Obermayer German Jewish History Award
Johannes Grötecke
Bad Wildungen, Hessen
Als 17-jähriger Gymnasiast bekam Johannes Grötecke die Aufgabe gestellt, die Geschichte seiner Heimatstadt Bad Wildungen in Hessen zu recherchieren. Es war das Jahr 1985, und die Geschichte des Holocaust ging zu der Zeit häufig durch die Medien, sodass der Schüler beschloss, sich mit der jüdischen Vergangenheit der Stadt zu befassen. Grötecke besuchte das Stadtmuseum, durchforstete Archive und „versuchte, mit Juden Kontakt aufzunehmen, die in Bad Wildungen gelebt und den Holocaust überlebt hatten“, erinnert er sich. In Interviews mit älteren Einwohnern versuchte er herauszufinden, woran sie sich erinnerten.
Aber es gab nur wenige Informationen, und so war es weniger das, was Grötecke las, als vielmehr die Gespräche und Korrespondenz, die er mit den Nachfahren der Holocaust-Opfer von Bad Wildungen führte, die ihn so sehr bewegten, dass er sich in den darauffolgenden 25 Jahren der Bewahrung der jüdischen Vergangenheit seiner Stadt widmete und auch andere für seine Leidenschaft begeisterte.
„Es war authentisch – etwas Greifbares, mit Menschen zu reden und zu hören, wie sie in dieser Zeit gelitten hatten“, so Grötecke zu seinen frühen Rechercheergebnissen. „Die Bevölkerung von Bad Wildungen hatte nach dem Krieg beschlossen, nicht über den [Holocaust] zu reden. Sie sagten, ,Wir haben andere Probleme; wir brauchen Arbeit, die Geschichte ist uninteressant.‘ Ich habe mich nach Kräften bemüht, das zu ändern.“ Und das tat Grötecke dann auch.
Bad Wildungen war für seine natürlichen Heilquellen bekannt. Aus ganz Europa kamen Juden in die Stadt, sodass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei jüdische Hotels, ein Kino in jüdischem Besitz sowie eine Synagoge gab, die zu den schönsten des Landes für Städte dieser Größenordnung gehörte. 1933 hatte die Stadt 5.500 Einwohner, von denen 150 und damit weniger als 3 % Juden waren.
Die Hälfte der Bad Wildunger Juden emigrierte vor dem Krieg; von denen, die blieben, überlebten nur drei den Holocaust. Außer ein paar Zeitungen, alten Adressbüchern und wenigen Fotos gab es kaum noch Spuren der jüdischen Gemeinde. Damit wurden die Entdeckungen von Grötecke umso bedeutender für Angehörige, Besucher, Schüler und andere, die sich für die jüdische Geschichte interessierten.
So fand Grötecke zum Beispiel einen Koffer, den Selma Hammerschlag, eine der drei jüdischen Überlebenden, zurückgelassen hatte. Nach ihrer Rückkehr 1945 musste sie feststellen, dass 20 Mitglieder ihrer Familie – darunter ihr Ehemann Max Hammerschlag, der in den letzten zwei Wochen des Krieges nahe Buchenwald starb – dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. „Auf der Innenseite standen Namen, und so begann ich die Geschichte zu recherchieren. Ich fand heraus, dass der Koffer aus Theresienstadt stammte, wo Selma als Krankenschwester gearbeitet und überlebt hatte, und sammelte Informationen über die Deportationen“, erklärt Grötecke, der aus Briefen erfuhr, dass Selma unter schweren Depressionen litt und 1946 nach New York emigrierte, wo sie einige Jahre später starb. „Dieser Koffer ist ein beeindruckendes Stück Zeitgeschichte. Wir haben ihn im Stadtmuseum ausgestellt, und ich erzähle Besuchern anhand dieses Koffers die Geschichte der Familie Hammerschlag. Gerade junge Leute finden das sehr spannend, und die Geschichte berührt sie sehr.“
„Johannes ist unermüdlich, wenn es darum geht, Informationen aufzuspüren“, erklärt Richard Oppenheimer, der Grötecke um Hilfe bat, als er nach Informationen über seine Mutter, eine in Bad Wildungen geborene Jüdin, suchte. „Was ich nicht wusste: Er hatte tatsächlich 25 Jahre zuvor Kontakt zu meiner Mutter gehabt und übersandte mir ein schriftliches Interview, das er 1988 vor ihrem Tod mit ihr geführt hatte. So verhalf er mir zu Informationen und Fakten über sie, die gänzlich neu für mich waren.“
Grötecke erinnert sich, dass seine eigene Familie nie über den Krieg reden wollte. Später fand er heraus, dass das Haus seiner Großeltern früher einer jüdischen Familie gehört hatte. Als er forderte, vor dem Haus Stolpersteine im Gedenken an die Namen und Deportationsdaten der Familie Katz zu verlegen, die dort gelebt hatte, kam es zum Streit. „Zu der Zeit war ich schon erwachsen und dachte, dass diese Diskussion geführt werden müsste“, so Grötecke, der schließlich noch zu Lebzeiten seiner Großeltern die Verlegung von sechs Stolpersteinen durchsetzte.
Das war nur ein Bruchteil der 77 Stolpersteine, für deren Verlegung Grötecke in den vergangenen Jahren in ganz Bad Wildungen gesorgt hat. „Ich gehe in die Schulen und versuche das Interesse der Schüler an diesen Themen – ihrer eigenen Lokalgeschichte – zu wecken“, erklärt er. „Ich gehe mit ihnen zu den Stolpersteinen, wobei die Schüler nicht nur die Steine reinigen, sondern sich auch mit den Schicksalen der betroffenen Familien befassen.“
Neben seinem Engagement für die Vermittlung der Geschichte bei Schülern und Nachbarn unterstützt Grötecke auch seit 10 Jahren die Angehörigen von Holocaust-Opfern, indem er sie zum jüdischen Friedhof der Stadt begleitet oder ihnen die Straßen und Häuser zeigt, in denen ihre Familien einst lebten. „Es ist ein sehr emotionaler Moment, wenn sie nach Bad Wildungen kommen und vor den Stolpersteinen stehen,“ erläutert Grötecke. „Auf der Suche nach dem Schicksal ihrer Vorfahren sind diese häufig die einzige konkrete Spur. Es ist wichtig für sie zu sehen, dass die Bevölkerung von Bad Wildungen sich an die Opfer und die Kinder der Opfer erinnert – dass sie nicht vergessen sind. Ihre Namen gehören zu dieser Stadt und in unser Bewusstsein.“
Seit fünf Jahren ist Grötecke einen Tag in der Woche von seiner Lehrtätigkeit an die nahegelegene Gedenkstätte Breitenau abgeordnet, wo er Besucher durch das Kloster aus dem 12. Jahrhundert führt, das die Nationalsozialisten während des Krieges in ein Konzentrationslager für Juden umfunktioniert hatten. Grötecke hat zahlreiche Artikel über die jüdische Geschichte geschrieben und 2012 eine Ausstellung im Stadtmuseum auf Basis von mehr als einem Dutzend Familieninterviews initiiert: Ehemalige Bad Wildunger Juden und ihre Kinder im Interview. 2013 hat er eine Ausstellung zur Geschichte der Bad Wildunger Synagoge, die in der Reichspogromnacht 1938 zerstört worden war, ins Leben gerufen.
Grötecke beeinflusst mit seiner Arbeit bis heute das Leben von Nachfahren der Juden aus Bad Wildungen in aller Welt, von Südamerika und den USA über Israel bis nach Großbritannien und darüber hinaus. Freddy Manfred Hirsch aus Kapstadt, Südafrika, lobt Gröteckes Arbeit als „überragende Forschungsleistung“, dank derer er die Wurzeln seiner Familie bis ins Jahr 1795 zurückverfolgen konnte.
„Das ist unsere Lokalgeschichte. Es ist unsere Pflicht, uns darum zu kümmern“, so Grötecke mit Blick auf die Zukunft, „und dafür zu sorgen, dass es niemals wieder geschehen kann.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.