Obermayer German Jewish History Award
Horst Moog
Hamm/Sieg, Rheinland-Pfalz
Am Abend des 9. November 1938 sah der damals knapp vierjährige Horst Moog, an der Hand seiner Mutter, wie die schöne Synagoge von Hamm an der Sieg in Rheinland-Pfalz in der Reichspogromnacht niederbrannte. „Das kann ich nie vergessen“, erinnert er sich. Moogs Großmutter hatte einige Jahre zuvor als Haushaltshilfe für eine jüdische Familie namens David gearbeitet. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, musste sie die Stelle unter Androhung einer Verhaftung aufgeben. Während des Zweiten Weltkriegs kehrte Moogs Vater, der für die Deutsche Bahn arbeitete, aus dem polnischen Lodz mit düsteren Beschreibungen des jüdischen Gettos zurück.
„Er hatte die Behandlung und das Elend der jüdischen Menschen in dem Getto Litzmannstadt (Lodz) gesehen und erzählte dies [...]. Das Geschilderte glaubte ihm niemand und wurde als Märchen abgetan. Es wurde ihm gedroht, ,diese Lügen‘ der Gestapo zu melden.“ Moog berichtet auch von einem anderen einschneidenden Erlebnis seines Vaters: Als Bahnbediensteter sah dieser an einem heißen Tag, wie Menschen aus Güterwaggons heraus nach Wasser schrien. „Mein Vater eilte mit einem alten Eimer zum Lokwasserkran, füllte ihn, reichte ihn hoch und sah dann, wie ein SS-Bewacher [...] mit dem Gewehr auf ihn zielte. Diese Episoden, die er erzählte, sind mir immer im Gedächtnis geblieben und ich konnte nicht begreifen, wie man Menschen sowas antun konnte.“
Diese prägenden Erfahrungen bewegten Moog, der inzwischen 82 Jahre alt ist, dazu, Jahrzehnte seines Lebens der Erforschung, Ausstellung und Bewahrung der langen Geschichte der jüdischen Gemeinden zu widmen, die einst in seiner Region, dem Westerwald, ansässig waren. Im Laufe von mehr als 25 Jahren hat er beispielsweise im Alleingang die verwitterten Grabsteine gereinigt und gepflegt. In akribischer Kleinarbeit hat er umfassende Archive zur Chronik der jahrhundertelangen Geschichte der jüdischen Gemeinde zusammengetragen und den Museen in der Region vieles zur Verfügung gestellt. So wurde dank seines Engagements unter anderem im Hammer Kulturhaus, wo früher die Familie David gelebt hatte, ein kleines jüdisches Museum eingerichtet.
Über viele Jahre hielt Moog Vorträge in Schulen, in kirchlichen Gemeindehäusern und bei öffentlichen Veranstaltungen, um das Bewusstsein für den Beitrag der Juden zum Leben in der Region und für ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu stärken. Außerdem führte er Nachfahren zu den Häusern ihrer Vorfahren und zeigte ihnen anhand von Dokumenten und Fotos, wie es früher in der jüdischen Gemeinde war.
Moogs unermüdliches Engagement stieß zum Teil auf heftige Ablehnung – seine Familie erhielt anonyme Morddrohungen. Doch er ließ sich nicht einschüchtern und machte weiter. Selbst zwei Herzinfarkte, 1990 und 2002, hielten ihn nicht davon ab, die Dokumentation des jüdischen Vermächtnisses in der Region fortzusetzen. Er erstellte eine umfassende Chronik wichtiger Ereignisse ab dem Jahr 1663, als erstmals ein Jude Schutz bei Verwandten in Hamm suchte, bis in das Jahr 1939, als alle 119 Hammer Juden entweder vertrieben oder in den Tod deportiert wurden. „Deshalb stellte sich für mich die Frage: Wie konnte dieses Unrecht und Verbrechen geschehen? Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wollte sich keiner beteiligt haben, keiner hatte etwas gesehen und keiner hatte etwas davon gewusst. Jahrelanges Schweigen! Ich konnte und wollte mich nicht damit zufriedengeben. Für mich war es eine Verpflichtung, weiter die Erinnerungen an das ehemals rege Leben der jüdischen Gemeinde und ihre Menschen wachzuhalten. Deshalb ist auch die authentische Dokumentation so wichtig und muss aufbewahrt werden.“
Die Urgroßeltern von Debbie, Mark und Karen David lebten früher im David-Haus in Hamm. Ihr Vater Fred floh kurz nach der Reichspogromnacht aus Hamm und emigrierte mit seinen Eltern und seiner Schwester in die USA. Die Nachfahren würdigen Moog für sein unermüdliches Engagement „zur Erforschung der Geschichte der einst so lebendigen jüdischen Gemeinde von Hamm und seine Bemühungen um Kontakte zu überlebenden einstigen Nachbarn ebenso wie für die Pflege und Wiederherstellung des jüdischen Friedhofes und die Vermittlung dieser Geschichte in seiner Gemeinde in Vorträgen, Artikeln und kuratierten Ausstellungen.” Steven Cole aus Kansas, USA, dessen Urgroßeltern ebenfalls im David-Haus gelebt hatten, erklärt: „Durch Moogs Bemühungen über so viele seiner 82 Jahre konnte das Zeugnis jüdischen Lebens in Hamm bewahrt werden.“
Moog, Jahrgang 1935, besuchte die Volksschule in Hamm, die er mit 14 Jahren abschloss. Statt die weiterführende Schule zu besuchen, begann er 1950 eine kaufmännische Lehre in einem Sportartikel-Großhandel. 1954 wechselte er auf Rat des Vaters zur Deutschen Bundesbahn, wo er die Verwaltungslaufbahn einschlug. In den folgenden fast40 Jahren pendelte Moog täglich die 70 Kilometer zu seiner Dienststelle, fand daneben aber dennoch Zeit für Ehrenämter. So war er unter anderem 25 Jahre lang Mitglied im Gemeinderat und als Sporttrainer für Fußball, Tennis, Skilaufen und Leichtathletik aktiv.
Sein Interesse für Heimatgeschichte entdeckte Moog auf den langen Zugfahrten zum Dienst bei der Sichtung alter Fotos mit einem Kollegen. Moog begann, die Geschichte von Sport-, Gesangs- und anderen Vereinen der Region zu recherchieren, und wurde dabei auf die rege Beteiligung der jüdischen Mitglieder aufmerksam. Sein Blickwinkel änderte sich: „Ich dachte über das Schicksal dieser Menschen nach und begann mich intensiv mit dem Thema zu befassen und über die jüdische Gemeinde in Hamm zu recherchieren. Es gab kaum Informationen über die Juden, mit denen sie doch zusammen gelebt hatten [...].“
Als die Morddrohungen kamen, stand Moog eine Zeit lang sogar unter Polizeischutz, insbesondere 1988, als er eine Ausstellung anlässlich des 50. Jahrestags der Reichspogromnacht organisierte: „Im Haus befand sich wochenlang eine Abhöranlage der Polizei. Trotzdem machte ich weiter mit meinen Vorbereitungen. Es gab die erste große Ausstellung in unserer Region, zu der wir [...] jeden Tag Präsentationen durchführten [...] und erklärten, was geschehen war: Ich erzählte von den ersten Juden, die hier eine Gemeinde gründeten, über ihr Leben und von den Anfängen der NS-Zeit – über den Synagogenbrand und alles, was hier passierte. Etliche ältere Besucher, die jüdische Nachbarn hatten und sich daran erinnerten, sagten: ,Das haben wir so noch nie gesehen‘, und einige weinten am Ende der Ausstellung. Die Menschen waren schockiert über das, was sich hier zugetragen hatte.“ In der Ausstellung im David-Haus ist eine Torah aus dem Jahr 1850 zu sehen, die Moog durch Zufall wiederentdeckte, zusammen mit Fotografien, Dokumenten, alten Steinen der Synagoge, Menora und anderen Artefakten jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte.
Besonders wichtig war Moog, dass viele junge Menschen nach Hamm kamen. Über 260 Lehrer und Schüler nutzten die Ausstellung und die Vorträge von Moog, um etwas über die jüdische Geschichte zu erfahren: „Die jungen Menschen müssen wissen, was passiert ist, damit so etwas nie wieder geschehen kann“, sagt er. „Das war eine Zeit der Schande für Deutschland und die Menschlichkeit. Aber heute habe ich den Eindruck, dass viele sich nicht mehr dafür interessieren. Sie wollen nichts mehr davon wissen. Die NS-Bewegung schwirrt immer noch in einigen Köpfen und ist nie ganz verschwunden. Es war immer mein Ziel, die reiche Geschichte unserer ehemaligen jüdischen Mitbürger zu bewahren und allen Bestrebungen, sie auszulöschen, entgegenzuwirken.“
EINE MAUER, DIE VERBINDET
Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.
VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER
Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.
„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“
Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.