Obermayer German Jewish History Award

Thilo Figaj

Lorsch, Hessen

Vor etwa zehn Jahren stieß der Kosmetikhersteller Thilo Figaj auf ein Buch zur Nachkriegsgeschichte mit einem Kapitel über seine hessische Heimatstadt Lorsch. Schockiert stellte er fest, dass darin kein Wort zum berüchtigtsten Sohn der Stadt zu finden war: Heinz Jost, ein führender SS Kommandeur im Reichssicherheitshauptamt, der direkt Reinhard Heydrich unterstellt gewesen war und bei den Nürnberger Prozessen für die Beaufsichtigung des Mordes an hunderttausenden Juden in der ehemaligen Sowjetunion angeklagt wurde. Dass Jost, der dieselbe Schule wie Figaj besucht und in demselben Verein Fußball gespielt hatte, keinerlei Erwähnung in diesem Buch fand, war für Figaj zutiefst verstörend: „Das Buch sagte nicht die ganze Wahrheit, und so beschloss ich, zu diesem Mann zu recherchieren, über ihn zu schreiben und die Wahrheit ans Licht zu bringen“, erzählt er.

Figaj besuchte für seine umfassenden Recherchen unter anderem Archive in Riga und Berlin und publizierte einen zweiteiligen Artikel über die von Jost begangenen Verbrechen an dem gleichen Tag – 10. März 1942 –, an dem die Lorscher Juden in die Todeslager deportiert wurden. Das Buch ist nach wie vor in Arbeit, aber zwischenzeitlich hat Figaj die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Lorsch bis in den Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgt – ein Vermächtnis, von dem bis dato niemand etwas geahnt hatte und das den einstigen Bürgern der Stadt ihre Identität zurückgibt, so Figaj:

„Man hört alles Mögliche über die 1250-jährige Geschichte von Lorsch, aber ein wichtiger Teil – die jüdische Geschichte – bleibt ausgeblendet. Die Juden haben Lorsch genauso aufgebaut wie andere, [und diese] jüdische Geschichte gehört zu Lorsch. Wenn man den Hintergrund der jüdischen Familien ,vergisst‘, die im vergangenen Jahrhundert in der Stadt ausgelöscht wurden, fehlt die ganze Geschichte – und man kann die Geschichte des 19., 18. und 17. Jahrhunderts mit all ihren interessanten Begebenheiten und Menschen nicht erzählen, weil das eigene Haus nicht ordentlich bestellt ist. Gleichzeitig verlieren Sie auch ein Stück Ihrer eigenen deutschen Identität.“

Der 1956 nahe Osnabrück geborene Figaj wuchs in Köln auf, lebte später kurz in Bayern und zog schließlich in die mittelalterliche oberrheinische Stadt Lorsch rund 50 Kilometer südlich von Frankfurt. Figaj’s erste persönliche Berührung mit der jüdischen Geschichte geht auf seine Zeit bei einem Pharmaunternehmen in Mannheim zurück. Damals hatte er eine jüdische Freundin, deren Mutter in Verstecken in Mannheim während des Krieges „eine Art Anne-Frank-Geschichte“ erlebt hatte und deren Vater das Konzentrationslager Dachau überlebte. In den 1980er Jahren kaufte Figaj zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder das Unternehmen Lady Esther Kosmetik, eine einst führende US-Marke. Danach durchforstete er mit wachsendem Interesse die Unternehmensakten. „Ich ging der Familiengeschichte nach. Dabei fand ich heraus, dass es sich um Juden handelte, die schon im Jahr 1905 oder noch früher aus Russland gekommen waren, und ich kontaktierte die Familie“, erzählt er. Daraufhin „begann ich mich umfassend zu informieren, ich erfuhr immer mehr über Juden und die Geschichte, und ich nahm alles auf, was ich über die NS-Diktatur und unsere Geschichte des 20. Jahrhunderts herausfinden konnte.“

Im Jahr 2011, als Stadtverordneter von Lorsch, setzte Figaj sich dafür ein, in der Stadt ein Mahnmal zum Gedenken an mehrere Dutzend Lorscher Juden, die während des Holocaust deportiert worden waren, wiederherzustellen und zu erweitern. Gegen den Widerstand örtlicher Politiker, erinnert sich Figaj, „beschloss ich im Stillen, dass ich den Menschen die Geschichte der Juden von Lorsch erzählen würde.“ Gleichzeitig entzündete sich ein Streit an der Frage, ob Stolpersteine verlegt werden sollten. Einige Mitglieder der Mehrheitsfraktion in der Stadtverordnetenversammlung von Lorsch lehnten dies mit der Begründung ab, dass es respektlos sei, die Namen der Toten mit Füßen zu treten. (Das gleiche Argument wird noch heute in München angebracht, wo mehr als 4.000 Stolpersteine gelagert werden, weil die Stadt sich weigert, sie in den Straßen zu verlegen.) Aber Figaj ließ sich nicht beirren. Er trat dem örtlichen Heimat- und Kulturverein bei und wurde in dessen Vorstand gewählt. Im Jahr 2013 wurde sein Engagement schließlich belohnt und die ersten 11 Stolpersteine für zwei jüdische Familien wurden in Lorsch verlegt. Im März 2017 sollen die nächsten 12 folgen.

Aber das war noch nicht alles: Figaj initiierte die Umbenennung einer Gasse in der Lorscher Innenstadt in „Süsskindgasse“, zu Ehren von Abraham Süsskind, einem berühmten jüdischen Händler in der Stadt des 19. Jahrhunderts. Er hält weiterhin Vorträge und Powerpoint-Präsentationen in Lorsch und umliegenden Gemeinden, für die er auch Musik und Fotografie nutzt, um den Menschen der Region ihre Vergangenheit nahezubringen. Zu seinen Publikationen gehört ein privat für aus Lorsch stammende jüdische Familien herausgegebenes Photo Album of Jewish Families from Lorsch (das „Fotoalbum jüdischer Familien“ erscheint im Januar 2017 auch auf Deutsch), sowie zahlreiche Artikel, beispielsweise Das Ende einer Jüdischen Gemeinde in Südhessen, der die letzten Tage und die Deportation der letzten Juden aus Lorsch beschreibt, sowie ein englischsprachiger Aufsatz aus dem Jahr 2015: Debating Jewish History in Lorsch and Commemorative Work After the War (Diskussion zur jüdischen Geschichte in Lorsch und Erinnerungsarbeit nach dem Krieg). Einer seiner Artikel dokumentiert den Brand in der Lorscher Synagoge in der Reichspogromnacht. Der Gemeinderat ließ das Gebäude daraufhin abreißen und machte gegenüber den noch in der Stadt verbliebenen Juden (zumeist Frauen, da viele Männer verhaftet worden waren, um Ausreiseeinwilligungen zu erzwingen) Forderungen auf, deren Einzelsummen die echten Abrisskosten von 1.150 Reichsmark bei weitem übertrafen. In einem Fall kam es nach dem Krieg zu einer Entschädigungsforderung, die jedoch abgelehnt wurde.

Figaj’s Recherchen, Schriften und Präsentationen sind „beeindruckend, aufschlussreich und lebensverändernd“, sagt Elaine Kahn aus West Chester, Pennsylvania, USA, deren Familie großmütterlicherseits 200 Jahre in Lorsch lebte. „Figaj beherrscht die Kunst eines Geschichtenerzählers, der seine Arbeit auf anschaulichste Weise präsentiert, und ich glaube, dass sein Werk im Laufe der Zeit noch an Einfluss gewinnen wird. Er hat sich zum Ziel gesetzt, all die schwierigen Geschichten und Fakten aufzudecken, die noch unter einer Decke der nationalen Schande ruhen und die viele nicht bereit sind endgültig aufzudecken.“

Zu den Lorscher Juden, deren Geschichten dokumentiert wurden, gehören die Großmutter der Marx Brothers, Julius Krakauer, der Komponist und Gründer von Krakauer Brothers Pianos in New York, und die vielleicht bekannteste Lorscher Familie, die Morgenthau-Dynastie. Im März 2016 besuchte Figaj Robert Morgenthau in New York. Während dieser Reise hielt er in Pasadena einen öffentlichen Vortrag über die geschäftlichen Anfänge von Lazarus Morgenthau, dessen profitable Zigarrenfabrik in Lorsch der Familie die Emigration in die USA in den 1860er Jahren ermöglichte.

Während der abschließenden Arbeiten an seinem Buch über Heinz Jost traf Figaj Nachfahren Lorscher Juden und Überlebende des Holocaust, die ihm geholfen haben, eine wahre Fundgrube an Geschichten und Material zur jüdischen Vergangenheit der Stadt zusammenzutragen. „Der persönliche Kontakt zu den Menschen hat so viel mehr Information hervorgebracht, als ich je erwarten konnte“, sagt Figaj, der unermüdlich an der Entzifferung und Transkription in altdeutscher Schrift verfasster Briefe arbeitet, die oft extrem schwer zu verstehen ist. „Wir, die Enkelgeneration, öffnen unsere Schubladen und finden Dinge, die wir manchmal gar nicht finden möchten und von denen wir gar nicht wussten, dass sie existieren. Man dringt einfach immer tiefer und tiefer in die Geschichten ein. Ich würde sagen, dass ich heute jeden Juden ,kenne‘, der seit dem Dreißigjährigen Krieg in Lorsch gelebt hat.“

Heute ist Figaj Mitorganisator der jährlichen Gedenkfeier anlässlich der Reichspogromnacht, die in den letzten Jahren eine wachsende Zahl von Menschen anzieht. Früher kamen um die 50 Personen, aber „heute besuchen selbst an regnerischen Novemberabenden mehr als 200 Menschen die Gedenkfeier“, sagt er. Im Frühjahr 2017 unterstützt Figaj die Lorscher Station der Wanderausstellung Legalisierter Raub des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt und des Hessischen Rundfunks, die seit 2001 an wechselnden Orten die Rolle der Finanzbehörden bei der Enteignung von Juden während des Holocaust beleuchtet. Die Ausstellung wird drei Monate lang im Lorscher Stadtmuseum zu sehen sein.

Figaj erinnert sich an einen Satz des Bürgermeisters der Stadt: „Sie können uns die Geschichte erzählen, aber ich höre lieber den guten und positiven Teil der Geschichte“, worauf Figaj antwortete: „Geschichte ist niemals positiv oder negativ. Es ist einfach Geschichte.“ Heute, so Figaj, „erkennen [die Deutschen] so langsam, dass die Errungenschaften ihrer jüdischen Mitbürger Teil der Geschichte ihrer Stadt und Teil der deutschen Geschichte sind, und dass sie stolz darauf sein können.“

 
 

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