Obermayer Award

„Hast du je davon erzählt? Sie antwortete: ,Nein, aber es hat ja auch noch nie jemand danach gefragt.‘“ 

Sabeth Schmidthals engagiert sich mit viel Sensibilität und Empathie, um ihre Schülerinnen und Schüler für Hass und Antisemitismus zu sensibilisieren und sie dagegen aktiv werden zu lassen.

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Die Aula der Theodor-Heuss-Gemeinschaftschule hallt wider vom Stimmengewirr aufgeregter Schülerinnen und Schüler. Doch dann wird es ganz still im Raum. 

Auf der Bühne stellen Teenager in einer szenischen Lesung das Schicksal eines jüdischen Paares in Deutschland während der NS-Zeit vor. Martin und Helene Meyerowitz verloren ihre Rechte, ihren Besitz, ihre Familie. 1943 wurde Helene Meyerowitz vom Güterbahnhof direkt gegenüber ihrer Schule deportiert und ermordet, nachdem ihr Mann bereits 1942 verhaftet und im KZ Flossenbürg umgebracht worden war.

„Ich möchte doch meine Kinder wiedersehen“, sagt Helene Meyerowitz am Vorabend ihrer Deportation. Sie wird von Nayera dargestellt, einer hochgewachsenen jungen Frau, die mit Hijab und langer Robe auftritt. Im Publikum sitzt auch Rosa Marshall, 79, eine Enkelin von Helene und Martin Meyerowitz. Sie ist für die Aufführung aus England angereist und umarmt Nayera nach der Vorstellung wie ein lange vermisstes Familienmitglied.

„Ich finde, sie hat die Rolle wunderbar und sehr ausdrucksstark gespielt“, schreibt Marshall später in einer E-Mail.

Wie Nayera haben viele der Jugendlichen einen arabischen, türkischen oder anderen nicht-deutschen Hintergrund. Heute stehen sie auf der Bühne und schlüpfen in die Rolle von Juden und Nazis. Sie bringen sich mit viel Engagement, Verständnis und Gefühl ein, nicht zuletzt auch dank der Bemühungen der Geschichts- und Deutschlehrerin Sabeth Schmidthals. Schmidthals hat zahllosen Schülerinnen und Schülern die Geschichte der Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten in Deutschland während der NS-Zeit nahegebracht. Ihr Ziel ist es, die Jugendlichen mit kreativen Lehrmethoden und viel Sensibilität und Empathie für Hass und Antisemitismus zu sensibilisieren und sie dagegen aktiv werden zu lassen. 

Aber nicht nur das: Sie hat mit den Jugendlichen sogar Reisen nach Israel und an Orte mit Holocaust-Vergangenheit in Polen, Frankreich und Spanien unternommen, die laut Direktorin Annedore Dierker eine enorme Wirkung entfaltet haben. 

Rund 80 Prozent der 1.000 Schülerinnen und Schüler haben familiäre Wurzeln in anderen Ländern, viele stammen aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten. Einige besitzen noch keinen deutschen Pass, andere sind offiziell Geflüchtete ohne sichere Perspektive auf dauerhaften Aufenthalt. Häufig wissen sie wenig über Deutschland, ganz zu schweigen vom Holocaust. Und viele haben selbst Diskriminierung erfahren.

Schmidthals arbeitet seit den 1980er Jahren zum Themenspektrum NS-Zeit, Rassismus und Antisemitismus. Eine wichtige Erkenntnis brachte 2014-15 die Lektüre der Autobiographie der deutsch-jüdischen Holocaust-Überlebenden Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, in ihrer Schulklasse. Damals startete Schmidthals ein Projekt namens Meine Geschichte – deine Geschichte, bei dem Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse sich gegenseitig erzählen, woher ihre Familien stammen und welche Migrationsgeschichte sie haben. 

Eine Schülerin mit palästinensischem Hintergrund „begann zu weinen, während sie über die Geschichte ihrer Familie sprach. Auf die Frage, ob sie davon noch nie erzählt habe, antwortete sie: ,Nein, aber es hat ja auch noch nie jemand danach gefragt.‘ Damals begann ich zu verstehen“, sagt Schmidthals. „Meiner Meinung nach ist ihre negative Haltung zum Thema Juden und Verfolgung die Kehrseite des Gefühls, dass niemand sich für ihr [eigenes] Leid interessiert.“

2017 gründete Schmidthals die AG Erinnern, um das Geschichtsbewusstsein zu stärken und Hass und Antisemitismus entgegenzuwirken. Die Anregung dazu kam auch von ihrem Sohn Maxim, der ein freiwilliges soziales Jahr im Haus der Wannsee-Konferenz absolviert hatte. Die Gedenk- und Bildungsstätte ist der Ort, wo die NS-Führung im Januar 1942 den Genozid an den europäischen Juden plante.

Zuhören ist ebenso wichtig wie sich mitzuteilen. Mitgefühl für andere zu entwickeln wird bei den Teilnehmenden auch dadurch möglich, dass man sie ermutigt, ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Schmidthals „verstand, dass ihre Schülerinnen und Schüler nur dann Empathie für das Schicksal der Opfer entwickeln können würden, wenn sie selbst wertgeschätzt werden ... Mit enormer Geduld half sie ihnen bei Problemen in der Familie, in der Schule und so weiter“, sagt Elke Gryglewski, stellvertretende Direktorin am Haus der Wannsee-Konferenz.

Am 81. Jahrestag der Reichspogromnacht im November 1938 verlassen die Schülerinnen und Schüler nach der Aufführung die Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule und machen sich auf den Weg zum Gleis 69 des ehemaligen Güterbahnhofs Moabit. Von dort aus wurden zwischen 1942 und 1944 um die 30.000 Juden, darunter auch Helene Meyerowitz, deportiert. Heute erinnern ein Gleisabschnitt und ein Mahnmal an diesen Ort. Rosa Marshall wurde in London geboren, nachdem ihre Eltern während der NS-Zeit aus Deutschland geflohen waren. Sie, die ihre Großeltern nie kennen lernte, gehört zu den vielen, die an diesem Tag Blumen niederlegen.

Vor der Arbeit mit Frau Schmidthals „wusste ich überhaupt nichts über jüdische Menschen“, erklärt Isra, 21, eine ehemalige Schülerin mit palästinensischem Hintergrund und Beteiligte an der heutigen Präsentation. Bei ihr hat sich viel verändert, seit ihre Eltern ihr die Teilnahme an einer Gruppenreise nach Israel verwehrten. „Die Leute sagen, dass man nicht über die Vergangenheit reden soll. Aber wir wollen nicht, dass sich die Geschichte wiederholt.“

Für die Entwicklung von Empathie ist es zwar entscheidend, dass die Jugendlichen ihre persönliche Geschichte erzählen können, „aber es ist mir auch wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler eigenes Leid nicht gegen das Leid anderer aufwiegen“, erklärt Schmidthals. „Für jede und jeden Einzelnen ist das persönliche Leid wichtig, und indem wir das anerkennen, helfen wir ihnen, auch das Leid anderer zu sehen.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.