Obermayer German Jewish History Award

„Man muss seine Stimme erheben, aber es gilt auch zu handeln.“

Hilde Schramm, Tochter eines NS-Führers, hat sich zeit ihres Lebens für Toleranz und Verständigung engagiert.

Hilde Schramm ging es immer darum, etwas zu tun. Unterstützen, unterrichten, einstehen, begleiten, ermutigen ... und ganz sicher zurückgeben. Sie ist eine Aktivistin im wahrsten Sinne des Wortes. Als heute 82-Jährige blickt sie auf ein Leben zurück, in dem es ihr stets darum ging, Probleme nicht nur aufzuzeigen, sondern sich dafür einzusetzen, dass die Dinge sich ändern. Sie war unter anderem als Professorin, Autorin und Politikerin tätig und hat in Brandenburg die Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen gegründet und geleitet. Sie hat zur Prävention von Rechtsextremismus an Schulen publiziert und gelehrt. Nach der Finanzkrise in Griechenland hat sie den Aufbau eines gemeinnützigen Vereins zur Förderung von Projekten in Griechenland unterstützt. Und sie teilt heute ihr Zuhause mit Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan.

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Daher überrascht es nicht, dass sie drei wertvolle Gemälde, die sie 1992 erbte und von denen sie vermutete, dass sie während der Zeit des Nationalsozialismus jüdischen Familien gestohlen worden waren, nicht behalten und auch nicht einfach weggeben wollte. Zunächst einmal stellte sie umfangreiche Recherchen an, um die ursprünglichen Eigentümer zu finden. Als das nicht gelang, verkaufte sie die Bilder und gründete mit dem erzielten Erlös die Stiftung ZURÜCKGEBEN zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft. Die Stiftung nutzte sie dann als Plattform, um in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für den enormen Umfang an Eigentum zu wecken, das jüdischen Familien zwischen 1933 und 1945 geraubt wurde und sich in vielen Fällen heute noch in deutschem Besitz befindet.

VIDEO: Christiane Amanpour im Gespräch mit Hilde Schramm nach der Verleihung des Obermayer German Jewish History Awards

AUDIO: Hilde Schramms Interview in der Sendung „Here and Now“ des amerikanischen Radiosenders NPR

In dem Vierteljahrhundert seit ihrer Gründung hat die Stiftung mehr als 150 in Deutschland lebende jüdische Frauen bei einzigartigen kreativen Projekten unterstützt, die zu einer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit für das jüdische Vermächtnis und seine fortdauernde Wirkung in Deutschland beitragen. Dank des Engagements von Schramm und ihren Kolleginnen konnten jüdische Frauen gefördert werden, die aus aller Welt – Südamerika, Russland, Israel, USA – nach Deutschland kamen. Die Bandbreite der Projekte reicht von der Wiederentdeckung jüdischer Künstlerinnen und Künstler über Kindertheater und die Erforschung der Familiengeschichte bis hin zu Ausstellungen, Tanzshows, Büchern und Filmen. Die Jury der Stiftung besteht ausschließlich aus Frauen, die sich sämtlich ehrenamtlich engagieren. Seit 1994 hat die Stiftung Fördermittel in Höhe von rund 500.000 Euro vergeben, mit Einzelförderungen je nach Projekt zwischen 300 und 11.000 Euro.

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Für Schramm war bei den Gemälden, mit denen alles begann, von Anfang an klar, dass sie sie niemals behalten könnte. Sie hatte mit dem Wissen gelebt, dass sich ihr Vater während seiner Zeit bei der SS von Juden gestohlene Kunstwerke, Möbel und andere Besitztümer angeeignet hatte. Als Tochter von Albert Speer, Hitlers Chefarchitekt und späterer Rüstungsminister, hatte sie sich schon vor langer Zeit mit der Rolle ihres Vaters im Krieg auseinandergesetzt. Zu Kriegsbeginn war sie erst drei Jahre alt gewesen, und im Jugendalter war ihr Vater bereits in Nürnberg verurteilt worden und saß eine 20-jährige Haftstrafe in Spandau ab. Anders als manch andere ihrer Generation hat sie dieses schwierige Vermächtnis nie verheimlicht, sondern öffentlich anerkannt. Ihr Leben war völlig anders als das seine, und sie wollte nach dem Tod ihrer Mutter nicht von seinem Erbe profitieren.

„Ich wollte die Gemälde nicht behalten“, erinnert sich Schramm. „Und wenn ich sie einfach verkauft hätte, wäre ich mir wie eine Profiteurin vorgekommen.“ So setzte sie sich in ihrer Berliner Wohnung mit einer Handvoll vertrauter und politisch engagierter Frauen zusammen und diskutierte darüber, was sie tun sollte. „Meine Freundinnen waren Feministinnen – sie setzten sich für die Rechte und Gleichberechtigung von Frauen ein“, sagt sie. Das Ergebnis der Diskussionen war die Gründung der Stiftung ZURÜCKGEBEN unter Leitung von Schramm und drei Freundinnen.

„Als wir anfingen, war die Vorteilsnahme aufgrund der Vertreibung und Deportation von Juden kein großes Thema in Deutschland“, sagt Schramm. „Wir haben versucht, das Thema bekannt zu machen.“ Die Stiftung ZURÜCKGEBEN war die erste Institution ihrer Art in Deutschland, die das Schicksal jüdischer Kunstwerke und anderer Besitztümer in den Fokus nahm, die die Nationalsozialisten gestohlen hatten – ein Thema, das seither weltweit Aufmerksamkeit gefunden hat, in Gerichtsprozessen, Büchern und Hollywood-Filmen.

„Es ging nicht nur um Kunst, sondern auch Stühle, Teppiche, Lampen ... alle möglichen Haushaltsgegenstände“, sagt sie. „Solche Auktionen hatten in sehr vielen Städten und Dörfern stattgefunden, aber es gab dazu keine Dokumentation und keine Forschung. Es war für uns wie ein schwarzes Loch. Wir wollten zeigen, dass viele Familien profitiert hatten und Gegenstände besaßen, die ihnen eigentlich nicht gehörten – und sie ermutigen, in ihre eigene Familiengeschichte zu schauen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wir wollten mit unserem eigenen Beispiel den Menschen bewusst machen, wie groß das Ausmaß der Vorteilsnahme durch die Vertreibung und Ermordung der Juden gewesen war.”

Schramms Weg zu diesem Projekt war weder kurz noch direkt. Sie wurde 1936 in Berlin als Hilde Speer geboren und wuchs „wie viele meiner Generation mit dem Wissen [um den Holocaust] auf und war schockiert”, aber ohne zu wissen, was sie dagegen tun könnte. Nach dem Krieg zog Schramm mit ihrer Mutter nach Heidelberg, wo sie eine Schule besuchte, die ursprünglich von Elisabeth von-Thadden, einer von den Nazis ermordeten Widerstandskämpferin, gegründet worden war. Dort traf sie auf die jüdische Lehrerin Dora Lux, die sie sehr bewunderte. Lux hatte den Krieg in Berlin überlebt und wurde sehr prägend für Schramms Verständnis von der Vergangenheit. Schon als Teenager entwickelte sie den Wunsch, Politikerin zu werden, „um eine demokratischere, tolerantere und multikulturellere Gesellschaft aufzubauen.“ Ein Austauschjahr an der Hastings High School am Hudson River bei New York City gab ihr weitere Denkanstöße hinsichtlich der Ungleichheit im Bildungswesen. „Ich wollte das Schulsystem in Deutschland verändern, weil es unfair war”, sagt sie.

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Schramm heiratete, bekam Kinder und machte mehrere Universitätsabschlüsse, bevor sie in Erziehungswissenschaft habilitierte und als Professorin für das Fach tätig wurde. Sie spielte zudem in der Friedens- und Frauenbewegung sowie anderen gesellschaftlichen Bewegungen im Berlin der 1980er Jahre eine aktive Rolle. Als Politikerin saß sie in zwei Legislaturperioden für die Alternative Liste (heute Bündnis 90/Die Grünen) im Abgeordnetenhaus von Berlin, dem sie 1989-90 auch als Vizepräsidentin vorsaß.

Schramm gründete später die Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen in Brandenburg, die sich für den Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzt. 2004 wurde sie mit dem Moses-Mendelssohn-Preis für ihre Arbeit zur Förderung interkultureller Toleranz ausgezeichnet, und sie hat zahlreiche Schriften verfasst, die Lehrern helfen, faschistischen Tendenzen an ihren Schulen zu begegnen. 2012 veröffentlichte Schramm ihr Buch Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux, 1882-1959, eine sorgsam recherchierte Biographie. Lux hatte nicht nur als Jüdin den Holocaust überlebt, sondern gehörte zu den ersten Frauen in Deutschland, die das Abitur machten, und war eine Wegbereiterin des Frauenstudiums.

Laut Sharon Adler, Vorstandsvorsitzende der Stiftung ZURÜCKGEBEN, spielt Schramm auch heute noch eine wichtige Rolle in der Stiftung. Und ihr Geist und ihre Grundeinstellung ziehen sich durch die gesamte Arbeit der Organisation, in einer Zeit, da der Rechtsextremismus wieder Zulauf erhält. „Hilde Schramm hat mit ihrer jahrzehntelangen Arbeit das Leben und Wirken unzähliger Menschen, vor allem Frauen, nachhaltig und positiv beeinflusst“, sagt Adler. „Dieser Tatendrang und das unermüdliche Eintreten scheinen gerade aktuell nötiger denn je.“

Mit ihren 82 Jahren geht Schramm immer noch mit gutem Beispiel voran und stellt ihr Engagement für Menschen, die von Verfolgung bedroht sind, immer wieder unter Beweis. So hat sie vor einiger Zeit zwei Geflüchtete in ihr Berliner Zuhause aufgenommen: „Ich teile seit 2015 Bad und Küche mit Geflüchteten. Das sind junge Menschen, die ich dabei unterstütze, in Deutschland gut klarzukommen“, sagt sie. „Ich kenne auch jüdische Menschen hier in Deutschland, die das Gleiche tun. Man muss seine Stimme erheben, aber es gilt auch zu handeln. Man kann sein Umfeld beeinflussen.“

Schramm ist besorgt angesichts des wieder aufkommenden Rechtsextremismus in Deutschland. Dennoch ist sie davon überzeugt, dass die demokratischen Werte in der deutschen Gesellschaft fest verankert sind. „Wir waren uns immer der Gefahr bewusst, dass Antisemitismus und Rechtsextremismus zurückkommen könnten“, sagt Schramm. „Die Gefahr ist da ... wir kennen sie alle. Ich habe mich in Ostdeutschland gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagiert.“

Ein wichtiges Element dieser Arbeit besteht darin, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. „Man musste sich immer fragen: ,Wie konnte das geschehen?‘, und die Frage bleibt immer aktuell“, sagt sie. „Das wird auch nach meinem Tod noch so sein. Ich bin eine Bürgerin, die sich für die jüdische Geschichte interessiert, wie viele andere es tun und tun sollten.“

 
 

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