Obermayer German Jewish History Award
Christian Repkewitz
Altenburg, Thüringen
Im Jahr 2004 lernte Christian Repkewitz Ingolf Strassmann kennen, der als Kind während des Zweiten Weltkriegs aus Altenburg fliehen musste und mit zwei seiner vier Geschwister nach Palästina entkam. Strassmann arbeitete zu der Zeit an der Dokumentation der Geschichte jüdischen Lebens in Altenburg und wandte sich an Repkewitz auf der Suche nach einem Herausgeber und finanzieller Unterstützung für das Projekt. Je mehr die zwei ins Gespräch kamen, desto stärker war Repkewitz von Strassmanns Erzählungen fasziniert. „Ich wusste wirklich kaum etwas über jüdisches Leben in Altenburg“, so Repkewitz. „Aber mit der Zeit wollte ich immer mehr darüber wissen. Mein Interesse und mein Forschungsdrang wuchsen, und am Ende war ich einfach ,gefangen‘.“
Der damals 24-jährige Repkewitz war erst drei Jahre zuvor in die thüringische Stadt gezogen, um als Pressereferent des Bürgermeisters zu arbeiten. Über die jüdische Geschichte Deutschlands wusste er wenig, abgesehen von den Grundkenntnissen aus seiner Schulzeit in Ostdeutschland. Doch schon bald setzte Repkewitz seine neue Passion für die jüdische Geschichte auch öffentlich um: Er organisierte die Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der Pogromnacht in Altenburg, wo vor dem Krieg um die 300 Juden gelebt hatten. Darüber hinaus initiierte er die Verlegung von drei Stolpersteinen vor dem Gebäude, in dem die bekannte Familie Levy ihr Warenhaus betrieben hatte, und baute intensive Kontakte zu den Nachfahren ehemaliger Altenburger Juden auf. All dies regte Repkewitz schließlich zu seinem größten Projekt an: „Ich wollte wissen, was für Familien hier gelebt und in welchen Berufen sie gearbeitet hatten.“ Und so machte er sich an die Entwicklung eines speziellen Stadtplans, in dem alle Gebäude markiert sind, die eine Verbindung zur jüdischen Vergangenheit der Stadt haben.
„Anfangs dachte ich, dass es nur wenige Häuser in der Stadt sein würden. Aber das Projekt wurde immer größer“, erinnert er sich. Repkewitz besuchte die Stadt- und Landesarchive und studierte Wiedergutmachungsakten in Hannoveraner Archiven. Ein Freund entwickelte für ihn eine Software, mit der er Gebäude mit jüdischem Bezug direkt in eine Google-Karte eintragen konnte. Schließlich – nach vier Jahre akribischer Arbeit, die er ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte – veröffentlichte Repkewitz den Online-Stadtplan Das jüdische Altenburg: Er zeigt mehr als 300 jüdische Wohn- und Geschäftshäuser, mit Informationen über die Menschen, die dort lebten und arbeiteten. Daneben hat er Führungen durch das jüdische Altenburg am Tag des offenen Denkmals geleitet und für die Lokalzeitung zahlreiche Artikel über seine Entdeckungen geschrieben.
Doch all das genügte Repkewitz noch nicht: „Ich hatte so viele Informationen gesammelt, die zu der Zeit nur ich hatte – warum nicht alles in einem Buch zusammentragen, damit auch andere etwas davon haben?“ So begann Repkewitz 2011 mit einer Art „fließendem Forschungsprozess“, in dessen Verlauf er 190 einzelne Lebensgeschichten zusammentrug. Die Grundlage dafür bildeten Briefe, Fotos, Dokumente und Archivmaterialien, die ihm von den Nachfahren Altenburger Juden zur Verfügung gestellt worden waren. „Ich musste einfach mehr über diese Menschen in Erfahrung bringen“, erzählt Repkewitz, dessen Buch schließlich 2014 erschien: Verblasste Spuren: Lebens- und Leidenswege jüdischer Einwohner der Stadt Altenburg von 1869 bis 1945. Es beschreibt die Einzelschicksale von knapp 500 Juden seit der Gründung der Stadt.
Der heute 34-jährige Repkewitz ist eine der führenden jungen Stimmen des Gedenkens an die jüdische Geschichte der Region. Neben seiner Autorentätigkeit hat er auch ein Schulprojekt unter dem Titel „Anne Frank war nicht allein“ initiiert. Es vermittelt am tragischen Beispiel der jungen Anne Frank aus Amsterdam die Geschichte des Holocaust und weckt bei den Schülern das Interesse für die Geschichte der jüdischen Kinder in ihrer Stadt, die unbekannt blieben, aber das gleiche Schicksal erlitten wie Anne Frank.
Zum 75. Jahrestag der „Polenaktion“ 1938, die die Zwangsausweisung polnischer Juden aus Deutschland bedeutete, schrieb Repkewitz eine Broschüre. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender des Kommunalpolitischen Rings Altenburger Land (KORA). Der Verein präsentierte anlässlich der Gedenkfeier zur Pogromnacht im Jahr 2012 ein Banner mit Namen und Informationen zu 221 Juden aus Altenburg, die im Holocaust umgekommen waren – ein einzigartiges Ereignis, das laut Repkewitz in der Gemeinde auf enorm positive Resonanz stieß.
„All diese Menschen, die ich in meinem Buch beschreibe, waren Nachbarn, Kollegen, Freunde von Altenburger Bürgern, aber ihre Spuren sind heute fast vollständig verblasst“, erklärt er. Hohe Anerkennung wird Repkewitz auch von jüdischen Familien aus Israel, Amerika und Europa zuteil, denen er half, die Geschichte ihrer Angehörigen zu retten. Laut Dafna Yalon aus Ein-Vered, Israel, eine der Nominierenden, ist es Repkewitz nicht nur „gelungen, die Erinnerung an die ausgelöschte jüdische Gemeinde in Altenburg wieder zum Leben zu erwecken, [sondern er] initiiert auch immer wieder Gelegenheiten, um das Interesse seiner Mitbürger zu wecken – insbesondere bei der jüngeren Generation. Allein und ehrenamtlich hat er ein öffentliches Bewusstsein für das einstige jüdische Leben in seiner Stadt geschaffen.“
Tatsächlich ist es Repkewitz ein großes Anliegen, Menschen seines Alters und auch die noch Jüngeren zu erreichen: „Ich bin davon überzeugt, dass meine Generation ebenso wie die Generation davor und danach von diesen Menschen erfahren muss, weil sie Bürger wie alle anderen Altenburger Bürger waren, die vertrieben wurden. Wir müssen uns erinnern, denn der Antisemitismus von heute oder die Israel-Frage zeigen, dass das Thema heute so aktuell ist wie eh und je.“
Bevor er mit seiner Arbeit begann, sprach man kaum über das jüdische Vermächtnis in Altenburg, einer Stadt mit 33.000 Einwohnern, die 50 Kilometer südlich von Leipzig im Herzen der ehemaligen DDR liegt. Repkewitz glaubt, dass die Schüler dort heute „besonders interessiert sind, [weil] die jüdische Geschichte in der DDR nicht im Fokus stand. Ich denke, dass die Jugendlichen von heute alles über ihre Stadt wissen wollen – es geht ihnen nicht nur um die Fakten, sondern auch um die Geschichten und Schicksale der Menschen.“
„Das Wichtigste ist dabei der Kontakt zu den jüdischen Nachfahren ehemaliger Altenburger Bürger und der daraus entstandene Austausch. Viele Informationen über die Vergangenheit gibt es nicht mehr – umso wichtiger sind deshalb die persönlichen Beziehungen“, fügt er hinzu. Mit Blick auf die Zukunft sagt er: „Ich werde meine Arbeit fortsetzen. Vielleicht schreibe ich ein weiteres Buch. Ich will weitermachen und werde hoffentlich noch mehr Details zum jüdischen Leben in Altenburg entdecken. Ich habe nicht das Gefühl, mit meiner Arbeit schon am Ende angekommen zu sein.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.