Obermayer German Jewish History Award

Walter Demandt und Almut Holler

Norden und Hage, Niedersachsen

Almut Holler und Walter Demandt, heute Co-Vorsitzende und Vorsitzender des Ökumenischen Arbeitskreises Synagogenweg Norden e.V. kamen auf ganz unterschiedlichen Lebenswegen in den ostfriesischen Ort, bevor die gemeinsame Leidenschaft für die Wiederbelebung der 400-jährigen jüdischen Vergangenheit der Stadt sie zusammenführte.

Für die pensionierte Pastorin Holler, die 1943 in Berlin geboren wurde, war Das Tagebuch der Anne Frank, das sie als Schulkind las, so etwas wie eine Initialzündung für ihr historisches Interesse. Im Alter von 20 Jahren entdeckte sie Spuren einer jüdischen Gemeinde und eines jüdischen Friedhofes in der kleinen Stadt nahe Bremen, in der sie aufwuchs. Aber „die Menschen der älteren Generation erzählten nichts darüber, es gab kaum Details und Informationen. [Später] wurde mir klar, dass es nötig sein würde, über Geschichte und Politik zu sprechen.“

Der pensionierte Lehrer Demandt, 1944 in einem Dorf im nordrhein-westfälischen Siegerland geboren, „erfuhr in der Schule erst spät etwas über den Holocaust. Umso mehr haben mich die ersten Auschwitzprozesse der 60er Jahre schockiert.“ Nach seinem Umzug nach Norden im Jahr 1973 unterrichtete er am ältesten Gymnasium der Stadt Französisch und Religion. Holler, die während ihres Theologie-Studiums biblisches Hebräisch, Griechisch und Latein gelernt hatte, arbeitete inzwischen als Pastorin in einer evangelischen Kirche der Stadt. Die beiden trafen sich schließlich in den 1980er Jahren über die von Lina und Hans-Gerhard Gödeken in Norden gegründete Arbeitsgruppe, und widmen sich seitdem der Wiederbelebung der Erinnerung an die 250 Juden, die vor dem Krieg in Norden gelebt hatten und von denen die Hälfte den Holocaust nicht überlebte.

„Beim Erzählen ist es wichtig, genau diesen Platz zu kennzeichnen, dieses Haus, dieses Detail – nicht nur das Übergeordnete und Allgemeine, sondern das, was vor Ort geschah. Geschichte lebt von konkreter Anschauung, und diese Geschichte ist jeden Tag präsent. In meiner Generation ist die Geschichte noch sehr nah“, sagt Holler. Gemeinsam mit Demandt hat sie Führungen über den jüdischen Friedhof und zu jüdischen Stätten in Norden geleitet, Veranstaltungen mit Jugendlichen zum Holocaust durchgeführt, eine Website zur jüdischen Geschichte der Stadt aufgebaut und die Verlegung von um die 80 Stolpersteinen vor den Häusern ehemaliger jüdischer Bürger initiiert (30 weitere sind für 2016 geplant).

1987 sammelte Lina Gödeken, Begründerin des Arbeitskreises, Gelder für die Errichtung einer Gedenkstätte am ehemaligen Standort der Norder Synagoge, die in der Pogromnacht niedergebrannt wurde. Im gleichen Jahr fand die erste „Woche der Begegnung“ statt, zu der Holocaust-Überlebende nach Norden eingeladen wurden, an ihren Heimatort zurückzukehren und mit den heutigen Bürgern ins Gespräch zu kommen. „Es war für mich eine sehr emotionale Woche, voller Begegnungen mit Menschen, die den Holocaust überlebt hatten“, erinnert sich Demandt, „und seit diesem Zeitpunkt war für mich klar, dass ich mich mit meiner Arbeit auf diese Aufgabe der Erinnerung konzentrieren würde.“

Seither haben Holler und Demandt sich vielfältig engagiert: So unterstützten sie auf Nordens altem jüdischen Friedhof, der bis ins Jahr 1569 zurückreicht, einen Sammelgrabstein mit den Namen der letzten verstorbenen und begrabenen Juden in Norden, für die kein Grabstein mehr gesetzt werden konnte. Darüber hinaus errichteten sie mit dem Arbeitskreis ein Mahnmal auf dem Friedhof zu Ehren der um die 200 Norder Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen.

Für Demandt, zeitlebens in der evangelischen Kirche aktiv, war eine zehntägige Klassenfahrt nach Israel ein besonderes Schlüsselerlebnis, das das biblische Land seiner Studien auf ganz neue Weise lebendig werden ließ. „Der christliche Glaube ist ohne seinen Ursprung in der jüdischen Geschichte nicht zu verstehen – im Judentum liegen seine Wurzeln“, so Demandt, der auch durch jüdische Philosophen wie Martin Buber und Shalom Ben Chorin oder den orthodoxen Theologen Pinchas Lapide inspiriert wurde, „weil sie jüdische Denker waren, die sich im Neuen Testament bestens auskannten und den jüdisch-christlichen Dialog gefördert haben.“

Im Jahr 2000 regte Lina Gödeken mit ihrem Buch Rund um die Synagoge in Norden die Arbeitsgruppe um Demandt und Holler dazu an, mit ihrer Arbeit einen Schritt weiter zu gehen. Sie initiierte eine Gedenktafel am Geburtsort der deutschjüdischen Widerstandskämpferin Recha Freier, die 1933 die Kinder- und Jugend-Alijah gründete. Die Organisation rettete um die 10.000 Juden – darunter auch vier junge Juden aus Norden – vor der Vernichtung durch den Holocaust, indem sie die Emigration nach Palästina ermöglichte. Es ist dem Arbeitskreis mit Holler und Demandt zu verdanken, dass ein Platz in Norden in Recha-Freier-Platz umbenannt wurde.

Die beiden haben zahlreiche Ausstellungen zur jüdischen Geschichte in Norden organisiert, darunter im Jahr 2013 ein Projekt unter dem Titel Land der Entdeckungen – Reise ins jüdische Ostfriesland. Gezeigt wurden detaillierte jüdische Familiengeschichten sowie zahlreiche Fotos, Dokumente und weitere Objekte. Derzeit entsteht eine Sammlung zum jüdischen Alltagsleben in Norden für eine Dauerausstellung, für die sie auf die Nutzung der ehemaligen jüdischen Schule hoffen. Dort soll ein Lernort und Dokumentationszentrum eingerichtet werden, in dem auch ein Archiv, weitere Ausstellungen und Seminare zur jüdischen Vergangenheit der Stadt Platz finden würden.

Jack de Loewe und Claudia de Levie aus Israel würdigen Hollers gewissenhafte Arbeit „die gegen das Vergessen kämpft. Sie gibt den Opfern, den verfolgten und ermordeten jüdischen Bürgern von Norden, Name und Gesicht zurück und vermittelt den Nachfahren Informationen zur Geschichte ihrer Familien“ auf Basis akribischer genealogischer Recherchen in Archiven und Registern. „Almut lernte Hebräisch, um die Inschriften auf dem jüdischen Friedhof übersetzen und verstehen zu können. In Führungen und Vorträgen vermittelt sie Kindern wie Erwachsenen die jüdische Vergangenheit der Region und erklärt, wie wichtig es ist, Antisemitismus, Unterdrückung und Intoleranz vorzubeugen.“

Demandt ist hoch motiviert für die Fortsetzung seiner Arbeit, weil „wir sehen, dass es immer noch Antisemitismus in Deutschland gibt; er lebt, und deshalb ist es sehr wichtig und notwendig, darüber mit den jungen Menschen zu sprechen. In den Schulen erleben wir, dass die Jugendlichen über diese Vergangenheit sprechen möchten. Sie wollen verhindern, dass der Schrecken des Holocaust sich wiederholt. Sie reagieren sehr positiv, und das ist für uns eine große Ermutigung. Aber es ist eine Aufgabe, die niemals endet: Wir müssen all diese Themen auch in Zukunft vermitteln.“

Holler ergänzt: „Wir müssen aufmerksam bleiben, jetzt und in Zukunft, und uns der Geschichte bewusst sein – und den jüngeren Generationen Informationen über die Menschen und die lange Geschichte ihrer jüdischen Nachbarn vermitteln. Juden fragen mich nach ihren Familien, und ich kann ihnen viele Details erzählen – mehr, als sie je zuvor gewusst hatten. Es ist eine intensive Arbeit, aber ich kann nicht damit aufhören. Das ist jetzt mein Leben.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.