sie als Buchhalterin, später im Betrieb ihres Mannes, den sie im Alter von 20 Jahren heiratete und mit dem sie drei Kinder bekam.
In ihrer Jugend hatte Brunhilde Stürmer kaum etwas über die Synagogengemeinde von Niederzissen erfahren, die in den 1930er Jahren über 100 Mitglieder hatte. Erst als sie sich mit der Geschichte des Ortes zu beschäftigen begann, entdeckte sie ihr Interesse an der jüdischen Vergangenheit. Schon Ende der 1970er Jahre begann sie, alte Artefakte vom Dachboden der ehemaligen Synagoge zu bergen und zu archivieren – Bücher, Papiere, Textilien und andere religiöse Objekte. „Alles war erhalten, viele Materialien waren noch da, sogar Beschneidungstücher“, erinnert sie sich. „Da waren nicht nur religiöse Gegenstände, sondern auch 200 oder 300 Jahre alte Papiere mit Details zu Viehkäufen, der Vergabe von Krediten, jüdischen Eheverträgen – ganz unterschiedliche Dokumente. Es war ein wahrer Schatz.“
2007 war Brunhilde Stürmer Mitbegründerin des Kultur- und Heimatvereins Niederzissen, der sich für den Erwerb und die Wiederherstellung des alten Synagogengebäudes einsetzte und den Gemeinderat der Ortsgemeinde überzeugen konnte, das Gebäude nach jahrelangem Leerstand zu erwerben. Nach umfangreichen Renovierungsarbeiten konnte schließlich im Jahr 2012 die Eröffnung der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Ehemalige Synagoge Niederzissen gefeiert werden, an der auf Einladung des Vereins auch Nachkommen ehemaliger jüdischer Niederzissener aus den USA und Israel teilnahmen.
„Die Wiederherstellung und Rekonstruktion der Niederzissener Synagoge war eine beeindruckende Leistung und ist ein Beleg für das enorme Ausmaß an Engagement, Ausdauer, Sensibilität und Kompetenz von Frau Stürmer“, sagt Harold Levie aus Amsterdam, dessen Großmutter Mathilde Berger in Niederzissen geboren wurde und den Krieg in Holland überlebte.
Harvey Berger aus San Diego, Kalifornien, USA, fügt hinzu: „Dass es die Synagoge heute noch gibt, ist nur Brunhilde Stürmer zu verdanken. Die Geschichte dieser jüdischen Familien wäre ohne ihr unglaubliches Engagement im Nebel der Vergangenheit untergegangen. Sie hat meine Familie, die aus der deutschen Geschichte verschwunden war, wieder zum Leben erweckt.“
„Als ich jung war, verstand ich nicht, was damals geschehen war. Auch deshalb war es sehr wichtig für mich, diesen Teil der Geschichte zu zeigen und daran zu erinnern“, sagt Brunhilde Stürmer. „Ich bin froh, dass heute viele Schüler in unsere Synagoge kommen und einen Blick in die Vergangenheit werfen können. Geschichte ist für sie oft so abstrakt, dass es nicht einfach ist, den Kindern ein Gefühl dafür zu vermitteln. Aber in unserer Synagoge sehen sie die Biografien, die Fotos, viele Erinnerungsstücke, und das macht es leichter, nachzuvollziehen und nachzufühlen, was damals geschah und was auch wir durch den Tod oder die Zwangsemigration all der jüdischen Menschen verloren haben. Das ist ein Teil unserer Geschichte, und deshalb ist es so wichtig, dass die Menschen diese Vergangenheit kennen.“
Brunhilde Stürmer ist heute 74 Jahre alt, sieht aber keine Veranlassung, in irgendeiner Weise kürzer zu treten: Für sie ist besonders wichtig, „dass unsere Jugend erfährt, was damals geschehen ist, und versteht, wie verletzlich die Demokratie ist. Sie ist es, die dafür Sorge tragen muss, dass so etwas nie wieder geschehen darf, und dabei wollen wir helfen.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.