Obermayer Award
Ein ehemaliges Lager für jüdische Überlebende mit komplexer Geschichte
Erinnerungsort BADEHAUS: Zentrum für Bildung und Verständigung
Toby Axelrod
Die vielschichtige Kriegsgeschichte von Wolfratshausen lag jahrzehntelang begraben, nahezu vergessen, sogar verdrängt. Erst als das ehemalige Badehaus vor mehr als zehn Jahren verkauft und abgerissen werden sollte, kam die Vergangenheit in ihrem ganzen Ausmaß wieder ans Licht – und wird seither aufgearbeitet.
Das Badehaus ist ein stummer Zeuge der Geschichte der NS-Zeit und ihrer Folgen.
Heute ist es ein Erinnerungsort, der die Geschichte vom Überleben, von Migration und dem Wiederaufbau zerrütteter Leben erzählt, mit Hilfe von Zeitzeugenberichten und einem partizipativen, intergenerationellen Ansatz. Es ist unermüdlichem ehrenamtlichem Engagement zu verdanken, dass die kleine Stadt Wolfratshausen in Oberbayern heute ein Vorbild für die Zusammenarbeit von Menschen aller Altersgruppen und Hintergründe ist, um die Vergangenheit anschaulich und zeitgemäß zu vermitteln.
„Wir haben im BADEHAUS und darum herum eine kleine besondere Welt geschaffen“, erklärt die Historikerin und Journalistin Dr. Sybille Krafft, die buchstäblich treibende Kraft hinter dem Erinnerungsort. „Und das Herz unseres Projekts ist der Kontakt zu den Zeitzeugen und ihren Familien.“
Das Badehaus wurde 1940 von den Nationalsozialisten für die Beschäftigten und Zwangsarbeiter*innen in der nahegelegenen Föhrenwalder Munitionsfabrik erbaut. Nach dem Krieg betrieb die US-Armee in Föhrenwald ein Lager für jüdische Displaced Persons – bis zu 6.000 Überlebende des Holocaust –, die das Badehaus nutzten und später im Keller eine Mikwe, ein rituelles jüdisches Bad, errichteten.
Föhrenwald war eines der größten unter hunderten von Lagern, die nach dem Krieg für jüdische Geflüchtete in Deutschland eingerichtet wurden, und das letzte, das 1957 geschlossen wurde. Später lebten hier deutsche katholische Heimatvertriebene aus den von den Nationalsozialisten besetzten Ländern. Das Badehaus wurde zu einem Wohnhaus für Lehrkräfte und Schüler*innen umgebaut und die Siedlung in Waldram umbenannt.
Ältere Einwohner von Wolfratshausen kannten diese komplexe Geschichte und hatten mit eigenen Augen gesehen, wie die SS jüdische Gefangene aus dem rund 50 Kilometer entfernten KZ Dachau im Frühjahr 1945, kurz vor der Kapitulation, auf einem der so genannten Todesmärsche in der Nähe vorbeiführte. So wurde Föhrenwald für viele Holocaust-Überlebende zum Ort der Befreiung durch die amerikanischen Truppen.
Kaum jemand sprach offen über diese Vergangenheit vor der eigenen Haustür, und selbst in der Schule wurde diese Zeit nicht behandelt. „Dieser Teil der Geschichte geriet in Vergessenheit und wurde sehr erfolgreich verdrängt“, sagt Krafft (63). „Generationen von Schülerinnen und Schülern wuchsen auf, ohne irgendetwas über diese ganz besondere Geschichte zu erfahren.“
Ein geplanter Abriss des Badehauses im Jahr 2012 gab Krafft den Anstoß zum Handeln. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründete sie den Verein „Bürger fürs BADEHAUS Waldram-Föhrenwald e.V.“, der sich für den Erhalt des Gebäudes und den Umbau zu einem Ort der Erinnerung, Begegnung und Dokumentation einsetzte.
Haus und Grundstück gehörten zu einem großen Gelände im Besitz der Seminarstiftung St. Matthias und sollten an einen Projektentwickler verkauft werden.
Die Stiftung „hatte andere, lukrativere Pläne für das Gelände nach dem Abriss des Badehauses“, erzählt Historikerin Dr. Ute Frevert, Direktorin am Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin und Unterstützerin des Erinnerungsortes BADEHAUS. „Man war nicht gerade begeistert von dieser Initiative.“
Der Verein musste aber nicht nur Kirche und Stadt überzeugen, einen potenziellen Immobiliendeal aufzugeben, sondern auch die Nachbarschaft dazu bewegen, sich mit einer schwierigen Vergangenheit auseinanderzusetzen. „Einige wollten einfach nicht mehr an die NS-Zeit erinnert werden“, sagt Krafft. „Das war nicht leicht.“
Geschichtsvermittlung
Das Badehaus am Independence Place (heute Kolpingplatz), im Herzen des Ortes, war eines der letzten Gebäude mit nahezu originalem Erscheinungsbild. Bevor der Verein den Erinnerungsort BADEHAUS 2018 eröffnen konnte, wurden 1,8 Millionen Euro und 17.000 Ehrenamtsstunden in das Projekt investiert.
Heute präsentiert das dreigeschossige Gebäude am Kolpingplatz 1 in Wolfratshausen diese sich teils überschneidenden Kapitel der Lokalgeschichte auf eine Weise, die für Besucher*innen aller Altersgruppen spannend ist. Das Angebot reicht von mehr als 50 Videos mit Zeitzeugeninterviews über Film- und Audiobeiträge sowie Multimedia-Installationen bis hin zu einer Fotodokumentation im Außenbereich über das Leben der Kinder während der Zeit des Lagers für jüdische Displaced Persons und später in der Siedlung für katholische Heimatvertriebene.
Die vielfältigen Wege der Migration, die hier gezeigt werden, machen das Haus auch zu einem idealen Ort für die Auseinandersetzung mit dem Thema Integration, das in Deutschland besonders im Fokus steht, seit 2015 mehr als eine Million Geflüchtete, zumeist aus Kriegsgebieten im Nahen Osten und Afrika, ins Land kamen. „Es geht darum, ein neues Leben zu beginnen und trotz allem, was geschehen ist, Kraft und Lebensmut zu bewahren und weiterzumachen, nicht zu verzweifeln“, erklärt Krafft.
In Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München bietet der Verein Lehrerfortbildungen zur jüdischen und zur NS-Geschichte sowie der Geschichte der Heimatvertriebenen an.
Krafft ist Vorsitzende des Vereins „Bürger für das BADEHAUS Waldram-Föhrenwald e.V.“ und führt die Geschäfte gemeinsam mit ihren Stellvertretern Jonathan Coenen und Emanuel Rüff.
Der Verein organisiert eine monatliche Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Begegnungen im BADEHAUS“ und hat 2021 sein erstes Buch veröffentlicht (LebensBilder), einen Film produziert (Von Zeit und Hoffnung) und eine App mit Audioguides zur Ausstellung und zu Außenführungen herausgebracht.
Alle Projekte werden ehrenamtlich organisiert. Der Verein hat heute mehr als 540 Mitglieder, und im letzten Jahr vor der Pandemie zählte das BADEHAUS rund 8.000 Besucher*innen.
„Wir haben ein Team von Lehrkräften und Museumspädagog*innen, die mit Schüler*innen arbeiten und Workshops und Führungen begleiten“, sagt Coenen (25), 1. Stellvertretender Vorsitzender, dessen Engagement im Verein auf ehrenamtlicher Basis mit Zeitzeugeninterviews und der Erstellung eines Index zu den besprochenen Themen begann. Das Museum bietet auch Praktika für Schulabgänger*innen und andere Interessierte (im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes) sowie Student*innen an. „Die Erfahrung der Zusammenarbeit von drei Generationen hat mich gereizt und dazu bewegt, im BADEHAUS zu bleiben“, erklärt Coenen.
Der BADEHAUS-Verein ist in der Tat bemerkenswert erfolgreich in der Gewinnung junger Menschen für ein Ehrenamt. Krafft erklärt: „Der Grundgedanke ist, die nachfolgende Generation von Anfang an in dieses Projekt einzubinden ... und ihr Verantwortung zu übertragen. Damit die nächste Generation gemeinsam mit uns die Zukunft des Gedenkens gestalten kann.“
Heute flieht die Stadt nicht mehr vor ihrer Vergangenheit, sondern setzt sich aktiv mit ihrer Geschichte auseinander, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.
Im Zuge dieses Prozesses suchte und fand man auch den Kontakt zu Zeitzeug*innen – dass dies gelang, ist wohl der größte Erfolg des Vereins.
Der BADEHAUS-Verein „hat mir, meiner Familie und den anderen ,Kindern‘ von Föhrenwald die Möglichkeit zum Austausch mit Deutschen gegeben, die ebenfalls mit der NS-Vergangenheit des Landes ringen“, erzählt Shoshana Bellen, 75.
Bellen lebt in Nordiyah, Israel, und ist eine Art Kontaktperson zwischen dem BADEHAUS und israelischen Bürger*innen, die im Lager für Displaced Persons geboren wurden. Sie war eines von Dutzenden einstiger Föhrenwalder Babys, die Erinnerungen und Familienandenken beigetragen haben und zur Eröffnung des Erinnerungsortes Ende 2018 anreisten.
An diesem Tag stand sie vor einem Foto, das sie als Baby im Arm ihrer Mutter zeigt. „Ich schaute das Foto an, und mir kamen die Tränen“, erinnert sie sich. „Auch einem kleinen alten Mann neben mir standen die Tränen in den Augen. Ich sah, dass er auf ein Foto schaute, das ihn selbst neben seinem Vater zeigte; er war damals vier Jahre alt.“
In Gesprächen mit jungen Deutschen während ihrer Besuche erkannte Bellen: „So wie wir, die zweite Generation [von Überlebenden], mit dem Leid unserer Eltern fertig werden müssen, so muss es auch die zweite Generation der Deutschen tun“, und die Geschichte ihrer eigenen Familien aufarbeiten.
Krafft erklärt: „Es war so ein bewegender Moment, als unsere Besucher*innen ihre Namen und die Bilder ihrer Eltern und Großeltern suchten. Ich musste weinen und lachen“, beides gleichzeitig.
In Momenten wie diesen „hat man manchmal das Gefühl, einen kleinen Beitrag zur Heilung von Wunden leisten zu können“, fügt Krafft hinzu, die im nahegelegenen München aufwuchs und vor rund 25 Jahren nach Wolfratshausen kam. Sie arbeitet als Fernsehjournalistin hauptsächlich für den Bayerischen Rundfunk und hat sich auch als Dokumentarfilmerin einen Namen gemacht. Sie und ihr Mann haben zwei Kinder.
„In den Zeiten eines wachsenden Antisemitismus und Rassismus ist das BADEHAUS-Museum [eine] Begegnungs- und Lehrstätte besonderer Qualität“, sagt Historiker Robbi Waks aus Tel Aviv, der seine frühe Kindheit im Lager Föhrenwald für Displaced Persons verbrachte.
Für Helen Martin Block, die heute in Connecticut, USA, lebt, war der Besuch im BADEHAUS „lebensverändernd: Meine ersten Jahre in diesem Lager für Displaced Persons, wie sie Tausende andere erlebt haben, sind elementarer Teil einer Entwicklung nach einer der schrecklichsten Perioden der Geschichte“, erzählt sie. „Das Team und die Ehrenamtlichen machen das BADEHAUS zu einem Ort der Wissensvermittlung, Empathie und Weiterentwicklung.“
Die Anfänge der Erinnerungsarbeit
Als im Jahr 2003 das 1.000-jährige Jubiläum der Stadt anstand, machten sich Krafft und eine Freundin – die inzwischen verstorbene evangelische Pfarrerin Kirsten Jörgensen – auf die Suche nach der jüdischen Geschichte. Das war jedoch schwierig, wie Krafft erklärt: „Wenn es keine Hinweise, keine Erinnerungsorte gibt – wie findet man dann etwas über diese Geschichte heraus? Wir wollten nicht nur auf das Schöne in der Vergangenheit unserer Stadt blicken, auf all die berühmten Orte und bekannten Menschen. Wir wollten die Erinnerung um die jüdische Geschichte unserer Region erweitern. Und so begann die Suche.“
Sie fanden beispielsweise heraus, dass 1926 eine jüdische Mädchenschule am Ort gegründet worden war. Sie zog Schülerinnen aus ganz Deutschland an, wurde jedoch am Abend der Reichspogromnacht im November 1938 geschlossen, „als alle Jüdinnen und Juden aus Wolfratshausen vertrieben wurden“, erzählt Krafft. „Und dieser Teil der Geschichte geriet vollkommen in Vergessenheit.“
Schritt für Schritt deckten die beiden Frauen diese und weitere Details der jüdischen Geschichte auf.
„So fing alles an“, sagt Krafft. „Aber das konkrete Erinnerungsprojekt zur Geschichte Föhrenwalds begann mit dem Kampf um das Badehaus vor 10 Jahren.“
Das BADEHAUS „steht für so viele unterschiedliche Aspekte der deutschen Geschichte, von den späten 1930er bis in die 1950er Jahre hinein“, erklärt Frevert, „und es ist Sybille Krafft mit der ihr eigenen Energie und Beharrlichkeit, die diese Aspekte ans Licht brachte und präsent hält.“
Die Finanzierung ist nach wie vor eine große Herausforderung. In Renovierung und Umbau zu einem multimedialen Museum wurden 1,84 Millionen Euro investiert, die überwiegend aus kommunalen und staatlichen Zuschüssen stammten. Derzeit erhält der Erinnerungsort keine institutionelle Unterstützung, weder von kommunaler Seite noch auf Landes- oder Bundesebene. Unterhalt und Betrieb werden durch Eintritts- und Mitgliedsbeiträge, Spenden und ehrenamtliche Eigenleistungen finanziert. Für Sonderausstellungen und Einzelprojekte werden gelegentlich Fördermittel beantragt, die einen Teil der Kosten abdecken.
Neben der Finanzierung bleibt es auch eine Herausforderung, den Menschen die Bedeutung der Erinnerungsarbeit zu vermitteln. „Manche sagen: ,Ach, warum sollen wir uns darum kümmern? Das ist so lange her, lasst die Vergangenheit ruhen‘“, so Frevert.
„Alle, die sich an diese Initiativen beteiligen, stoßen in ihren eigenen Familien oder in der Gemeinde, in der sie leben, auf diese Hürden“, merkt Krafft an. „Manche Politiker*innen oder Bürger*innen begeistern sich dafür, aber andere befürchten, dass es Wolfratshausen negative Publicity bringen und das Image als heile Welt in der Nähe von München beschädigen könnte. Die Notwendigkeit, immer wieder Überzeugungsarbeit zu leisten und die Menschen aufzuklären, ist also selbst im Umfeld des BADEHAUS immer gegeben.“
An Arbeit mangelt es den Ehrenamtlichen am Erinnerungsort BADEHAUS jedenfalls nicht. Sie sammeln weiter Zeitzeugenberichte und gehen auf die Menschen zu, um ihr Wissen über die Vergangenheit weiterzugeben und die Lehren daraus auf die Gegenwart anzuwenden.
„Es wird die Zeit kommen, wenn alle, die Teil dieser Geschichte sind, sie selbst gestaltet und erlebt haben, nicht mehr da sind“, sagt Frevert. „Wir haben all diese Zeitzeugenberichte, schriftlich und als Filme, es gibt also Stimmen und Gesichter. Gleichzeitig … sind auch Örtlichkeiten wichtig, um sagen zu können: Hier ist es geschehen. Du stehst auf demselben Boden, an demselben Ort.“
— Obermayer Award 2022
(Deutsche Übersetzung: Heike Kähler)
Zeitgemäße Geschichtsvermittlung in einer Region mit starker Neonazi-Szene
Von geschichtlichen Wanderseminaren bis hin zu Comicbüchern zum Thema Zivilcourage: Das AKuBiZ verfolgt kreative Ansätze zur Bekämpfung von Hass und Intoleranz.
„Alles, was uns heute so selbstverständlich erscheint, … muss täglich neu erkämpft werden.“
Volker Kellers Forschungsarbeit unterstreicht die Bedeutung von Anteilnahme in einer vielfältigen Gesellschaft.
„Hast du je davon erzählt? Sie antwortete: ,Nein, aber es hat ja auch noch nie jemand danach gefragt.‘“
Sabeth Schmidthals engagiert sich mit viel Sensibilität und Empathie, um ihre Schülerinnen und Schüler für Hass und Antisemitismus zu sensibilisieren und sie dagegen aktiv werden zu lassen.