Obermayer German Jewish History Award
„In gewisser Weise ist es eine Frage des Überlebens ...“
Norbert Giovannini hat sich unermüdlich der Erforschung und Rekonstruktion der jüdischen Vergangenheit Heidelbergs gewidmet.
Als Norbert Giovannini nach dem Pädagogik-Studium an der Universität Heidelberg in den 1980er Jahren mit seiner Dissertation begann, lag sein Fokus zunächst auf der politischen Sozialisation Heidelberger Studierender von 1918 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Zuge seiner Forschungstätigkeit stieß er jedoch auch auf die Geschichte ganz unterschiedlicher jüdischer Studentengruppen – konservativ und traditionell, zionistisch und liberal –, die sich an einer der angesehensten Universitäten Deutschlands politisch engagierten. Seine Faszination für das Thema ließ ihn weiter graben.
„Ich wollte wissen, wie es den Juden in dieser schwierigen Situation erging – als diskriminierte Minderheit einerseits und als Menschen, die an moderner Wissenschaft und demokratischer Beteiligung interessiert sind, andererseits. Ich hatte das Tagebuch der Anne Frank und andere Bücher über den Holocaust gelesen. Eine Art literarisch vermittelte Grundsozialisation, die mich sehr geprägt hat. Aber erst ab diesem Zeitpunkt begann ich, mich ernsthaft mit jüdischen Geschichtsthemen zu befassen“, sagt er. „Bis 1933 war das eine Geschichte des Erfolges, der Integration von Juden in die Gesellschaft um sie herum, und es war wichtig, diese jüdische Geschichte als Teil deutscher Geschichte zu betrachten.“
Giovannini begann bald mit Führungen durch das jüdische Heidelberg, hielt Vorträge an jüdischen Stätten wie dem alten jüdischen Friedhof, dem Standort der in der Reichspogromnacht zerstörten Synagoge oder dem Haus, in dem früher die jüdischen Studenten der Stadt gelebt hatten. „Es war ein doppeltes Engagement: zuerst die wissenschaftliche und historische Forschung, dann die Vermittlung dieser Forschungsergebnisse an Interessierte“, sagt er. „Die Stadt hatte sich in den 1960er und 1970er Jahren kaum bemüht, die Geschichte ihrer jüdischen Einwohner zu erforschen, und für mich war es ein Neubeginn, auf die Jahrhunderte davor zurückzuschauen.”
In den vergangenen 30 Jahren hat Giovannini vier Bücher und zahlreiche Artikel verfasst, während er sich unermüdlich der Erforschung und Rekonstruktion der jüdischen Vergangenheit Heidelbergs widmete. Er ist Mitherausgeber der 1992 erschienenen Studiensammlung Jüdisches Leben in Heidelberg, die Beitrag und Wirken der jüdischen Gemeinde vom Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs darstellt, und hat untersucht, wie die Gemeinde sich nach dem Krieg neu konstituiert hat. Später nahm Giovannini zu zahlreichen ehemaligen jüdischen Bürger_innen Heidelbergs Kontakt auf und trug ihre mündlich erzählten Erinnerungen zusammen. 1996 half er bei der Organisation des ersten offiziellen Besuchs von 80 ehemaligen jüdischen Nachbarn und ihren Nachkommen aus Israel, den USA, Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern.
Mit seinen akribischen Recherchen in Stadt- und Landesarchiven hat Giovannini Familien bei der Rekonstruktion ihrer Geschichte geholfen. Daraus entstand 1998 die Studiensammlung Erinnertes Leben mit autobiographischen Texten von Nachfahren über ihre Familien. „Es war für sie eine sehr emotionale Angelegenheit, ihre Familiengeschichten auf diese Weise bewahrt zu sehen“, erinnert er sich. „Jetzt ist es vollbracht. Es steht in einem Buch, es existiert.“
Als leidenschaftlicher Pädagoge ist Giovannini beruflich wie privat von dem Gedanken getrieben, die Vergangenheit ans Licht zu bringen – sowohl, um den Heidelberger Juden ihre Geschichte zurückzugeben, als auch, um den deutschen Mitbürger_innen zu zeigen, welch enormen, damals fest in die Gesellschaft integrierten kulturellen Schatz sie durch die NS-Herrschaft verloren haben. „Durch den Blick auf die [antisemitischen] Gesetze, gesellschaftlichen Prozesse und die Erkennung des wahren Verlustes an kultureller Integration ab dem Beginn der NS-Zeit – die Entwicklung hin zur Reghettoisierung und die folgende Vernichtung – wurde es möglich, die jüdische Geschichte auf Stadtebene umfassend zu rekonstruieren und auch an die Zeit davor zu erinnern, die – trotz aller antijüdischen und antisemitischen Strömungen – durch Integration und Respekt zwischen den Religionen, zwischen der christlich geprägten Zivilgesellschaft und den religiösen Minderheiten gekennzeichnet war“, sagt er.
Giovannini wurde 1948 im baden-württembergischen Freiburg geboren und im Alter von einem Jahr adoptiert. Er wuchs in einer frommen katholischen Familie auf, die den Nationalsozialismus von Grund auf ablehnte. Über den Holocaust wurde zu Hause jedoch nie gesprochen. Von der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung erfuhr er erstmals als Teenager durch eigene Lektüre, insbesondere durch das Buch Der SS-Staat – das System der deutschen Konzentrationslager des deutschen Publizisten und Buchenwald-Überlebenden Eugen Kogon aus dem Jahr 1946.
„Ich war fassungslos und verstand überhaupt nicht, was das alles bedeutete. Es war unbegreiflich, dass so etwas passieren konnte – dass diese Vernichtung während des NS-Regimes stattgefunden hatte und ein Teil der Geschichte der Generation meiner Eltern war. Das war mein erster Schritt in dieses Feld der Geschichte, und ich habe es nie wieder verlassen.“
Giovannini absolvierte das Abitur inmitten der Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs Ende der 1960er Jahre. Danach begann er ein Lehramtsstudium an der Universität Freiburg, das er in Heidelberg beendete. Später schloss sich ein Diplomstudium in Pädagogik und eine Promotion im Fach Erziehungswissenschaft an. Während seiner beruflichen Laufbahn arbeitete er als Lehrer an Grund-, Haupt- und Realschulen. Es folgten Tätigkeiten in der Lehrerausbildung und später als Dozent für Literatur und Literaturdidaktik. Nach seiner Pensionierung blieb er als Experte für die jüdische Geschichte Heidelbergs seinem Thema treu: So begleitet er beispielsweise Schulprojekte und unterstützt den Verein „Heidelberger Lupe“, der von einer Gruppe Studierender gegründet wurde und sich mit der regionalen Geschichte befasst.
Er hat Ausstellungen im Heidelberger Rathaus mit organisiert, unter anderem zur Deportation der Heidelberger Juden in das Konzentrationslager Gurs in Südfrankreich. Am Standort der alten Synagoge hat er Gedenktafeln initiiert, auf denen die Namen Hunderter Heidelberger Juden eingraviert sind, die nach Dachau, Gurs, Auschwitz, Theresienstadt und in andere Konzentrationslager deportiert wurden. 2011, nach mehr als zehn Jahren sorgfältiger Recherche, erschien Giovanninis Buch Erinnern, Bewahren, Gedenken: Die jüdischen Einwohner Heidelbergs und ihre Angehörigen 1933-1945. Das biographische Lexikon dokumentiert die Familiengeschichten aller 2.600 ehemaligen jüdischen Einwohner von Heidelberg.
Eines Tages brachte ein Rabbi im Gespräch mit Giovannini die Frage auf, ob er nicht einmal über „das gute Heidelberg“ schreiben wolle, also über jene Heidelberger, die in den Jahren der NS-Herrschaft Anstand und Zivilcourage bewiesen haben. Daraus entstand das Werk Stille Helfer, das im August 2019 herauskam. Es beschreibt prominente ebenso wie unbekannte Heidelberger Bürger, die während der NS-Zeit Juden halfen, sei es durch die Erstellung von Ausreisepapieren, Rechtsbeistand, Unterbringung bei Nachbarn oder Freunden oder Hilfe zur Flucht bzw. zum Überleben im Krieg. Ziel war es, so Giovannini, zu zeigen, „wie wichtig eine moralisch integre Gesellschaft, Engagement und Zivilcourage sind, und dass alle etwas tun können. Jede und jeder Einzelne hat die Möglichkeit, sich zu engagieren und zum Beispiel Geflüchteten oder politisch oder religiös unterdrückten Menschen zu helfen.“
Vor dem Hintergrund wachsender rechtsextremer Tendenzen in Deutschland ist die Erinnerungsarbeit für Giovannini heute wichtiger denn je. „In gewisser Weise ist das eine Frage des Überlebens durch Bewahrung und Erinnerung: an all jene zu erinnern, die in dieser Region unterdrückt und ermordet wurden, und zu mahnen, was passieren kann, wenn es keine moralischen oder demokratischen Institutionen oder Bürgerrechte gibt – wenn die moralischen Fundamente der Zivilisation verloren gehen“, erklärt er.
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.