Obermayer German Jewish History Award
Jörg Kaps
Arnstadt, Thüringen
Das Interesse an der Geschichte des jüdischen Lebens in Arnstadt ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Und das liegt wohl auch daran, dass Jörg Kaps „der Geschichte ein Gesicht verleiht. Ich stelle die Familien und ihre persönlichen Lebenswege vor – nicht nur allgemeine Informationen, sondern ganz Konkretes. Ich zeige Fotos, erzähle, wie sie gestorben sind, wie das Leben im Konzentrationslager war, wer ihre Verwandten sind, wo sie gearbeitet haben, wo und wie sie gelebt haben – so wird Lokalgeschichte lebendig. Heute redet man in Arnstadt über diese Geschichte. Wenn die Menschen an einem Haus vorbeigehen, kennen sie seine jüdische Vergangenheit. Sie ist im Bewusstsein der Stadt verankert.“
Kaps, Jahrgang 1962, ist im thüringischen Industriestandort Arnstadt geboren und aufgewachsen. Zu seinen intensivsten Kindheitserinnerungen gehört der Besuch eines Friedhofs in der Nähe des Hauses seiner Großeltern, als er sechs oder sieben Jahre alt war. Auf einem Gedenkstein stand, dass Familie Hirschmann in den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz gestorben war. Er buchstabierte die Worte und fragte später seine Mutter: „Was ist Auschwitz? Was ist Buchenwald? Was bedeutet das? Meine Mutter erklärte mir, dass es Konzentrationslager gewesen waren, in denen viele Menschen ermordet wurden. Und später erzählten mir meine Eltern von den Nazis“, erinnert er sich. Als Teenager kaufte Kaps auf einer Reise in einem Budapester Buchladen das Buch Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager. Darin fand er die Geschichte eines in Buchenwald getöteten Ehepaars, in dessen Kleidungsstücke der Name Hirschmann eingenäht war. „Das war der Moment, in dem ich erkannte, dass die Geschichte, die bis dahin weit entfernt schien, etwas mit meiner Heimatstadt Arnstadt zu tun hatte. Das brachte mich auf weitere Fragen und weckte in mir das Bedürfnis, mehr über diese Geschichte zu erfahren“, erklärt er.
Erst viele Jahre später, während seiner Tätigkeit als Sozialarbeiter, ergab sich die Gelegenheit, diesem Interesse tatsächlich nachzugehen – und dadurch auch zahlreichen anderen Menschen die jüdische Geschichte zu vermitteln. Im Winter 2007 beschloss der Stadtrat von Arnstadt, Stolpersteine vor den Häusern verlegen zu lassen, in denen Juden gelebt hatten. Kaps, ein entschiedener Gegner neonazistischer Umtriebe, wurde mit der Erforschung der jüdischen Vergangenheit der Stadt beauftragt. Im Stadtarchiv übergab man ihm ein kleines Buch, Arnstadts Jüdische Mitbürger, sowie vier Blätter mit weiteren Informationen und meinte, mehr als das wäre wohl nicht zu finden.
Doch weit gefehlt: Bei seinen akribischen Recherchen im Archiv entdeckte Kaps schon bald unerwartete Details und Dokumente zur jüdischen Vergangenheit der Stadt. Zunächst machte er sich noch Notizen auf den Seitenrändern des Buches, aber schon bald musste er auf Notizzettel ausweichen, die er zwischen die Seiten steckte. „Es gab so viele Informationen, dass einfach nicht alles auf die Seitenränder passte“, erinnert er sich. Das war der Moment, in dem ihm klar wurde, dass diese Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden mussten. „Das Thema ließ mich nicht mehr los, und ich entschied mich für die Richtung, der ich auch heute noch folge“, so Kaps. „Bis zu diesem Tag hatte ich geglaubt, dass der Fall der Mauer 1989 die spannendste Zeit in meinem Leben gewesen war. Heute weiß ich, dass diese Forschungsarbeit ein weiterer Höhepunkt ist.“
Kaps reiste nach Buchenwald, besuchte zahlreiche Archive, knüpfte Kontakte und erschloss weitere Quellen über das jüdische Leben in Arnstadt. Zum Schluss hatte er 14 große Ordner gefüllt. Der erste persönliche Austausch mit einem Nachfahren einstiger jüdischer Bürger aus Arnstadt entstand, als Robert Cohen aus New York sich im Zusammenhang mit der Familiengeschichte an Kaps wandte. „Ich war tief berührt. Diese Erfahrung hat alles verändert und mir später die Energie gegeben, diese mühevolle Arbeit fortzusetzen“, so Kaps.
Das Ergebnis seiner Arbeit ist beeindruckend: Heute erinnern mehr als 120 Stolpersteine in Arnstadt an die jüdischen Familien, die einst dort lebten. Kaps pflegt den Kontakt zu den Nachfahren 17 jüdischer Familien mit Wurzeln in Arnstadt, die aufgrund der Schrecken des Holocaust buchstäblich über die ganze Welt verstreut sind, von Amerika und Israel über Frankreich, England und die Niederlande bis hin nach Chile, Argentinien und Uruguay. Anfangs nicht ahnend, wohin ihn seine Arbeit führen würde, hat sich Kaps zum führenden Experten für die jüdische Geschichte seiner Stadt entwickelt, der Symposien und Vorträge hält oder sein Wissen bei Führungen weitergibt. Häufig spricht er auch in Schulen über die jüdische Vergangenheit Arnstadts, und er hat Dutzende Schülerreisen nach Auschwitz und Birkenau begleitet.
Mit seiner fundierten Forschungstätigkeit hat Kaps genealogische Daten zusammengetragen und umfassende Familienstammbäume Arnstädter Juden erstellt – einer dieser Stammbäume füllt eine sieben Meter lange Papierrolle. Darüber hinaus hat Kaps auch Versöhnungsprojekte initiiert, die Verwandte von Opfern und Tätern des Holocaust zusammenbringen, um in Schulen zu sprechen und eine offene Diskussion über die Vergangenheit zu führen. „Die Menschen treffen persönlich aufeinander und erzählen den Schülern ihre Familiengeschichten“, erklärt er. Und „die Jugend interessiert sich immer mehr für diese Geschichte.“
Kaps’ Gefühl für soziale Gerechtigkeit entwickelte sich schon früh. In den 1980er Jahren, damals tätig als Maschinen- und Anlagenmonteur, schloss er sich der evangelischen Jugendbewegung Schwerter zu Pflugscharen an, die sich auch mit den gesellschaftlichen Problemen der DDR auseinandersetzte. Dadurch geriet Kaps ins Visier der Staatssicherheit und wurde zweimal verhört. Als Mitglied der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ war er an der Organisation von Demonstrationen in den Monaten vor dem Fall der Mauer beteiligt. Nach der Wende gab Kaps seine Arbeit als Techniker auf und wurde Sozialarbeiter bei der Stadtverwaltung Arnstadt – in dieser Funktion engagiert er sich auch für die Aufklärung über die wachsende Gefahr rechtsextremer Tendenzen. Er hat in einem Jugendclub gearbeitet und Anti-Nazi-Demos organisiert. 2006 wurde er Mitglied der Arbeitsgruppe Demokratie braucht Zivilcourage. Vor diesem Hintergrund trat die Stadtverwaltung von Arnstadt an Kaps heran und beauftragte ihn mit der Erforschung der jüdischen Geschichte der Stadt. Seither hat er das Leben von Familien in aller Welt verändert und seinen deutschen Mitbürgern viel über ihre Vergangenheit vermittelt.
Lisa Black, deren Großmutter aus Arnstadt nach Australien entkam, schätzt Kaps als „einen Mann, der versucht, das Unrecht vergangener Generationen wiedergutzumachen; dabei berührt er in aller Welt das Leben derjenigen, denen Unrecht geschehen ist.“ Ruth Gofin aus Haifa, Israel, sagt: „Kaps vermittelt den Menschen den Schrecken einer Menschheitskatastrophe, indem er die Einzelschicksale der einstigen Nachbarn beschreibt und das Gedenken an sie würdigt.“
Bis heute widmet Kaps sich auch der Pflege des jüdischen Friedhofs im benachbarten Plaue – ein weiteres persönliches Engagement zur Bewahrung der jüdischen Geschichte seiner Region. „Auch meine Generation sollte noch Verantwortung für den Holocaust übernehmen. Das ist keine Frage der Schuld, sondern der Verantwortung nachfolgender Generationen – für die Gegenwart und für die Zukunft“, erklärt er. „Ich werde mich auch weiterhin mit der Shoa befassen – recherchieren, darüber reden, das Bewusstsein dafür schaffen. Es gibt noch viel zu tun. Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen – weder für die Nachfahren der Arnstädter Juden noch für die Bürger dieser Stadt.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
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„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.