Obermayer German Jewish History Award

„Mein Ansatz ist es, die historischen Dokumente sprechen zu lassen ...“ 

Der Dramaturg Michael Batz setzt sich mit Hamburgs Rolle während der NS-Zeit auseinander. 

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Zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar bringt der Hamburger Dramaturg und Regisseur Michael Batz alljährlich ein neues, eindrucksvolles Werk zur Aufführung, das Facetten der NS-Vergangenheit der Stadt aufdeckt. Bei den gut besuchten und akribisch recherchierten Stücken arbeitet Batz mit einem ungewöhnlichen Erzählstil, der historische Personen mit ihren eigenen Worten auftreten lässt.

Es begann in den frühen 1990er Jahren mit Christopher Browning’s Buch Ganz normale Männer: das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Erzählt wird darin die Geschichte von 412 Männern einer Hamburger Polizeieinheit im Zweiten Weltkrieg, die nach Südpolen reisten und dort an der massenhaften Ermordung von Juden beteiligt waren. „Das war eine Hamburger Geschichte, und ich wollte mehr darüber erfahren“, so Batz. Seine Recherchen führten ihn von der Hamburger Staatsanwaltschaft bis zur Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, Baden-Württemberg. Was er dort in den Archiven entdeckte, lenkte sein künstlerisches Wirken in ganz neue Bahnen. 

Batz arbeitete anhand der Originalaussagen der Polizisten heraus, welchem Horror die jüdischen Opfer ausgesetzt waren. Daraus entwickelte er ein Dokumentarstück für zehn Schauspielende und eine Gruppe von Musizierenden, das 1998 in der Hamburgischen Bürgerschaft Premiere feierte. Für Batz war dies eine ebenso tiefgreifende Erfahrung wie für sein Publikum – ein einzigartiger künstlerischer Weg, die Verbrechen der NS-Zeit ans Tageslicht zu fördern. Seitdem hat er jedes Jahr ein neues Stück entwickelt.

„Ich habe in meinem direkten Lebensumfeld zu graben angefangen. Das war mein Ansatz, und die Geschichte wurde größer und größer“, sagt Batz, Mitbegründer der Hambuger Kulturfabrik Kampnagel, künstlerischer Leiter des Hamburger Art Ensemble, und Gründer des Theaters in der Speicherstadt. „In gewisser Weise ist Hamburg meine Bühne, und ich versuche, … Dinge ans Licht zu bringen und die andere Seite der Hamburger Geschichte zu erzählen. Die nicht erzählten Geschichten sind meine Motivation.“ 

Batz stützt sich bei seinen Stücken grundsätzlich auf historische Dokumente und Zeitzeugenberichte und verwendet ausschließlich Originalzitate. So würdigt er das Vermächtnis jüdischer Opfer aus Hamburg, indem er die Rolle der Nationalsozialisten und ihrer Sympathisanten bei Gericht, in Unternehmen und im gesamten Kulturbetrieb herausarbeitet. Dafür nutzt er Tagebücher, Briefe, Regierungsdokumente und andere Primärquellen, die er unter anderem im Staatsarchiv Hamburg entdeckt hat. 

„Die Arbeit in den Archiven klingt abstrakt, ist es aber nicht“, sagt Batz. „Sie halten da Originaldokumente in den Händen, wie Abschiedsgrüße von Menschen, die Selbstmord begangen haben oder deportiert wurden. Das ist wie eine persönliche Begegnung. In den Archiven steckt noch ganz unglaubliches Material. Manchmal denke ich, dass da doch ein Ende absehbar sein muss, aber nein, es gibt kein Ende, da ist immer noch mehr, also mache ich weiter.“ 

Batz hat seine szenischen Lesungen in Rathäusern, Museen und Theatern an vielen Orten aufgeführt, von Hamburg über Berlin und Wien bis nach Shanghai, wo eine von ihm entworfene Gedenktafel am Jüdischen Flüchtlingsmuseum Shanghai an die Geflüchteten erinnert.

Batz wurde 1951 in Hannover als Sohn eines ehemaligen Wehrmachtssoldaten geboren. Sein Vater kam nach der Gefangennahme in Südfrankreich in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1947 nach Deutschland zurückkehrte. Batz erinnert sich nicht, dass sein Vater je über seine Kriegserfahrungen gesprochen hätte, oder darüber, was mit den Juden geschah. „Meine Familie hat mir nie etwas erzählt“, sagt er. Während seiner Gymnasialzeit in den 1960er Jahren hatte Batz dann einen jüdischen Lehrer, der ihn auf den Weg in seine Zukunft als Künstler führte. „Herr Goldbach, mein Lateinlehrer, war sehr beeindruckend und hat mir etwas sehr Wichtiges für mein Leben vermittelt – er hat mir beigebracht, offen und tolerant zu sein, Zweifel zuzulassen und frei und undogmatisch zu denken.“ 

Batz studierte in den 1970er Jahren Germanistik, Literatur und Geschichte an der Universität Marburg, aber das Theater wurde schließlich zu seiner großen Liebe, zu „meiner Befreiung“. 

Er hat die Versteigerung jüdischen Eigentums in Hamburg ebenso recherchiert wie die Ermordung von Kindern auf Hamburger Krankenstationen. Das Stück Tenebrae, entstanden in Koproduktion mit dem Komponisten Ernst Bechert und aufgeführt in Zusammenarbeit mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, ist eine Chronik der Verbrechen der Gestapo in ihrem Hamburger Hauptquartier. 

Ist es weit von Auschwitz nach Hamburg? beschreibt die Geschichte von 1.500 jüdischen Frauen, die 1944 als Zwangsarbeiterinnen von Auschwitz-Birkenau nach Hamburg gebracht wurden. In einem seiner bekanntesten Werke erzählt Batz die faszinierende Geschichte zum  Haus des Paul Levy, einem architektonischen Meisterwerk und fortschrittlichen Genossenschaftsprojekt. Das Haus wurde von zwei berühmten jüdischen Architekten, den Gerson-Brüdern, errichtet und später von den Nationalsozialisten enteignet.

Batz spricht mit seiner Arbeit insbesondere auch Kinder und Jugendliche an – um die 800 junge Menschen besuchen in der Regel seine Sondervorstellungen für Hamburger Schulen. 

Seine Dokumentarstücke wurden in einer Anthologie veröffentlicht: „Hört damit auf!“ 20 Dokumentarstücke für die Hamburger Bürgerschaft. Der Titel geht auf den Hamburger Künstler Walter Sternheim (auch bekannt als Arie Goral) zurück, der in der Nachkriegszeit befand, es sei besser, die NS-Kriegsverbrecherprozesse zu beenden, als weiterhin Freisprüche für Nazis zu verkünden. 

2006 entdeckte Batz über eine entfernte Verwandte, dass der Cousin seines Vaters ein führender SS-Kommandeur der Einsatzgruppe A in Riga gewesen war, die die jüdische Bevölkerung in Litauen auslöschte. „Ich war am Boden zerstört, als ich das erfuhr“, sagt Batz und gesteht, dass er bisher noch keinen Weg gefunden hat, diese schwierige persönliche Geschichte in einem Stück aufzuarbeiten. 

Batz findet alles, was er braucht, um eine Geschichte zu erzählen – und das Publikum mit seinen Enthüllungen über die Hamburger Vergangenheit zu bewegen – in Originalunterlagen. „Mein Ansatz ist es, die historischen Dokumente sprechen zu lassen, denn ich denke, dass die Wahrheit konkret ist, und Wissen fordert Details, Details, Details. Geschichte ist der Nährboden der Gegenwart und eine Quelle der Zukunft“, erklärt er. „Wir brauchen Erinnerung. Sie ist ein entscheidendes Element.“

Mit Blick auf die aktuelle Zunahme rechtsextremer Tendenzen in Deutschland fügt er hinzu: „Wir dürfen nie aufhören, uns für eine offene Gesellschaft und demokratische Werte einzusetzen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die von Verständnis und Respekt geprägt ist, die von Vielfalt und der Neugier aufeinander lebt. Jeder Mensch ist ,anders‘ für andere, und nur diese Perspektive ermöglicht die Befreiung jedes und jeder Einzelnen.“

 

 
 

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