Obermayer German Jewish History Award
Silvester Lechner
Elchingen, Bayern
Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn unterrichtete Silvester Lechner Mitte der 1970er Jahre an der Ulmer Volkshochschule – einer Institution mit einer ganz besonderen Vergangenheit. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg von Inge Scholl mitgegründet worden, der älteren Schwester von Sophie Scholl, die wegen der Verbreitung von Anti-NS-Flugblättern für die Widerstandsgruppe Die Weiße Rose 1943 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem berühmten Designer Otl Aicher, rief Inge Scholl die Schule in der 120.000-Einwohner-Stadt ins Leben, um „aus dem Geist des Widerstandes die Werte für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu vermitteln“, die während der NS-Jahre verloren gegangen waren.
„Dieses Umfeld war prägend für mich und legte auch den Grundstein für mein langes Engagement zur Erforschung der jüdischen Geschichte, speziell des Holocaust. Ich sah meine Aufgabe darin, Menschen zum Nachdenken darüber anzuregen, warum die Mehrheit der Deutschen diese antidemokratische, rassistische und weltzerstörerische NS-Bewegung unterstützte.“
Lechner war der verantwortliche Mitarbeiter für die Bereiche Politik, Gesellschaft und Geschichte. Dank einer weiteren prägenden Beziehung – in diesem Fall zu Alfred Moos (wie Albert Einstein aus Kappel bei Buchau stammend), der nach Palästina emigrierte und 1953 in seine Heimatstadt Ulm zurückkehrte – wandte Lechner sich schwerpunktmäßig der Geschichte der Ulmer Juden zu. Moos „wurde ein enger Begleiter, eine Art geistig-politische Vaterfigur für mich“, erklärt Lechner, „und meine Gespräche mit ihm waren eine konkrete Grundlage für meine Studien und Bücher, die ich über die Juden und das jüdische Ulm geschrieben habe.“
In den folgenden Jahren schuf Lechner Ausstellungen und leitete Workshops; er veröffentlichte fünf Bücher zur jüdischen Geschichte und einen 100 Seiten umfassenden Stadtführer zum jüdischen Ulm. Darüber hinaus trug er zur Rettung der Ulmer Synagoge bei, die 2012 wiedereröffnet wurde, und baute dauerhafte Beziehungen zwischen der schwäbischen Stadt und ihren jüdischen Nachkommen in aller Welt auf.
Gemeinsam mit Moos setzte sich Lechner in den 1980er Jahren dafür ein, dass ein frühes NS-Konzentrationslagers im Fort Oberer Kuhberg (im 19. Jahrhundert vor den Toren Ulms errichtet) erhalten und wiederaufgebaut wurde. Lechner, der erster Leiter der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg war, erinnert sich, dass die Mehrheit der Deutschen und auch der Ulmer Bürger „einige Jahrzehnte lang über die Vergangenheit schweigen wollte“ und die Einrichtung von Gedenkstätten ablehnte. Inzwischen – fast 70 Jahre nach Kriegsende – sind das Dokumentationszentrum und die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg „jedoch akzeptierte Bildungs-Institutionen, wo wir jährlich Tausenden von Schülern und Besuchern zu vermitteln versuchen, was das NS-Regime und der Holocaust bedeuteten.“
Alfred Moos‘ Sohn Michael, der in Freiburg lebt, beschreibt Lechners Engagement so: „Dr. Silvester Lechner hat über mehr als drei Jahrzehnte das Bewusstsein für jüdisches Leben in der Region Ulm gestärkt und auf verschiedensten Ebenen die Kontakte zwischen Juden und Nicht-Juden gefördert. Er hat damit dazu beigetragen, die Barrieren und das lange Schweigen zwischen den Nachfahren von Tätern und Opfern zu überwinden.“
Lechner wurde 1944 in Oberbayern nahe der österreichischen Grenze geboren und wuchs weitgehend ohne Berührung mit Antisemitismus auf. Im Gegenteil: Die Erinnerungen seiner Mutter an ihre Schulzeit in Österreich, wo die Hälfte der Schüler Juden gewesen waren und sie auch deren Rabbi gekannt hatte, trugen dazu bei, früh sein Interesse an der jüdischen Kultur und Geschichte zu wecken.
Lechner war Teil der Studentenbewegung in den 1960er Jahren, als junge Deutsche begannen, ihre Eltern intensiv zu den Geschehnissen im Krieg und ihrer Rolle bei Entstehen, Verlauf und Verbrechen der NS-Diktatur zu befragen, und sich lautstark gegen die Weiterbeschäftigung ehemaliger Nazis nach dem Krieg in Bildung, Justiz, Regierung und anderen Bereichen engagierten. „Dieser kritische Diskurs war der Beginn meiner Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte“, so Lechner, der 1974 in Geschichte promovierte und später zum führenden Wissenschaftler und Dozenten über das Judentum in Ulm bis zurück ins Mittelalter wurde. Lechner scherzt: „Ich hatte damals eine Art Monopol auf dieses Wissen.“
„Das ist ein Mann, der aus tiefstem Herzen um die Notwendigkeit weiß, sich an die Vergangenheit zu erinnern und das Wissen darum auch den jüngeren Generationen zu vermitteln. Er hat dies zu seiner Lebensaufgabe gemacht“, erklärt Richard Serkey aus Plymouth, Massachusetts, USA, dessen Eltern und Großeltern Ende der 1930er Jahre aus Ulm emigrierten und zu den ersten Überlebenden gehörten, die in den 1980er Jahren als „Gäste“ in die Stadt zurückkehrten.
Zu den hochanerkannten Büchern, an denen Silvester Lechner beteiligt war, gehört zum Beispiel das Werk „Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt: Erinnerungen einer Ulmer Jüdin“ von Resi Weglein. Sie kehrte als einzige der nach Theresienstadt deportierten Ulmer Juden 1945 in die Stadt zurück und schrieb über ihre Erfahrungen. Das Werk wurde von Lechner um eine 150 Seiten umfassende Zeit- und Lebensbeschreibung ergänzt und war wohl die erste Veröffentlichung in Ulm über das Schicksal einer einzelnen Person und ihrer Familie, mit allen sozialen, religiösen und politischen Implikationen für die Ulmer Juden.
Neben dem Gedenken an die jüdischen Opfer in Ulm und dem Vermächtnis der Überlebenden hat Lechner sich auch mit dem Antisemitismus, den Tätern und der „schweigenden Mehrheit“ der Bevölkerung befasst. „Zu verstehen, wie diese Menschen zu Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus wurden, war als eine Art Lehre für die Gegenwart besonders wichtig“, erklärt er.
Seit den 1980er Jahren setzt sich Lechner auch für die rund 400 heute in Ulm lebenden, vornehmlich aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Juden ein und hilft ihnen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Der inzwischen pensionierte Lechner engagiert sich nach wie vor, zum Beispiel in einem Weiterbildungsprojekt für Altenpfleger zu den langfristigen Folgen emotionaler Erlebnisse und Traumatisierungen durch NS-Ereignisse im Alter. Lechner lebt heute mit seiner Frau in Elchingen bei Ulm und hat zwei erwachsene Töchter, die 24 und 29 Jahre alt sind. Jeden Tag erreichen den Pensionär noch Anrufe ehemaliger Studenten auf der Suche nach Informationen über die NS-Zeit und Ulms jüdische Vergangenheit.
Ihm ist bewusst, dass die Arbeit nie wirklich abgeschlossen sein wird. Als jemand, der sich selbst immer als Lehrer verstanden hat, sieht Lechner es „als meine Aufgabe, die nachwachsenden Generationen der Bundesrepublik mit dem Wissen darüber zu konfrontieren, wie die Mehrheit der Eltern und Großeltern in so kurzer Zeit zu einer faschistischen Gesellschaft werden konnte“, damit so etwas nie wieder passieren kann.
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.