Obermayer German Jewish History Award

„Sie waren schockiert … und das gab den Anstoß“ 

Karl-Heinz Nieren konfrontiert Jugendliche mit einer traurigen Wahrheit in ihrer Nachbarschaft.

Karl-Heinz+Nieren8_am+Synagogenplatz+Geilenkirchen+09-11-2019.jpg

Karl-Heinz Nieren widmet einen Großteil seiner Zeit der Erforschung der Vergangenheit. Als pensionierter Gesamtschullehrer ist ihm dabei bewusst, dass ein wichtiger Aspekt seiner Arbeit ihre Wirkung in Gegenwart und Zukunft ist.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das reiche jüdische Vermächtnis in Nierens Heimatstadt Geilenkirchen kaum gewürdigt, obwohl die nordrheinwestfälische Stadt über Jahrhunderte hinweg ein Zentrum jüdischen Lebens in der Region nördlich von Aachen gewesen war. Nieren hat ab den 1970er Jahren zum Gedenken anlässlich der Reichspogromnacht Besuche seiner Schulklassen auf dem jüdischen Friedhof von Geilenkirchen organisiert. 

„Sie waren schockiert“, erinnert er sich. „Sie konnten die Namen der Geilenkirchener Familien an den Gräbern, an den Grabsteinen lesen, und das gab den Anstoß. Wir sprachen über die Gemeinde, die ehemalige Synagoge, die Schicksale der ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt, und so entwickelte sich alles. Das war der Anfang.“

Unermüdlich und mit eindrucksvollen Ergebnissen hat Nieren sich dafür eingesetzt, die jüdische Geschichte Geilenkirchens wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Er ist Mitgründer der Initiative Erinnern Geilenkirchen, die sich für religiöse und kulturelle Toleranz und gegen Diskriminierung engagiert und über die Zerstörung der jüdischen Gemeinde der Stadt informiert. Gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern hat er Gräber auf dem jüdischen Friedhof von Geilenkirchen gepflegt. Auch die Verlegung von fast 100 Stolpersteinen vor den Häusern ermordeter jüdischer Bürger von Geilenkirchen geht auf seine Initiative zurück. Darüber hinaus sind ihm zwei minutiös recherchierte Publikationen zu verdanken: Jewish Citizens of Geilenkirchen During [the] Nazi Era (Jüdische Bürger in Geilenkirchen während der NS-Zeit) aus dem Jahr 2013 sowie Juden in Geilenkirchen – Auf Spurensuche in der Stadt von 2014.

Und nicht zuletzt ist Nieren auch immer wieder mit Nachfahren einstiger jüdischer Nachbarn in Geilenkirchen unterwegs und führt sie zu den ehemaligen Häusern der Familien und anderen wichtigen jüdischen Stätten. Allein 2019 war er Gastgeber für 31 Menschen aus fünf Familien. 

Schon während seiner Zeit als Lehrer an der Anita-Lichtenstein-Gesamtschule lud Nieren Zeitzeugen der NS-Verbrechen ein, um über das Erlebte zu sprechen. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2007 ist er der wichtigste Ansprechpartner für Schülerinnen und Schüler aus der Region, die sich mit dem Holocaust befassen, und häufig bringt er Schulklassen mit seinen Gästen zusammen. 

Pascal Cremer, verantwortlich für die Erinnerungsarbeit am Bischöflichen Gymnasium Sankt Ursula Geilenkirchen, sagt dazu: „Mehrere ehemalige Schülerinnen und Schüler meldeten mir zurück, dass sie den Besuch der Geilenkirchener Juden, die die Verfolgung überlebt haben, ... als besonders prägend und zentrales Erlebnis ihrer Schulzeit erachten. Diese Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte vor Ort beeinflussen die Kinder und Jugendlichen nachhaltig. Sie berichten von diesen in ihren Familien und in ihren Freundeskreisen, sie halten die Erinnerung wach und erfahren die positiven Folgen von Mitmenschlichkeit und gegenseitiger Toleranz.“ 

Nieren wurde im Dezember 1942 in Aachen geboren, während sein Vater an der russischen Front kämpfte. Nach dem Krieg zog die Familie in ein kleines Dorf 20 km nördlich von Geilenkirchen nahe der niederländischen Grenze. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 versuchten viele Juden aus Geilenkirchen, in die Niederlande zu fliehen. Sie wurden aber an der Grenze abgewiesen und später in Judenhäusern und Lagern interniert. Die meisten von ihnen überlebten den Krieg nicht.

Erste Berührungspunkte mit der jüdischen Geschichte hatte Nieren als Kind über einen Freund seines Vaters, Hermann Wassen, der schon in den 1950er Jahren Kontakt zu ehemaligen Geilenkirchener Juden in den USA, Israel, den Niederlanden und anderen Ländern aufnahm und eine Vielzahl von Dokumenten und Informationen zur jüdischen Gemeinde vor dem Krieg zusammentrug. „Die frühe Begegnung bereits in den 1960er Jahren und seine Besuche in den 1970er Jahren in Schulklassen haben mein Interesse für jüdische Geschichte und besonders die in der Stadt Geilenkirchen beeinflusst und gefördert“, sagt Nieren. Ihn verbindet eine lebenslange Freundschaft mit Wassen, den er auch häufig in seine Schulkassen für Gespräche über die Vergangenheit einlud. „Ohne die Arbeit, die akribischen Recherchen von Hermann Wassen ... wäre ich niemals in der Lage gewesen, meine Arbeit zu tun.“ 

Als Student besuchte Nieren in den 1960er Jahren einen Freund in Frankfurt, über den er dort lebende Juden kennen lernte. Das gab ihm weiteren Ansporn, die Geschichte seiner Region zu erforschen. Doch erst im folgenden Jahrzehnt, nachdem Nieren begonnen hatte, sich mit seinen Schülerinnen und Schüler um den jüdischen Friedhof zu kümmern, fing das Projekt zum jüdischen Gedenken an, das sein Leben für immer verändern sollte.    

Während seiner 16 Jahre als Lehrer an der Anita Lichtenstein Gesamtschule – benannt nach einem neunjährigen jüdischen Mädchen aus Geilenkirchen, das 1942 im Konzentrationslager Lublin-Majdanek ermordet wurde – lud Nieren immer wieder Zeugen der NS-Verbrechen ein, mit seinen Schulklassen über das Erlebte zu sprechen. Das war nicht immer einfach. Selbst in den frühen 1990er Jahren, erinnert sich Nieren, wollten viele Geilenkirchener Nachbarn noch immer nicht über die dunkle Vergangenheit ihrer Stadt sprechen. „Es war in der damaligen Zeit noch sehr schwierig, darüber zu reden. Es lebten noch etliche in der Stadt, die jüdisches Eigentum zu sehr niedrigen Preisen gekauft hatten; daran wollten sie nicht gern erinnert werden.“

Auch nach seiner Pensionierung blieb Nieren ein prägender Ansprechpartner für viele junge Menschen aus der Region, die sich mit dem Holocaust befassen. So unterstützte er 2017 vier Gymnasialschülerinnen und -schüler bei einem Aufsatz über das Leben der ehemaligen jüdischen Geilenkirchenerin Ilse Dahl und die Zerstörung der jüdischen Gemeinde durch die Nationalsozialisten. Die Gruppe gewann damit einen Preis im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Und 2018 begleitete Nieren Studenten der RWTH Aachen bei einem Projekt zu den Verbindungen zwischen Religion und Regierung.

Im gleichen Jahr war er Mitorganisator einer Ausstellung der Londoner Fotografin Marion Davies, Absence and Loss: Holocaust Memorials in Berlin and Beyond in einer Geilenkirchener Schule. Wie viele andere Aktivitäten von Nieren zeigt auch diese Ausstellung, welch enormen Beitrag er dazu geleistet hat, dass die Stadt heute mit anderen Augen auf ihre Vergangenheit blickt. „Alle Schulen der Stadt arbeiten zur Geschichte der jüdischen Gemeinde, zur Geschichte des Holocaust und der Konzentrationslager“, erklärt er. „Es passiert sehr viel.“

Jetzt, findet Nieren, ist es an der nächsten Generation, die Erinnerungsarbeit fortzusetzen und das Gedenken an die jüdische Vergangenheit Geilenkirchens zu bewahren. Zwar verspürt er immer noch Tag für Tag den scheinbar unermüdlichen Drang, weiter zu forschen und Wissen zu vermitteln. Aber er sagt auch: „Es ist besonders wichtig, wenn die Jugend diese Arbeit in Zukunft fortsetzt.“ Er fügt hinzu:  „Die Familie Dahl hat hier seit 1700 gelebt, Familie Gottschalk seit 1775, die Baums seit 1856 – und es gibt viele weitere, kleinere Familien, die schon im 18. Und 19. Jahrhundert hier gelebt haben. Wir müssen unseren ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern ihre Geschichte, ihr Wurzeln, ihre Würde zurückgeben. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, damit ihre wichtige Geschichte in dieser Stadt nicht in Vergessenheit gerät. Sie müssen Teil von uns bleiben.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.