Obermayer German Jewish History Award
GröschlerHaus
Volker Landig und Hartmut Peters
Jever, Niedersachsen
Das GröschlerHaus wurde im Jahr 2014 als Zentrum für Jüdische Geschichte und Zeitgeschichte der Region Friesland/Wilhelmshaven gegründet und dient seither als Informationsstätte, Veranstaltungsort und Treffpunkt für Menschen, die das jüdische Erbe von Jever und Umgebung im Nordwesten Deutschlands wiederentdecken und bewahren wollen. Das Haus, das am Standort der ehemaligen Jeveraner Synagoge steht, wird auch als außerschulischer Lernort für Schüler in den Fächern Geschichte, Politik, Religion und Werte/Normen sowie für die Erwachsenenbildung genutzt. Benannt ist das Zentrum nach den Brüdern Hermann und Julius Gröschler. Sie waren die letzten Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Jever und starben beide durch den Holocaust.
Das GröschlerHaus, das durch den Zweckverband Schlossmuseum Jever, den Landkreis Friesland und den Jeverländischen Altertums- und Heimatverein e.V. gefördert wird, beherbergt die Ausstellung Zur Geschichte der Juden Jevers und hat sich zu einem dynamischen kulturellen Lernort entwickelt, der das weitgehend in Vergessenheit geratene jüdische Erbe und die jüdische Lokalgeschichte wieder zum Leben erweckt. „Die jüdische Tradition ist so wichtig in dieser Region, und es gibt darüber so viel zu erzählen und entdecken, so vieles, das zum Nachdenken anregt“, erklärt Volker Landig, pensionierter evangelischer Pfarrer und einer der Gründer des GröschlerHaus, das von einem kleinen Team von Freiwilligen verwaltet und betrieben wird. „Das war der Grund, warum wir mit dieser Arbeit begonnen haben: Wir wollten, dass die Bevölkerung alles über diesen Teil der Geschichte erfährt.“
Landigs Engagement für die Wiederbelebung der jüdischen Vergangenheit in Friesland begann vor mehr als 40 Jahren. Als er 1976 nach Jever zog, stellte er mit Erstaunen fest, dass von der jüdischen Vergangenheit der Stadt nichts mehr zu sehen war. Landig hatte Geschichte studiert und einen Abschluss in Theologie erworben, mit Schwerpunkten auf den deutsch-jüdischen Philosophen Martin Buber und Hermann Cohen, und er wusste, dass Jever vor dem Krieg eine wichtige jüdische Gemeinde gehabt hatte. „Mein Interesse war geweckt“, erinnert er sich. „Ich entdeckte einen großen jüdischen Friedhof, der in einem sehr, sehr schlechten Zustand war, und machte mich gemeinsam mit meinen Konfirmanden an die Wiederherstellung.“ Zwei Jahre später initiierte er zusammen mit dem Bürgermeister von Jever eine Messing-Gedenktafel an dem Gebäude, das heute auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge steht. Darüber hinaus begann er, die Familiengeschichten der einstigen jüdischen Bürger von Jever zu recherchieren und den Kontakt zu den heute noch lebenden Nachfahren zu suchen.
Eine dieser Nachfahren war Paulette Buchheim aus Malden, Massachusetts, USA, deren Großonkel Fritz Levy 1939 von Deutschland nach Shanghai floh und später nach San Francisco ging, bevor er 1950 nach Jever zurückkehrte. Levy bekam das Familieneigentum zurück und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1982 in der Stadt, wo er als „der letzte Jude von Jever“ bekannt war. Er war auch der letzte Mensch, der auf dem jüdischen Friedhof von Jever beerdigt wurde. Hartmut Peters, ein Lehrer am Mariengymnasium, der in den frühen 1980er Jahren ein Schülerprojekt außerhalb des Stundenplans zur Erforschung der jüdischen Vergangenheit der Stadt initiierte – und viele Jahre später gemeinsam mit Landig das GröschlerHaus gründete – kannte Levy und sah in dem unangepassten Mann „einen meiner ,Cultural Heroes‘.“
Buchheim würdigt die Gründung des GröschlerHaus als Höhepunkt „eines Lebens voller Leidenschaft und Engagement“ von Landig und Peters für das Aufspüren persönlicher Geschichten wie der ihres Großonkels. „Mit ihrer Arbeit haben sie die Schüler in Jever erreicht und ihnen geholfen, die Vergangenheit zu verstehen“, sagt sie, und „sie waren auch wichtige Ansprechpartner für die Kinder und Enkelkinder der Jeveraner Juden.“
Erst ab 1983, nachdem Landig und Peters sich schließlich kennen gelernt hatten, wurde das jüdische Vermächtnis von Jever vollständig erforscht. Im Jahr darauf organisierten die beiden gemeinsam mit Schülern eine Woche der Begegnung, während der auch ein christlich-jüdischer Gottesdienst in der städtischen Kirche stattfand, an dem über zwei Dutzend ehemalige jüdische Bürger Jevers teilnahmen. Die Veranstaltung wurde zu einem historischen Wiedersehen unter Mitwirkung des hochangesehenen deutschen Rabbis Henry George Brandt. Landig war damals der offizielle Vertreter der evangelisch-lutherischen Kirche in der Region Oldenburg und konnte damit als Brückenbauer zwischen den Religionen agieren. „Wir akzeptieren die jüdische Tradition und erkennen das Judentum als Mutterreligion an“, erklärt er. „Wir wollen, dass die heutigen Juden in Europa wissen, dass wir uns schämen für das, was geschah, und dass wir von ihnen lernen müssen – von den Zeiten der jüdischen Geschichte, die dem Christentum vorausgingen.“
Seit dem einwöchigen Besuch der aus Jever vertriebenen Juden hat Peters zahlreiche Zeitungsartikel und zwei Bücher geschrieben: Das erste, Verbannte Bürger: Die Juden aus Jever: Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der Juden Jevers 1698–1984 ist eine Chronik der jüdischen Geschichte zu Jever. Das zweite Buch beschreibt die Geschichte der städtischen Synagoge und ihre Zerstörung in der Reichspogromnacht. Dank der unermüdlichen Recherchen von Landig und Peters können die Besucher des GröschlerHaus sich heute über die mehrere Jahrhunderte zurückreichende jüdische Geschichte der Stadt informieren, beginnend im Jahr 1698, als die ersten jüdischen Händler sich in der bäuerlichen Region niederließen. Zu ihrer Hochzeit im Jahr 1900 hatte die jüdische Gemeinde zu Jever rund 200 Mitglieder – eine beträchtliche Zahl, gemessen an der Größe der Stadt. Mindestens 67 jüdische Jeveraner wurden von den Nationalsozialisten umgebracht; der erste starb 1938 in Sachsenhausen bei Berlin, der letzte 1945, zusammen mit Hunderten anderen Juden, bei der See-Evakuierung des Konzentrationslagers Neuengamme, als das Schiff versehentlich durch britische Bomber versenkt wurde.
Neben Musikveranstaltungen, Ausstellungen, Vorträgen und anderen Aktivitäten betreibt das GröschlerHaus eine Website. Viele der über 100 dort zu findenden Artikel stammen von Hartmut Peters. Die Seite hat sich zu einem regionalen Online-Magazin für die Lokalgeschichte der Juden und der NS-Zeit der Region entwickelt. 1986 wurde Peters für die Organisation des Besuchs der vertriebenen jüdischen Bürger und seinen Beitrag zur Vermittlung der jüdischen Vergangenheit von Jever zusammen mit Schülern mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet. „Im Jahre 2016 kommen die Schüler nun zum Gröschler-Haus, und erfahren Geschichte an einem authentischen Erinnerungsort“, sagt Peters, 67, der Lehrer wurde mit dem Ziel, „die Gesellschaft zu verändern“ und sie mit ihrer NS-Vergangenheit zu konfrontieren. „Die jungen Menschen, die zu uns kommen, sind sehr interessiert. Sie wissen mehr über die Vergangenheit als die Schüler früher. Sie wollen Teil der Lösung sein. Im GröschlerHaus können sie sehen, was wirklich geschah – dass es nicht nur etwas ist, das in Büchern steht.“
Landig und Peters organisieren alljährlich eine Gedenkfeier anlässlich der Reichspogromnacht in Jever. 1996 initiierten sie ein Mahnmal für die Ermordeten Juden Jevers in Form dreier Stapel von Büchern an einer Mauer des Gefängnisses von Jever, in dem die Juden 1938 vor ihrer Deportation in die Konzentrationslager interniert waren. Auf den Rücken der Bücher sind die Namen der 67 jüdischen Bürger eingraviert, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. (Das Mahnmal wurde ausschließlich durch Spenden aus der Bevölkerung finanziert und für damals rund 60.000 DM – ca. 30.000 EUR – errichtet.) Die ganze Woche über arbeiten Ehrenamtliche im GröschlerHaus, das Einwohnern und Besuchern offensteht, die sich über die jüdische Vergangenheit von Jever informieren möchten.
Erst kürzlich wurde entdeckt, dass das Gebäude auf den Überresten einer alten Mikwe steht. Das rituelle Bad ist wohl die einzige erhaltene Mikwe in Nordwestdeutschland. Landig erklärt: „Wir werden die Mikwe restaurieren und eine Glasdecke anbringen, damit die Besucher sie anschauen können und einen Eindruck davon bekommen, wie so eine Mikwe funktionierte.“
Er hofft, dass es in der Zukunft gelingt, die Mittel für den Kauf des GröschlerHaus zu beschaffen, das finanziell durch lokale Behörden, die Europäische Union und private Spenden getragen wird. Landig betrachtet die Arbeit als eine „humanitäre Verpflichtung jedes einzelnen Menschen, nicht nur von Christen. Wir leben alle zusammen in dieser Welt, wir müssen uns gegenseitig respektieren, andere Identitäten, andere Philosophien, andere Nationalitäten anerkennen und uns bewusst machen, was wir selbst sind“, sagt er.
Peters, der 2014 pensioniert wurde, ist überzeugt, dass das GröschlerHaus und die Vermittlung des Wissens um das jüdische Vermächtnis von Jever an die nächste Generation auch in Zukunft weitergeführt werden müssen. „Wir machen weiter, um die Erinnerung in der Gesellschaft zu institutionalisieren und sie von unserer Pionier-Generation zu lösen“, sagt er. Die Leistungen und Beiträge der Juden, die Verbrechen, die an ihnen verübt wurden, und die Ursachen müssten gleichermaßen im kollektiven Gedächtnis gespeichert werden. „Wir brauchen eine neue Form der Erinnerungskultur. Daran führt kein Weg vorbei.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.