Obermayer German Jewish History Award
Klaus Beer
Leonberg, Baden-Württemberg
Klaus Beer, 1933 geboren, wuchs in Ulm mit der üblichen Nazi-Propaganda auf, die alle Juden zu „Untermenschen“ erklärte. Als Kind stellte er dies auch überhaupt nicht in Frage, sondern wollte am liebsten wie seine Klassenkameraden zur Hitlerjugend gehen. „Alle Schulkameraden hatten schöne Uniformen, nur ich nicht, denn mein Vater ließ mich nicht zur Hitlerjugend gehen. Ich dachte nur, ,warum nicht?‘, denn als Kind will man einfach dazugehören. Aber mein Vater erzählte mir schon früh, ,dass das Dritte Reich ein Verbrechen ist‘. Und obwohl ich noch Kind war, wusste ich, dass es gefährlich für ihn war, so etwas zu sagen.“
Im April 1945 wurde Ulm von amerikanischen Soldaten besetzt „und man konnte endlich wieder frei reden. Erst jetzt erzählte mein Vater mir von seiner jüdischen Abstammung – vorher hatte er mich damit nicht belasten wollen, weil alle behaupteten, die Juden seien die schlimmsten Unmenschen. Als Kind will man nicht hören, dass die eigene Großmutter zu diesen Menschen gehörte, aber nach dem Krieg sagte mein Vater mir, dass meine Großmutter Elise Jüdin war.“
„Ich war schockiert“, erzählt Beer, der damals 12 Jahre alt war. „Es dauerte eine Weile, bis ich das verarbeitet hatte. Während des Dritten Reichs hatte man uns in eine bestimmte Richtung erzogen. Nach dem Krieg musste ich mich von allem befreien, was man mir in der Schule über die Menschen beigebracht hatte, und erkennen, dass die Welt in Wirklichkeit ganz anders war. Das dauerte seine Zeit.“
Diese drastische Erkenntnis war mit ein Grund dafür, dass Beer in seinem späteren Berufsleben als Richter den Fokus sehr stark auf die demokratischen Werte richtete. Doch erst nach seiner Pensionierung im Jahr 1994 konnte er sich der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln widmen und Kontakt zu jüdischen Familien aufnehmen, die vor dem NS-Regime aus Deutschland geflohen waren.
Die Ergebnisse seiner Arbeit sind beeindruckend: 1997 veröffentlichte er die Lebensgeschichte seiner Großmutter, die 1941 eines natürlichen Todes gestorben war: Elise Beer, geborene Cohen: Großmutter. 2001 folgte sein größeres Werk, ein Portrait der gesamten Familie Cohen aus dem niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck. Beer hat auch zahlreiche Aufsätze zum Ulmer Einsatzgruppen-Prozess von 1958 verfasst sowie ein Buch zum Antisemitismus in der Bevölkerung von Ulm in der Nachkriegszeit (Auf den Feldern von Ulm, erschienen 2008) geschrieben.
Beer wurde in Hamburg geboren und verbrachte dort viel Zeit mit seiner jüdischen Großmutter, wenn die Familie zusammenkam. 1943 zog seine engste Familie nach Ulm, um den Luftangriffen der Alliierten zu entfliehen.
Nach dem Krieg wurde in der Schule nicht viel über Kriegsverbrechen geredet. Viel später, während seiner Referendarzeit in Ulm, erfuhr Beer im Rahmen des Einsatzgruppen-Prozesses 1958 von den Massenerschießungen von Juden in Osteuropa. Zu dem Zeitpunkt wusste er jedoch immer noch nicht, dass auch Teile seiner Familie auf diese Weise ermordet worden waren.
Beer wurde später Richter am Oberlandesgericht sowie Vorsitzender Richter am Landgericht in Stuttgart. Er war außerdem Mitgründer und sechs Jahre lang Vorsitzender der Neuen Richtervereinigung.
In den 1970er Jahren leitete Beer als Richter Entschädigungsverfahren für Verfolgte während der NS-Zeit. So lernte er zahlreiche – meist jüdische – Lebensgeschichten kennen und erfuhr viel über Geschichte im Allgemeinen. Nur die Geschichte seiner eigenen Familie blieb weiterhin im Dunkeln. Dies sollte sich im Jahr 1994 ändern, als er begann, sich durch Archive und Bibliotheken zu arbeiten, darunter auch das Centrum Judaicum in Berlin.
Am Anfang hatte er nur den Namen seiner Großmutter. Doch am Ende gelang es ihm, entfernte Verwandte in den USA und den Niederlanden aufzuspüren – und sie persönlich kennen zu lernen. Dafür recherchierte er auf Friedhöfen und befragte Einwohner von Osterholz-Scharmbeck in Niedersachen, wo seine jüdischen Vorfahren gelebt hatten. So konnte Beer seine Familie schließlich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen.
Er fand heraus, dass seine jüdischen Vorfahren „alles getan hatten, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein. Sie waren jüdische Deutsche“, so Beer. „Sie haben im 1. Weltkrieg für den Kaiser gekämpft, sie sprachen ausschließlich Deutsch, die Inschriften ihrer Grabsteine waren deutsch. Aber das alles half ihnen nicht.“
Neunzehn seiner Verwandten wurden ermordet. Von den Juden aus Osterholz-Scharmbeck, die nicht geflohen waren, überlebten nur zwei den Holocaust.
Beer besuchte die Mordfelder Weißrusslands und die Gedenkstätte Theresienstadt in der Tschechischen Republik. Im November 2002 reiste er nach Minsk, um dort an der Einweihung eines Gedenksteins für die Juden des ehemaligen Ghettos teilzunehmen, die 61 Jahre zuvor aus der Region Bremen deportiert worden waren.
Vier Jahre später setzte Beer sich für die Errichtung eines Denkmals für die 22 ermordeten Juden von Osterholz-Scharmbeck in der Nähe des Standortes der ehemaligen Synagoge aus dem 19. Jahrhundert ein. Parallel dazu fand im Rathaus eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte statt.
Beers Forschungsarbeit führte ihn auch tiefer in die Kriegsgeschichte Leonbergs, wo er seit 1970 mit seiner Ehefrau Linde lebt. In Leonberg gab es ein von der SS geführtes KZ-Außenlager, in dem die Häftlinge vornehmlich für die Waffenindustrie arbeiteten. 1999 war Beer hier Mitbegründer einer KZ-Gedenkstätteninitiative.
Der erste persönliche Kontakt zum lange verloren geglaubten Familienzweig reicht in das Jahr 2000 zurück, als Beer eine entfernte Cousine, Harriet Zuckerman, fand, die ihn auch für die Obermayer Awards vorgeschlagen hat. Sie wurde zwar in den USA geboren, sprach zu Beers großem Erstaunen aber Deutsch mit dem Hamburger Dialekt ihrer Großmutter. Inzwischen haben sie sich mehrfach gegenseitig besucht. Die erste Reise Zuckermans nach Deutschland – vor der ersten persönlichen Begegnung mit Beer – war schwierig. Sie hatte Angst, nach Deutschland zu kommen. Heute sagt sie jedoch, dass viele Deutsche sich sehr um Wiedergutmachung für die Taten ihrer Eltern und Großeltern bemüht haben: „Es ist gut zu wissen, dass es Menschen gibt, denen unsere Geschichte wichtig ist.“
Für Beer begannt die Reise mit der Enthüllung seines Vaters im Frühjahr 1945. Die Tage des Leugnens und Schweigens sind längst vorüber. „Damals sprachen die meisten Menschen mit jüdischer Großmutter oder jüdischem Großvater nicht darüber“, erinnert er sich. „Sonst benahmen viele Leute sich plötzlich anders, man konnte zum Außenseiter werden.“
„Ich fühle mich heute durch die Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte auch meiner Familie viel freier als in früheren Jahrzehnten.“ Aber Beer hat mit seinem Engagement auch das Leben vieler anderer Menschen berührt. Oder, wie seine Cousine Harriet Zuckerman sagt: „Ich habe eine Geschichte; ich gehöre zu jemandem. Und das verdanke ich ihm.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.