Obermayer German Jewish History Award
Wolfgang Battermann
Petershagen, Nordrhein-Westfalen
Schon während seiner Schulzeit begann Wolfgang Battermann sich intensiv mit Judentum und Antisemitismus zu beschäftigen. Heute blickt der 65-jährige pensionierte Gymnasiallehrer auf mehrere Jahrzehnte erfolgreicher Arbeit zurück. Dazu zählt der Erhalt der ehemaligen Synagoge und der jüdischen Schule in seiner Heimatstadt Petershagen ebenso wie die Schaffung eines Informations- und Dokumentationszentrums zur jüdischen Lokal- und Regionalgeschichte, die Bewahrung der Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Mitbürger und der Kampf gegen den heutigen Antisemitismus.
Aber wie kommt ein Kind, das im Nachkriegsdeutschland aufwächst, überhaupt dazu, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen? Das ist vermutlich einer Kombination aus Veranlagung und Umfeld zu verdanken.
Wolfgang Battermann wuchs im nordrheinwestfälischen Minden auf und war den gleichen Einflüssen ausgesetzt wie seine ganze Generation. 1961, im Alter von 14 Jahren, verfolgte er wie Millionen andere die Fernsehübertragung des Adolf-Eichmann-Prozesses in Israel und wurde mit den personifizierten deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Danach begann er sich mit dem Schweigen und der defensiven Haltung gegenüber der NS-Zeit auseinanderzusetzen, die er bei der Generation seiner Eltern und Großeltern wahrnahm. „Als ich als Kind Geschäftsleute in Minden fragte, wo die Juden, zum Beispiel Kaufmann Lewkonja, wären, sagten sie nur: ,Tja, die sind nicht mehr da.‘ Auf meine Nachfrage hin, sie hätten doch wissen müssen, wo sie wären, bekam ich nur zur Antwort: ,Nein, sie waren einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden.‘“
Seine Eltern sprachen vom Krieg nur in militärischen Begriffen – Siege und Niederlagen. Zum Schicksal ihrer jüdischen Nachbarn wiederholten sie den immer gleichen Satz: „Nein, wir haben nichts gewusst.“ Nach dem Eichmann-Prozess „verlangten wir Antworten, bekamen aber keine“, erklärt Battermann die damalige Situation seiner Generation. „Ich war 14, wurde 15, und beschloss, die Antworten eben selbst zu suchen, wenn man nicht bereit war, sie mir zu geben, sondern auswich und abwehrte.“
Angeregt durch seinen Lehrer, den inzwischen verstorbenen Hans-Jürgen Rathert, der später Bürgermeister von Minden wurde, wählte Battermann Judentum und Antisemitismus als Themen für seine Abschlussprüfung. Später folgte er seinem Mentor auf dem Berufsweg und wurde Lehrer in Petershagen. Dort stieß er eines Tages auf die ehemalige Synagoge, ein 1845/46 errichtetes Gebäude, das kaum noch als Gebetshaus zu erkennen war. Die Synagoge stand kurz vor dem Zerfall, als Battermann sie 1978 zum ersten Mal zusammen mit Professor Dr. Arno Herzig aus Hamburg besichtigte.
Zu ihrer Hoch-Zeit um 1866 hatte die jüdische Gemeinde 90 Mitglieder (5 % von damals 1.800 Einwohnern); 1933 waren es nur noch 43. Die Synagoge wurde in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 schwer beschädigt, aber nicht gänzlich zerstört. Nach 1945 wurde sie als Lager genutzt, über viele Jahre vernachlässigt und schließlich komplett vergessen – ebenso wie die benachbarte ehemalige jüdische Schule, die zu Wohnungen umgebaut wurde.
Battermann machte sich daran, diese Gebäude und ihre Geschichte vor dem Vergessen zu retten. Jahrelang kämpfte er um öffentliche Unterstützung, doch selbst anlässlich des 1200sten Geburtstags der Stadt Petershagen im Jahr 1984 fehlte dazu noch die Bereitschaft im Ort. Erst 1988 gelang es Battermann und seinen Unterstützern, die er in breiten Kreisen suchte und fand – darunter Freunde, Politiker, Denkmalschützer –, die Synagoge unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Bis 1997 gewannen sie schließlich auf Landes-, Kreis- und Gemeindeebene Unterstützung für Restaurierung und Erhalt der Synagoge, die die Stadt 1998 kaufte. 2001 konnte der Abschluss der Restaurierungsarbeiten mit einem feierlichen Festakt begangen werden.
2003 weihte der Verein das Informations- und Dokumentationszentrum mit einer Ausstellung zur mehr als 450 Jahre zurückreichenden jüdischen Lokal- und Regionalgeschichte ein. Heute organisiert Battermann nicht nur ehrenamtliche Unterstützung für Besucher, sondern leitet auch selbst Führungen. Er ist Co-Autor des Buches Alte Synagoge Petershagen – Menschen – Spuren – Wege, das 2004 als historisches Jahrbuch der Stadt Petershagen erschien.
Doch Battermann geht es nicht nur um die Vergangenheit. So engagiert er sich in einer Gruppe gegen Antisemitismus, die unter anderem dafür sorgte, dass der Name des antisemitischen deutschen Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909) von einem örtlichen Gemeindehaus entfernt wurde.
Battermann holte auch das Projekt der „Stolpersteine“ nach Petershagen, das 1995 durch den Kölner Künstler Gunter Demnig ins Leben gerufen wurde. Demnig gehörte im Jahr 2005 zu den Preisträgern der Obermayer German Jewish History Awards (http://www.obermayer.us/award/awardees/demnig-ger.htm). Im Jahr 2007 gründete Battermann den Arbeitskreis Stolpersteine Petershagen, und 2009 konnte er selbst den ersten von 29 Stolpersteinen in seiner Stadt verlegen.
Heute setzen sich die preisgekrönte Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen mit ihren 70 Mitgliedern sowie der Trägerkreis Ehemalige Synagoge Petershagen, der auch Fördermittel der NRW-Stiftung erhält, weiter für den Erhalt der alten Synagoge, der ehemaligen jüdischen Schule und anderer Stätten jüdischen Vermächtnisses ein. Das Synagogengebäude dient als Gedenk- und Informationsstätte sowie als Veranstaltungsort für Konzerte, Vorträge und andere Programme mit Bezug zur jüdischen Vergangenheit und Gegenwart. Jedes Jahr besuchen an die 2.000 Menschen die Synagoge.
Battermann hofft, dass die Synagoge schließlich zu einem „Lernort“ wird, an dem die Menschen sich über die Lokalgeschichte informieren, und zu einer „Brücke zu den Menschen, die an diesem Ort gelebt haben, dessen Bürger sie waren und trotzdem entsetzliches Leid erfuhren und bis auf drei alle ermordet wurden.“
All diese Projekte laufen in einer Grundüberzeugung zusammen: Battermann möchte „den ermordeten jüdischen Mitbürgern [ihre] Namen zurückgeben“, erklärt Harald Scheurenberg, Vorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde in Minden, der Battermann für die Obermayer Awards vorgeschlagen hat und dessen verstorbener Vater Kurt Scheurenberg unter den wenigen Überlebenden war, die nach Petershagen zurückkehrten. Für Battermann gehört die Begegnung mit Petershäger Juden wie Kurt Scheurenberg, der 2011 im Alter von 90 Jahren starb, zu den bewegendsten Momenten.
Battermann erinnert sich auch noch sehr gut daran, wie er als 13-Jähriger Fußballjunge mit den Überlebenden Max Ingberg und Emil Samuel ins Gespräch kam, die oft im Vereinsraum saßen und Karten spielten. Die zwei Männer setzten sich beharrlich für den Wiederaufbau einer Synagoge in Minden ein und gründeten eine Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Die Begegnung hat Battermann nie vergessen, und ihr Engagement inspiriert ihn noch heute.
„Wenn ich sehe, wie aktiv der Rechtsextremismus in Deutschland immer noch ist, gerade auch in meiner Heimatregion, weiß ich, dass ich weitermachen muss“, so Battermann. „Ich möchte den Petershägern und Besuchern verdeutlichen, dass diese Juden Bürger unserer Stadt waren. Es geht nicht darum, ein Museum zu bauen, sondern einen authentischen Lehr- und Lernort zu schaffen, an dem die Erinnerung an diese Menschen wachgehalten wird.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.