Obermayer German Jewish History Award

Marlis Glaser 

Attenweiler, Baden-Württemberg

Marlis Glaser wuchs in Schwaben auf und studierte später in Bremen Malerei an der Hochschule für Gestaltung. Schon als junge Künstlerin engagierte sie sich für gesellschaftspolitische Themen und schuf beispielsweise Porträts von ehemals verfolgten Sozialdemokraten, Kommunisten oder Gewerkschaftern. 1984, im Alter von 32 Jahren, malte sie dann das Porträt einer Frau namens Hannah Erdmann, einer Jüdin aus Breslau, die Theresienstadt überlebt hatte und deren Überlebensgeschichte Glaser faszinierte. Während der Arbeit mit Erdmann erfuhr sie nach und nach immer mehr über das Leben dieser Frau. Glaser spürte, dass sie dem Thema weiter nachgehen musste, und wollte mehr über die jüdischen Menschen erfahren.

Seit diesem Porträt, das Glaser vor drei Jahrzehnten zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema inspirierte, hat sie sich in ihrem künstlerischen Werk und buchstäblich Hunderten von Arbeiten dem Gedenken und der Erinnerung an die jüdischen Überlebenden des Holocaust gewidmet und so auf die kulturelle Bedeutung des jüdischen Vermächtnisses der deutschen Vorkriegszeit aufmerksam gemacht. Die Zeichnungen, Skulpturen und Malereien von Glaser wurden inzwischen in 22 Ausstellungen in Deutschland, Frankreich und Israel präsentiert. Darüber hinaus hat sie verschiedene vielgelesene Kataloge und Bücher herausgebracht, z. B.: Neue Arbeiten 2008-2012: Bilder über Menschen und Bücher, Bäume und Früchte.

Bei zahlreichen Führungen und Präsentationen hat Glaser ihre Werke vorgestellt und besprochen. Ihre Porträts jüdischer Überlebender und ihrer Angehörigen waren schon in ganz Deutschland in Synagogen, Museen, Kirchen und Kunsträumen zu sehen, z. B. in Galerien in Düsseldorf, Tübingen, Schorndorf, Ravensburg, Schloss Mochental und in ihrer Baden-Württemberger Heimatstadt Attenweiler nahe Ulm.

Die teils gegenständlichen, teils expressionistischen Bilder in kraftvollen Farben, in die Glaser auch Texte, Symbole, Blumen und Bäume integriert, erfassen auf eindrucksvolle Weise die Charakterstärke und in vielen Fällen auch den Optimismus der Porträtierten. Für Marlis Glaser gehören Tränen der Trauer und der Freude zu ihrer Kunst ebenso wie zu ihrem Leben.

„Mit meinem Projekt-Thema Abraham aber pflanzte einen Tamariskenbaum greife ich das biblische Zitat auf und bringe in meinen Bild-Titeln wie z. B. Und Menachem pflanzte einen Baum den Aspekt der Kontinuität von Abraham bis heute zum Ausdruck. Diese geistige wie ethische Tradition im Judentum beginnt bei Abraham und setzt sich bis heute fort.“

Das Abraham-Projekt, das vielleicht bekannteste Werk der Künstlerin, begann im Jahr 2005. Eine Serie umfasst um die 200 Bilder, in denen jeweils Interviews und Portraits von 70 deutsch-jüdischen Immigranten in Israel und den USA zu einem Kunstwerk verwoben sind. Dargestellt werden die Lebensgeschichten Dutzender Menschen, die aus Deutschland fliehen mussten, um dem Holocaust zu entgehen.

Auf der Grundlage ihrer zahlreichen Reisen nach Israel und inspiriert durch das Judentum und das, was sie über die jüdische Kultur erfahren hat, webt Glaser Motive aus der Natur und religiöse Symbole in ihre Bilder – z. B. eine Menora, einen Seder-Teller, ein Hochzeitskleid, ein Schofar, ein Gebetsbuch – und verknüpft sie mit den persönlichen Geschichten der Porträtierten. Auch biographische, religiöse und historische Details fließen in Glasers Arbeiten ein, weil nach ihrer Auffassung in der Kunst alles eine Bedeutung haben sollte: „Ich war an den Geschichten der Menschen interessiert: Wie haben sie überlebt, wie viele Familienmitglieder haben sie verloren? Ich wollte diese Menschen anhand von vier symbolischen Motiven interpretieren: Antlitz, Baum, Name und Gegenstand.“

Durch den Schaffensprozess beim Porträtieren älterer Juden und ihrer Nachkommen und die Auseinandersetzung mit den Überlebensgeschichten der Familien im Holocaust hat Glaser eine einzigartige Beziehung zum Judentum entwickelt – und auch ihre Söhne in diesen Prozess einbezogen. So begeht sie nicht nur den Sabbattag und die jüdischen Feiertage. Für ihre beiden nichtjüdischen Söhne – Samuel, 22, der in München Kunst studiert, und Joshua, 18, der sich gerade handwerklich und künstlerisch auf eine Ausbildung zur Gestaltung mit Holz vorbereitet – wurde symbolisch die Bar Mitzwa gefeiert. Glaser kennt hebräische Verse und Gebete ebenso wie das Alphabet, und sie backt mit ihren Kindern gerne Challah-Brot. „Ich möchte die Traditionen der jüdischen Kultur und Religion kennen lernen, um zu erfahren, was ich verloren habe“, sagt sie.

Glaser hält Vorträge an Schulen und leitet Schüler-Workshops zur jüdischen Vergangenheit in Deutschland. Sie hat darüber hinaus auch Flyer zum Thema gestaltet und ihre Bilder in Ausstellungen anlässlich des Europäischen Tages der Jüdischen Kultur präsentiert. „Da ist eine ganze Generation verschwunden, die eigentlich hier sein sollte“, so Glaser. „Deshalb bin ich vor 12 Jahren mit meinen Söhnen nach Israel gegangen. Ich wollte, dass sie diese Menschen, deren Wurzeln in Deutschland liegen, kennen lernen. Und ich wollte diejenigen, die meiner Generation angehören – die Kinder der Überlebenden – treffen.“

Für Amos Fröhlich aus Shavei Zion in Israel hat Glaser „den Holocaust verinnerlicht und sich entschieden, all ihre Energie für das Gedenken an das Schicksal der verfolgten Juden einzusetzen, die aus Deutschland fliehen mussten – und für die Aufklärung der jungen Deutschen von heute, damit auch zukünftige Generationen sich noch erinnern.“ Zur Kunst selbst sagt Judith Temime, ebenfalls aus Shavei Zion, dass Glasers „Beobachtungen zugleich sachlich und sensibel sind; die expressiven Farben und düsteren Schatten, die sie einsetzt, sind so beredt wie Worte ... [Ihr] Einsatz für die deutsch-jüdische Geschichte und ihr gewissenhaftes Engagement für ,Erinnerung und Hoffnung‘ haben sich zu einem einzigartigen und wunderbaren Werk verbunden.“

In einer 10-jährigen Schaffensphase hat Glaser ab Anfang der 2000er Jahre die Werke der deutsch-jüdischen Else Lasker-Schüler interpretiert, die 1869 in Wuppertal geboren wurde und 1945 in Jerusalem starb. Glaser selbst wuchs mit Erzählungen von Großtante und Großonkel über die Juden auf, die vor dem Krieg in Ulm gelebt hatten. Ihre Großmutter, die ihrem zukünftigen Mann durch einen jüdischen Viehhändler vorgestellt wurde, half hungernden jüdischen Familien, den Krieg zu überleben, indem sie Glasers Mutter – damals ein 13-jähriges Mädchen – mit Eiern und anderen Lebensmitteln zu den Juden im benachbarten Laupheim schickte.

Glaser verfolgt mit ihrer durch das Judentum inspirierten Kunst einen doppelten Zweck: die Erinnerung an die Holocaust-Überlebenden und das Gedenken an die von den Nazis ermordeten Juden. Glasers Arbeiten im gesellschaftspolitischen Bereich umfassen zum Beispiel Projekte und Wandmalereien über die moderne Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung im 20. Jahrhundert, die Frauen der Französischen Revolution oder die Frauen aus dem nationalsozialistischen Widerstand. Glasers Werk wurde sowohl in der deutschen wie auch der israelischen Presse gewürdigt. Besondere Resonanz fand eine Ausstellung, die 2008 anlässlich des 60. Jahrestags der Gründung Israels und des 70. Jahrestags der Reichspogromnacht präsentiert wurde.

Glaser ist es ein besonderes Anliegen, mit ihrer Kunst einen Beitrag zum Kampf gegen Vorurteile zu leisten und die Menschen von heute zu der Frage zu bringen: „Wie können wir antisemitische Stereotypen und Vorbehalte bei uns selbst erkennen und abbauen?“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.