Obermayer German Jewish History Award, Auszeichnung für herausragende Leistungen

Renata Stih und Frieder Schnock 

Berlin

Zwei Jahre nach dem Mauerfall lobte der Senat von Berlin einen Wettbewerb für ein Kunstwerk im öffentlichen Raum zum Gedenken an die Berliner Juden aus, die dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. Die Konzeptkünstler Renata Stih und Frieder Schnock reichten ihre Idee ein und gingen unter 96 Einsendungen als Sieger hervor.

1993 erfolgte schließlich die Montage der Orte des Erinnerns durch Stih und Schnock: Es entstand ein Flächendenkmal, das die antisemitischen Gesetze und Verordnungen dokumentiert, die das NS-Regime zwischen 1933 und 1945 erließ. Das Denkmal besteht aus 80 gut sichtbaren und in kräftigen Farben gestalteten Tafeln, die an den Masten der Straßenbeleuchtung angebracht sind. Auf einer Seite informieren kurze Texte über die spezifischen Einschränkungen für Juden. Die Tafeln sind über das Bayerische Viertel in Schöneberg verteilt, wo früher viele jüdische Familien aus der Mittelschicht zu Hause waren, darunter z. B. auch Albert Einstein und Hannah Arendt. Die Tafeln machen die Passanten auf Dutzende Sondergesetze aufmerksam, die das NS-Regime erließ, von „Juden werden aus Sport- und Turnvereinen ausgeschlossen (25. April 25 1933)“, „Juden dürfen nicht mehr im Strandbad Wannsee baden (22. August 1933)“, „Berufsverbot für jüdische Schauspielerinnen und Schauspieler (5. März 1934)“, „Berufsverbot für jüdische Musiker (31. März 1935)“ über „Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren (25. Juli 1938)“ bis hin zu „Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen (15. November 1938)“ und „Lebensmittel dürfen Juden in Berlin nur nachmittags von 4–5 Uhr einkaufen (4. Juli 1940)“.

Für die Nominierende Elizabeth Pozen, eine Psychoanalytikerin und gegenständliche Künstlerin, zeigt das Denkmal „... den langsamen, aber systematischen Prozess der Marginalisierung, Isolierung, Diskriminierung, Entmenschlichung und Zerstörung der Juden. Die antisemitischen Gesetze und Verordnungen, die anfangs noch eher banal oder ärgerlich daherkamen, dienten der kulturellen Ausgrenzung der Juden – zunächst untereinander, später von der Gesellschaft insgesamt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus die totale Ächtung und die Ermordung Tausender von Menschen als geradezu ,logische‘ Konsequenz.“

Für Stih hat das Denkmal in den zwei Jahrzehnten seit der Installation den Menschen das totalitäre und perverse Denken der Nazis vor Augen geführt, auch wenn nicht alle die Konsequenz und Gnadenlosigkeit sofort verstanden haben. Das Projekt hat eine Art Schock ausgelöst, weil man diese Art der Wahrheit in der Realität nicht gewöhnt war – ein solches Denkmal hatte es bis dahin schlicht noch nicht gegeben: Dem System der Nazis wurde ein visualisiertes System im öffentlichen Raum entgegengestellt. Errichtet kurz nach der deutschen Wiedervereinigung, ging das Projekt sozusagen aus zwei Systemen der Erinnerung hervor, die zusammenkamen und eine neue Notwendigkeit schufen, den Holocaust zu thematisieren und mit neuem Blick zu betrachten. Künstler haben andere Werkzeuge zur Verfügung als Historiker und Politiker – die Kunst ist ein sehr mächtiges Instrument, um Politik im öffentlichen Raum zu diskutieren, da die Menschen nicht so exakt vorbereitet sind auf das, was sie sehen.

Durch die Orte des Erinnerns erlangten Stih, Professorin an der Beuth Hochschule für Technik, und Schnock, Kunsthistoriker, Dozent, Kurator, Kritiker und Kunstwissenschaftler sowie Leiter der Bildungsabteilung des Berufsverbands Bildender Künstler Berlin, weltweite Anerkennung. Artikel über die beiden Künstler sind in der New York Times, dem New Yorker, der Washington Post oder der Los Angeles Times erschienen, und sie haben Vorträge an großen US-amerikanischen Universitäten gehalten, z. B. dem Art Institute of Chicago, Harvard, Princeton, Columbia und Brown University.

1994 nahmen Stih und Schnock mit ihrem Projekt BUS STOP am Wettbewerb für das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas teil. Und anlässlich der Eröffnung des Jüdischen Museums in München im Jahr 2007 gestalteten sie einen Stadtplan als interaktives Kunstwerk: Die Stadt als Text – das jüdische München. In diesem Januar installieren Stih und Schnock in der antiken Stadt Ostia nahe Rom ein neues Kunstprojekt zum Gedenken an das jüdische Vermächtnis.

Nach Stihs Auffassung ist es an allen Menschen – nicht nur den Deutschen –, weiter Fragen zu stellen und sich öffentlich zu der Rolle zu bekennen, die sie im Holocaust gespielt haben. Auch andere europäische Länder sollten hinterfragen, was sie im Zweiten Weltkrieg getan haben und welches Leid sie den jüdischen Bürgern zugefügt haben.

Für Stih ist es von elementarer Bedeutung, den Holocaust zu thematisieren und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie glaubt nicht, dass dieser Diskurs jemals zu Ende geführt werden kann, denn es ist gut, wenn in der Gesellschaft das Bedürfnis entsteht, an den Holocaust zu erinnern und darüber zu diskutieren. Sie hofft, dass jede neue Generation das Thema wieder aufgreift und noch viele weitere Künstler sich zukünftig damit befassen.

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.