Obermayer German Jewish History Award
Pascale Eberhard
Wawern, Rheinland-Pfalz
Pascale Eberhard zog 1997 mit ihrem Mann nach Wawern, ein Dorf in der Nähe von Trier und der Grenze zu Luxemburg. Nicht weit von ihrem Haus entfernt lag die sehr schöne kleine, aber leer stehende Synagoge, die Eberhard faszinierte, aber auch sofort einige Fragen aufwarf: Was war mit den Juden passiert? Wo waren sie? Welche Erinnerungen haben die Menschen an sie? Fragen, die Eberhard schließlich auch den Nachbarn im Ort stellte. „Die erste Reaktion war nicht immer sehr positiv, ich stieß häufig auf Schweigen“, erinnert Eberhard sich. „Das konnte ich nicht einfach hinnehmen.“ Sie betont aber, dass es auch Bürger gab, die ihr bei ihrer Arbeit viel geholfen haben.
Um selbst Antworten zu finden, begann Eberhard, Dozentin für Französisch und Kommunikation, schon bald mit der Erforschung der jüdischen Vergangenheit in Wawern. Mit ihrer Forschungsarbeit ist es ihr gelungen, die Geschichten und Schicksale jüdischer Familien in der Region ans Licht zu bringen. Besonders hervorzuheben ist hier ihre Dokumentation zu den 518 Juden aus der Region Luxemburg und Trier, die am 16. Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) in Polen deportiert wurden. Nur 15 von ihnen überlebten den Krieg. Doch das Aufschreiben der Geschichten genügte Eberhard noch nicht: „Schon zu Beginn meiner Arbeit kam in mir der Wunsch auf, Kontakt zu den Nachkommen jüdischer Familien aufzunehmen.“
So kam es, dass Eberhard im Laufe von vier Jahren intensiver Forschungsarbeit Dutzende jüdischer Nachfahren aus der Region traf, mehrfach Archive in Israel, Polen, Deutschland und den USA besuchte und in ferne Länder wie Paraguay, Bolivien oder die Dominikanische Republik reiste, um Nachfahren Holocaust-Überlebender zu treffen. Diese Arbeit bildete die Grundlage ihrer Ausstellung Der Überlebenskampf jüdischer Deportierter aus Luxemburg und der Trierer Region im Getto Litzmannstadt: Briefe – Fotos – Dokumente. Sie wurde 2011 in Trier anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation eröffnet und ins Polnische und Englische übersetzt. Ein Begleitbuch erschien auf Deutsch, Französisch und Englisch. Später wurde die Ausstellung auch in Luxemburg, Mainz und Bitburg gezeigt. Zum 70. Jahrestag der Auflösung des Ghettos fand sie schließlich den Weg nach Lodz. Im Laufe dieses Winters wird sich der Kreis schließen und die Ausstellung nach Trier zurückkehren.
Eberhard, Mitbegründerin und Vorsitzende des Fördervereins Gedenken und Gestalten. Gedenkarbeit und Leben ohne Diskriminierung in der Großregion SaarLorLux-Rheinland-Pfalz und Wallonien e.V., wird angetrieben von dem Bedürfnis, Diskriminierung zu bekämpfen, wo immer sie ihr begegnet. Den Schülern von heute die Geschichte des Holocaust nahezubringen und ihre Relevanz für die Gegenwart zu vermitteln, empfindet sie als große Herausforderung, von der sie sich jedoch nicht abschrecken lässt: „Meine größte Motivation ist die Menschlichkeit. Ich kann nicht hinnehmen, dass Menschen diskriminiert werden, egal ob sie Juden, Protestanten oder Muslime sind.“ Die Bekämpfung von Stereotypen und Diskriminierung ist schlichtweg zu ihrer Mission geworden.
Eberhard wurde 1954 in Südfrankreich geboren und wuchs in Paris auf. Später studierte sie an der Universität Paris VIII Germanistik und Soziologie. In den 1980er Jahren zog sie nach Frankfurt, wo sie zum Thema Junge deutschsprachige Schriftsteller im Exil während des Nationalsozialismus 1933–1945 promovierte. Ein Blick in Eberhards Familiengeschichte zeigt eine direkte Verbindung zum Widerstand gegen die NS-Unterdrückung. Ihr Vater stammte aus dem Dorf Dieulefit im Südosten Frankreichs, dessen Einwohner – darunter auch ihr Vater und andere Verwandte – während des Krieges mehr als tausend Juden versteckten. „Für meine Familie war es ganz selbstverständlich, jüdischen Mitbürgern zu helfen“, erzählt sie.
Und nicht nur das: Eberhards Vater war in der Widerstandsbewegung gegen das Vichy-Regime aktiv. Als Untergrundkurier besorgte er schwer zu beschaffendes Papier, das zur Herstellung falscher Pässe gebraucht wurde, die einigen Juden die Flucht ermöglichten. Eberhards Vater wurde schließlich in Lyon von der Vichy-Polizei gefasst, den Deutschen übergeben und nach Dachau deportiert, wo er den Krieg überlebte. „Er hat nie über diese Zeit gesprochen, aber ich wollte immer mehr wissen“, so Eberhard. „Ich habe immer wieder gefragt, aber er war nicht in der Lage, darüber zu sprechen, was er erlitten hatte. Es war einfach zu schwer für ihn.“ Erst viele Jahre später, nach ihrem Umzug nach Wawern, konnte Eberhard ihr Interesse an der deutschen Kriegsgeschichte aufgreifen – diesmal mit dem klaren Ziel, die Erinnerung an die deportierten und vergessenen Juden wieder zum Leben zu erwecken.
Zur Ausstellung Überlebenskampf, die bereits rund 20.000 Schulkinder besucht haben, hat Eberhard Vorbereitungsveranstaltungen, Führungen und Workshops organisiert. Dr. Ingo Loose, Historiker mit dem Schwerpunkt Holocaust-Forschung am Institut für Zeitgeschichte in Berlin, hat Eberhard für die Obermayer Awards nominiert und schätzt sie „als eine Persönlichkeit, die umsichtiges Gedenken und präzise Forschung stets mit dem Ziel verbindet, diese Geschichten und Schicksale an die Öffentlichkeit zu bringen, um den verstummten Menschen wieder Gehör zu verschaffen.“
Für die Nominierende Suzanne Mayer Tarica aus Bethesda, Maryland, USA, deren Eltern dem Holocaust entkamen, hat Eberhard durch ihre „Sensibilität, ihren Gerechtigkeitssinn und ihre moralische Überzeugung einen besonderen Zugang zu den Tragödien“ der NS-Zeit. Ihre „Bemühungen um das Bewusstsein für die einst blühenden Gemeinden, die dem Holocaust zum Opfer fielen, sind vorbildhaft, ... eine ihrer größten Stärken liegt darin, die Menschen in den zahlreichen Gemeinden zusammenzubringen.“
Seit 2008 organisiert Eberhard mit ihrem Verein jedes Jahr im November ein Klezmerkonzert in der wiederhergestellten Synagoge von Wawern, um an die Reichspogromnacht zu erinnern. Die Veranstaltung erfreut sich heute in der ganzen Region großer Beliebtheit. Derzeit arbeitet Eberhard an der Fertigstellung eines Buches über das Leben der Juden in Wawern vor dem Krieg. Daneben widmet sie sich weiterhin den Themen Ungerechtigkeit und Diskriminierung und arbeitet dabei sowohl mit Schülern als auch mit Erwachsenen. „Es ist notwendig, diese Arbeit fortzusetzen, weil die Menschen vieles vergessen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit den jungen Menschen diskutieren und die Aktualität des Antisemitismus sowie jeder Form von Rassismus vermitteln müssen: ,Wie stehst Du zu Deinen Nachbarn – und hat du Mitgefühl mit Menschen, die diskriminiert werden?‘ Man kann junge Menschen dazu motivieren, sich gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit zu engagieren.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.