Obermayer German Jewish History Award
Ina Lorenz und Jörg Berkemann
Hamburg und Berlin
Im vergangenen Februar haben die Professoren Ina Lorenz und Jörg Berkemann das krönende Ergebnis einer mehr als 20 Jahre umspannenden Recherche- und Schreibarbeit präsentiert: Die sieben Bände und mehr als 5.000 Seiten umfassende Publikation Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39 ist ein Meilenstein für die Geschichtsschreibung und das Verständnis jüdischen Lebens in Hamburg während der NS-Zeit.
„Für mich stellte sich eine sehr wichtige Frage in meinem Leben: Wie konnte es geschehen, dass dieses so genannte zivilisierte Land Deutschland in 12 Jahren derartige Verbrechen begehen konnte und zu einem der verbrecherischsten Länder der Geschichte wurde – und wie war es möglich, dass die Mehrheit der Deutschen der NS-Ideologie folgten und sie akzeptierten?“, sagt Berkemann, ein pensionierter Bundesrichter, der in Berlin und Leipzig tätig war. „Viele Hamburger sind überzeugt, dass Hamburg als internationale Stadt weniger nationalsozialistisch war als andere Städte, aber das stimmt nicht. Hamburg war genauso eine Nazi-Stadt wie Berlin, Frankfurt, München und andere. Als Jurist wollte ich aus moralischer und rechtlicher Sicht wissen, wie die Nazis die Gesetze änderten und neue Gesetze erließen, wie Richter Gesetze verfälschten und fehlinterpretierten, und wie es möglich war, das deutsche Rechtssystem zwischen 1933 und 1945 zu ändern.“
Für Lorenz, eine pensionierte Historikerin mit dem Spezialgebiet Deutsch-jüdische Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts, hat die akribische Arbeit der beiden ein Werk hervorgebracht, das vor allem bei den Bürgern der Stadt zu einem besseren Verständnis der Geschichte und Identität Hamburgs beiträgt. „Es geht nicht nur um die Publikation der Bücher“, sagt sie. „Das Interesse an der jüdischen Geschichte Hamburgs hat unser Wissen und unsere Haltung entscheidend beeinflusst.“ 1933 lebten in Hamburg etwa 24.000 Juden. Mehr als ein Drittel von ihnen, über 9.000, starben durch den Holocaust. Heute „verstehen viele Hamburger besser, wie die NS-Ideologie funktionierte.“
Die 1940 in Hamburg geborene Lorenz hat jüdische Wurzeln in der Stadt, die 200 Jahre zurückreichen. Ihr Großvater erhielt im Februar 1945 den Deportationsbefehl für das Konzentrationslager Theresienstadt, konnte sich der Deportation jedoch im Chaos der letzten Kriegsmonate entziehen. Andere Familienmitglieder hatten nicht so viel Glück und fielen dem Holocaust zum Opfer. Ihre Familie sprach nie über ihre jüdische Geschichte oder die Verfolgung während der NS-Zeit. Das Engagement für das Thema wurde bei Lorenz erst in den 1960er Jahren an der Universität geweckt, als mehr und mehr Informationen über die NS-Zeit ans Licht kamen. Lorenz studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in Wien, Berlin und später in Karlsruhe, wo sie Berkemann kennen lernte, der bei demselben Doktorvater promoviert wurde. Lorenz wurde Historikerin und nahm 1981 ihre Tätigkeit als wissenschaftliche Referentin, später stellvertretende Direktorin, am Institut für die Geschichte der deutschen Juden auf – das erste Institut zur Erforschung und Bewahrung der deutsch-jüdischen Geschichte in Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde.
Lorenz ist Autorin von zahlreichen Büchern und Beiträgen und schätzt das Institut ganz besonders dafür, dass es Hamburg zu einer „Stadt [Deutschlands] mit einer großartigen Forschungseinrichtung für deutsch-jüdische Geschichte“ gemacht hat, auch dank der Tatsache, dass die jüdischen Archive während des Krieges gerettet und nicht der Gestapo übergeben wurden. Zu den von Lorenz verfassten Büchern gehört Leo Lippmann (1881-1943) - Ein deutscher Jude, in dem das Leben eines führenden Mitglieds der jüdischen Gemeinde im Hamburg der 1930er Jahre beschrieben wird. Lippmann beging Selbstmord, nachdem die Nationalsozialisten seine Deportation nach Theresienstadt angeordnet hatten. Ein weiteres Beispiel ist das zweibändige Werk Die Hamburger Juden in der Weimarer Republik. Eine Dokumentation.
Der 1937 ebenfalls in Hamburg geborene Berkemann studierte Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg sowie Philosophie, Neuere Geschichte und Soziologie an Universitäten in Berlin und Karlsruhe. Er übte im Laufe seiner Karriere zahlreiche Richterämter am Landgericht Hamburg, dem Oberverwaltungsgericht Hamburg und dem Bundesverwaltungsgericht aus. Seine Spezialgebiete als Lehrbeauftragter und später Honorarprofessor sind Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte. Darüber hinaus hat er Hunderte von Artikeln zur Analyse der inneren Struktur und staatlichen Verwaltung des NS-Regimes verfasst.
Als Professoren haben Lorenz und Berkemann mit ihren jeweiligen Fachgebieten gemeinsam mehrere Bücher mit Fokus auf dem jüdischen Hamburg herausgebracht. Das erste, etwa 900 Seiten umfassende zweibändige Werk Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen (1663-1993) erschien 1995 und befasste sich mit dem historischen jüdischen Friedhof von 1665, den die Nationalsozialisten so stark verwüsteten, dass von den ursprünglich 7.000 bis 8.000 Grabsteinen nur 600 bis 800 erhalten blieben. Der Friedhof wurde später verkauft und an seiner Stelle ein Kaufhaus errichtet, was eine äußerst kontroverse Diskussion auslöste – und breites Interesse an der Arbeit von Lorenz und Berkemann weckte.
„Die Position des Hamburger Senats war nicht klar, und zu der Zeit war der Antisemitismus bei uns stark“, erinnert sich Berkemann. „Dieses Buch herauszugeben war sehr wichtig, denn die breite Hamburger Öffentlichkeit wusste nichts über die Geschichte der jüdischen Friedhöfe, weder vor noch nach 1945. Wir untersuchten den Fall sowohl aus historischer wie aus rechtlicher Perspektive und erzielten damit eine sehr positive Wirkung: Auf dieses Pionierprojekt folgten weitere Bücher zu Hamburger Friedhöfen.“
In den 1990er Jahren beschlossen Lorenz und Berkemann schließlich, ihre beiden Fachgebiete – sie als Historikerin, er als Jurist – zusammenzuführen, um Die Hamburger Juden im NS-Staat zu schreiben. Das umfassende Werk basiert auf mehr als 200.000 Dokumenten, ist in 58 Kapitel unterteilt, und seine Vollendung nahm mehr als zwei Jahrzehnte in Anspruch. Die Reihe beginnt mit einer zweibändigen Monografie, in der die Geschichte der Diskriminierung und Verfolgung der Juden der Stadt beschrieben und die Umsetzung der nationalsozialistischen Politik präzise analysiert wird. Die nächsten vier Bände sind eine detaillierte, breit kommentierte Dokumentation, die das Leben der Hamburger Juden unter der NS-Herrschaft beschreibt und so ein exaktes, lebendiges Bild der Zeit liefert. Der letzte Band ist ein Index. Das Werk stützt sich in wesentlichen Teilen auf das Staatsarchiv Hamburg und gilt als umfassendste Dokumentation zu den Lebensbedingungen und dem Schicksal der Hamburger Juden im Dritten Reich.
„Diese äußerst beeindruckende Übersicht und Dokumentation kann eine wichtige Hilfestellung für Forscher, Lehrplanersteller und Schulbuchautoren sein, nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland, und mag Historikern als Anreiz dienen, ähnliche Werke über andere Städte oder Regionen in Deutschland während der NS-Zeit zu schreiben“, sagt Professor Moshe Zimmermann aus Kiriat Ono, Israel. Stefan Rohrbacher, Professor am Institut für Jüdische Studien der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf, lobt das Werk als „bahnbrechende“ und „wahrhaft herausragende Arbeit“. Insbesondere die ersten zwei Bände „sind einzigartig“, sagt er: „Es gibt aktuell keine andere Monografie zu den Juden in einer der großen Städte NS-Deutschlands, die mit dieser zu vergleichen wäre. [Das Werk] ist eine äußerst beeindruckende, vorbildliche wissenschaftliche Arbeit und ein herausragendes Beispiel jahrzehntelangen Engagements für die deutsch-jüdische Geschichte. Aus diesem epochalen Werk spricht die Würde der verfolgten und gequälten Juden, und ihr unermüdlicher Kampf um die Aufrechterhaltung eines selbstbestimmten Lebens in Anstand und Solidarität.“
Berkemanns Triebfeder für seine Forschungsarbeit ist das Bemühen zu verstehen, wie genau die Gesetze während der NS-Herrschaft geändert wurden, insbesondere auch unter moralischen Aspekten. „All die Verbrechen wurden von Deutschen verübt; es ist also sehr wichtig zu wissen, warum das geschah und wer für diese Verbrechen verantwortlich war. Und als Jurist ist es wichtig zu wissen, dass die Nationalsozialisten die Verbrechen mit den so genannten Rassegesetzen rechtfertigten“, sagt er. Mit Blick auf die angespannte Diskussion zur Einwanderungspolitik, die Deutschland gerade bewegt, erkennt Berkemann reale und gefährliche Parallelen zwischen den 1930er Jahren und heute.
„Die neue Rechte nutzt in ihren Angriffen gegen den Islam die gleichen Argumente, mit denen die Nazis gegen die Juden vorgingen. Sie fordern, dass man alle Moscheen schließen sollte – das ist genau das Gleiche wie damals zu sagen, dass alle Synagogen geschlossen werden müssen; sie sagen, dass ein Moslem niemals Deutscher sein kann – das ist das Gleiche wie zu sagen, dass Juden niemals Deutsche sein können. Wir können viel aus der NS-Geschichte Deutschlands lernen, um neue anti-islamische, antisemitische, zuwanderungsfeindliche Zeiten zu verhindern“, erklärt er.
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.