Obermayer German Jewish History Award
Steffen Pross
Ludwigsburg, Baden-Württemberg
Am Morgen des 4. Oktober 2007 machte Steffen Pross auf dem jüdischen Friedhof von Freudental, einer Gemeinde nahe Stuttgart, eine schockierende Entdeckung: In der Nacht zuvor hatten Neonazis Grabsteine umgestürzt und Dutzende von ihnen mit Hakenkreuzen beschmiert. „Es war schrecklich, wirklich schrecklich“, erzählt Pross. Für den Journalisten, der schon seit Jahren daran gedacht hatte, über die deutsch-jüdische Geschichte zu schreiben, „war dies der Moment, in dem ich es tun musste.“
Während seiner Tätigkeit als Journalist und Redakteur für die Ludwigsburger Kreiszeitung führte Pross Recherchen zu den ungefähr 50 Juden durch, die bis 1933 von Freudental in größere Orte gezogen waren, und widmete sich dem Schicksal ihrer Angehörigen und Nachfahren. Auch die Bewahrung und Wiederbelebung der Erinnerung an die Freudentaler Juden, die in Konzentrationslagern starben, ist Pross ein Anliegen. So erzählt er die Geschichten „der ,einfachen jüdischen Bürger‘ in biographischer Form auf Basis von Recherchen zu ihrem Leben, ihren Briefen, was immer ich finden konnte – wobei einem Viehhändler genauso viel Respekt zuteilwird, wie es bei einer berühmten Person der Fall wäre.“
Seine Forschungsarbeit führte Pross von Stuttgart über Karlsruhe und Auschwitz bis nach Yad Vashem in Israel oder zur niederländischen Datenbank Community Joods Monument. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so lange in den Archiven aufhalten könnte“, so Pross, dessen Biographien jüdischer Bürger buchstäblich durch die ganze Welt führen, von Haifa bis Detroit, Buenos Aires bis San Francisco, Paris bis Auckland. Pross hat drei Bücher über die jüdische Vergangenheit Freudentals verfasst: Eine Chronik zur Reichspogromnacht unter dem Titel „Freudental ‘38“ und ein zweibändiges, 550 Seiten umfassendes „Adressbuch“ mit akribisch zusammengetragenen Details zu den ehemaligen jüdischen Familien dieses Dorfes in Baden-Württemberg.
„Wenn man [heute] durch Freudental spaziert und vor den Häusern stehen bleibt, kann man die Geschichte der Menschen lesen, die früher dort gelebt haben.“ Mit seiner genealogischen Karte des Ortes zeigt Pross am Beispiel des Mikrokosmos Freudental – dessen jüdische Einwohner unter anderem in Auschwitz, Theresienstadt, Treblinka, Sobibor, Dachau und Buchenwald ermordet wurden –, was in Landgemeinden in ganz Deutschland zu der Zeit geschah.
„Es war mir wichtig, über dieses wichtigste [Kapitel] in der Geschichte dieses Landes zu berichten. Es ist eine Frage der moralischen Qualität unserer Demokratie, über unsere Geschichte zu reden, nicht nur in Phrasen und Ritualen, sondern in der konkreten Auseinandersetzung mit den Verbrechen von damals und einem klaren Blick auf die Geschehnisse“, so Pross. „Alles, was während der Judenverfolgung in Deutschland geschah, fand auch in Freudental statt. Wenn Sie die Geschichte der Menschen kennen, die in Freudental lebten, und ihr Schicksal verfolgen, wissen Sie im Grunde alles über das, was den Juden in Deutschland angetan wurde – bis zum Moment der Deportation. Wenn, wie im Falle Freudentals, alle Deportierten ermordet wurden, endet damit die Möglichkeit, individuelle Geschichten zu erzählen. Wir wissen dann nur noch Ort und Datum der Ermordung – und oft noch nicht einmal das.“
Pross wurde 1957 geboren und wuchs in einem kleinen Dorf im Schwarzwald auf. Seine Großeltern waren eng mit der jüdischen Familie Friedman befreundet gewesen und hatten ihnen geholfen, den Krieg zu überleben. Die Familie emigrierte in die USA und griff Pross’ Großvater in den Nachkriegsjahren wirtschaftlich unter die Arme. Mit 16 reiste Pross nach New York und verbrachte vier Wochen bei den Friedmans, die im deutsch-jüdischen geprägten Ortsteil Washington Heights lebten, wo „mir bewusst wurde, dass ich Deutscher bin“, erinnert er sich, „und dass ich mich mit dieser Geschichte auseinandersetzen musste, die nicht einfach ist.“
Im darauffolgenden Jahr besuchte Pross seinen Freund Alan Friedman in London. Aus diesem Bezug zur Stadt und dem Kontakt zu Rabbi Albert Friedlander entstand später die Idee zu Stadtführungen mit dem Fokus auf der Geschichte deutsch-jüdischer Emigranten in der englischen Hauptstadt. Auch die Grundlage für das erste Buch, In London treffen wir uns wieder, geht auf diese Zeit zurück.
Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte in Heidelberg und Berlin arbeitete Pross zunächst als Radiojournalist in Bremen. Nach einer Station in Stuttgart lebt Pross heute mit seiner Frau und seinem 13-jährigen Sohn in der Barockstadt Ludwigsburg. Sehr dankbar ist Pross den Nachfahren der Freudentaler Juden im Ausland für ihre Unterstützung in Form von Briefen, Fotoalben, Pässen und anderen Dokumenten. „Wirklich jeder, der irgendwie helfen konnte, hat das auch getan, und so einen Blick in die Familien hinein ermöglicht – nicht nur die Perspektive, die man in öffentlichen Archiven gewinnen kann.“
Judith Mayer, die Pross 2002 in New York traf, sagt, dass „er als Meister des Geschichtenerzählens Familienstammbäume mit Leben erfüllt.“ In den Worten von Sara Spatz aus Los Angeles, Kalifornien, USA, „dringt [Pross] tiefer als jeder andere Wissenschaftler in die vielschichtigen, facettenreichen und lebendige Erfahrungen der deutschen Juden ein ... Er ist ein lebender Garant für die Fortführung des deutsch-jüdischen Narrativs.“
Pross hat sich intensiv als ehrenamtlicher Forscher und Dozent am Pädagogisch-kulturellen Centrum Ehemalige Synagoge Freudental (PKC) engagiert. Dem Gebäude drohte bereits der Abriss, als Anfang der 1980er Jahre eine Bürgerinitiative dafür sorgte, dass die Synagoge wieder aufgebaut wurde. Heute wird sie von dem Trägerverein PKC geführt, der inzwischen mit seiner Forschungsarbeit, Führungen und Vorträgen zehntausenden Menschen Einblicke die jüdische Vergangenheit ermöglicht hat, häufig unter Federführung von Pross. Er hat auch wesentliche Unterstützungsarbeit geleistet, um Interessierten die Orientierung in den Archiven des Centrums und den Internetdatenbanken zu erleichtern, und Baden Württemberger Schülern Kontakte nach Israel, London und New York vermittelt.
„Wer Deutschland verstehen will, muss sich auch mit der jüdischen Vergangenheit des Landes auseinandersetzen“, so Pross. „Und ich denke, gerade junge Deutsche sollten sich um dieses Verständnis bemühen, denn es ist wichtig, um sich selbst zu verstehen.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.