Obermayer German Jewish History Award
Hans-Jürgen Beck
Bad Kissingen, Bayern
Seit Jahrhunderten ist das bayrische Bad Kissingen berühmt für seine Heilquellen. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte die Stadt auch eine blühende kleine jüdische Gemeinde, und viele Mitglieder waren im Kurgastgeschäft tätig. Doch darüber herrschte nach dem Krieg tiefes Schweigen.
So enthielt die offizielle Stadtchronik nur wenige Seiten zur jüdischen Geschichte und sagte im Zusammenhang mit der Zerstörung der Synagoge lediglich: „Die Vorgänge, die dazu führten, und das weitere Schicksal der jüdischen Bürger Kissingens sind allgemein bekannt.“ Die heißen Quellen, die 1945 geschlossen worden waren, wurden wieder geöffnet – und das war alles.
Hans-Jürgen Beck, in Bad Kissingen geboren und aufgewachsen, gab sich mir dieser Chronik nicht zufrieden. Angeregt durch ausgezeichnete Lehrer und Dozenten setzte er sich vertieft mit der jüdischen Vergangenheit seines Heimatortes auseinander und sollte damit später das Geschichtsbild nachhaltig verändern.
Heute gehen zahlreiche Publikationen und Ausstellungen sowie jüdische Kulturtage auf Becks Engagement zurück. Das größte Geschenk sind für ihn jedoch seine neu gewonnenen jüdischen Freunde, die persönlichen Kontakte, die durch seine Tätigkeit entstanden sind.
Beck begann im Jahr 1982, während seines Studiums der Germanistik und Theologie an der Universität Würzburg, sich ernsthaft für die jüdische Geschichte seiner Heimat zu interessieren. Der damals 20-Jährige begab sich auf eine Suche, die schließlich in seine Zulassungsarbeit zum 1. Staatsexamen münden würde. Zu der Zeit „gab es kaum Veröffentlichungen, die sich eingehender mit der jüdischen Lokalgeschichte befassten. Man setzte sich nicht mit der NS-Zeit auseinander. Dieses Blatt war gänzlich unbeschrieben.“ Er befragte Mitbürger, die sich an ihre ehemaligen jüdischen Nachbarn erinnerten, und recherchierte in Archiven. Große Unterstützung fand er auch beim damaligen Bürgermeister von Bad Kissingen, Georg Straus, der während seiner Amtszeit selbst schon Kontakt zu ehemaligen jüdischen Bürgern aufgenommen und sie nach Bad Kissingen eingeladen hatte. Beck versuchte sogar, mit einem alten Nazi zu sprechen, der einst eine Zeichnung der Synagoge von Bad Kissingen angefertigt hatte. „Er machte mir die Tür vor der Nase zu.“ Aber Beck führte seine Arbeit unbeirrt fort: „Das Thema ließ mich einfach nicht los.“
Bis 1988 gelang es ihm, die jahrhundertealte jüdische Lokalgeschichte vom Mittelalter bis zum Holocaust Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Seine Forschungsergebnisse bildeten die Grundlage für eine Ausstellung anlässlich des 50. Jahrestags der Reichspogromnacht 1988, die von Schülern seines ehemaligen Geschichtslehrers Rudolf Walter zusammengetragen wurde. Heute ist die Sammlung eine Dauerausstellung im jüdischen Gemeindehaus Bad Kissingen in direkter Nachbarschaft des einstigen Standorts der Synagoge. Seit dieser Zeit arbeiten Beck und Walter eng zusammen.
Dank Beck, inzwischen 50 Jahre alt, kennt man heute die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Bad Kissingen sehr genau: von der ersten Erwähnung im 14. Jahrhundert bis zum Ende der Gemeinde unter der NS-Herrschaft. Zu ihrer Hoch-Zeit in den 1920er Jahren hatte die jüdische Gemeinde 504 Mitglieder. Darüber hinaus kamen aber auch zahlreiche Juden immer wieder als Kurgäste in die Stadt, die sich in jüdisch geführten Hotels einquartierten und jüdische Restaurants, Ärzte und religiöse Veranstaltungen besuchten.
Die Dauerausstellung dokumentiert dieses blühende Leben. 1990 brachten Beck und Walter ein gemeinsames Werk heraus: Das Buch Jüdisches Leben in Bad Kissingen ist eine umfassende illustrierte Geschichte der jüdischen Gemeinde vor der Hitler-Zeit.
Seit 1993 gibt Beck als Religions- und Deutschlehrer am Bad Kissinger Gymnasium, das auch er früher besuchte, sein Wissen an nachfolgende Generationen weiter. Darüber hinaus pflegt er auch weiterhin den Kontakt zu ehemaligen jüdischen Familien, die er in den 1980er Jahren über ihre Suche nach den Wurzeln ihrer Familien kennen lernte.
Elizabeth Levy, die Beck für die Obermayer Awards vorschlug, sagt dazu, dass er „das Leben zahlreicher Menschen berührte – und nach wie vor berührt, seien es Juden auf der Suche nach der Geschichte ihrer Familien oder einfach Menschen, die etwas über die Geschichte ihrer Stadt erfahren wollen.“
Wer mehr über die jüdische Lokalgeschichte oder den jüdischen Glauben und die jüdische Kultur wissen will, braucht heute einfach nur zu schauen, was Beck plant: Er hat Tagungen und Veranstaltungen organisiert, Vorträge gehalten und didaktische Konzepte entwickelt. Er hat Licht in die dunklen Seiten der Lokalgeschichte gebracht: Heute sind die Ereignisse der Reichspogromnacht und die Deportation der Juden von Bad Kissingen bekannt und man spricht darüber, nicht zuletzt auch aufgrund der Gedenkveranstaltungen, die Beck seit 1988 bis heute organisiert.
Sein unstillbarer Wissensdurst hat Beck auch zu einem Experten für den jüdischen Friedhof von Bad Kissingen gemacht, ebenso wie für die Neue Synagoge, die in der Reichspogromnacht beschädigt und 1939 niedergerissen wurde. Becks Recherchen förderten Original-Zeichnungen und -Fotos der Synagoge zutage, anhand derer Studenten der TU Darmstadt in der Lage waren, das Gebäude digital zu rekonstruieren. So kann sie heute im Rahmen dieses bemerkenswerten Projekts virtuell besichtigt werden. 2007 wurde das Projekt erstmals auf großer Leinwand vorgestellt. „Das Licht ging aus, und das Bild erschien. Und es waren viele Menschen im Raum, die die Synagoge noch mindestens von außen mit eigenen Augen gesehen hatten“, erinnert sich Beck. „Es war ganz still im Raum, und es herrschte eine Atmosphäre gespannter Aufmerksamkeit.“
Beck hat alles dafür getan, um dafür zu sorgen, dass die einstigen jüdischen Mitbürger nicht in Vergessenheit geraten. So initiierte er 2002 die jüdischen Kulturtage, mit Konzerten, Vorträgen und Ausstellungen über das ganze Jahr hinweg; die Veranstaltungsreihe findet seitdem alle zwei bis drei Jahre statt. 2011 organisierte und präsentierte er anlässlich des 90. Geburtstags von Physik-Nobelpreisträger Jack Steinberger, der aus Bad Kissingen stammt und mit seiner Familie in die USA floh, eine Reihe von Vorträgen und Konzerten: „Vom Kantorensohn zum Nobelpreisträger“.
Beck hat darüber hinaus genealogische Recherchen durchgeführt sowie Familientreffen und geschichtliche Führungen für Juden organisiert, die ihre ehemalige Heimatstadt besuchten. Diese Besuche beschreibt er als unvergesslich. Eine Frau, die geschworen hatte, niemals zurückzukehren, kam schließlich doch in Begleitung ihres erwachsenen Sohnes. „Wir betraten den Konzertsaal, und sie begann zu weinen“ – es war der Saal, aus dem sie als jüdisches Kind verbannt worden war, als ihre Tanzschule dort den Abschlussball feierte. Über die Jahre hat Beck viele solche Erinnerungen gehört. Er hat auch von Nichtjuden erfahren, die jüdische Nachbarn bei der Gestapo denunzierten, und von den wenigen nichtjüdischen Mitbürgern, die halfen.
Der verloren gegangenen jüdischen Gemeinde Namen und Gesichter zu geben, war zugleich erfüllend und schmerzhaft. „Im Würzburger Staatsarchiv war es beklemmend, als ich in der Gestapo-Akte die Seite mit dem Hinweis auf die Deportationsliste sah. Ich hatte irgendwie das Gefühl, diese Menschen kennen gelernt zu haben. Und dann liest man plötzlich, dass sie deportiert und ermordet wurden.“
Dreißig Jahre sind vergangen, seit Beck während des Studiums sein erstes Projekt startete. Nicht zuletzt dank seiner Arbeit ist die reiche und vielfältige Geschichte der Bad Kissinger Juden heute keine Fußnote mehr. Beck sagt dazu: „Ich fühlte mich diesen Menschen gegenüber verpflichtet, dass sie und ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.