Obermayer German Jewish History Award, Auszeichnung für herausragende Leistungen

„Man muss die Demokratie verteidigen, die einem das Recht gibt, anders zu sein.“

Benigna Schönhagen

Für Benigna Schönhagen geht es um mehr als Geschichte, wenn man das jüdische Erbe einer Region wieder belebt: Es geht darum, den Menschen eine wichtige Wahrheit über die Gesellschaft zu vermitteln.

Als Benigna Schönhagen 2001 Direktorin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben wurde, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass das Museum zwar rituelle jüdische Gegenstände ausstellte, die Geschichte der lebendigen jüdischen Gemeinde, die es dort einst gegeben hatte, aber nicht präsentierte. „Es befasste sich nicht mit jüdischer Lokalgeschichte, nicht mit der Geschichte konkreter Juden in Augsburg, und ich dachte: ,Das muss ich ändern‘“, erinnert sich Schönhagen.

Benigna Schönhagen

Benigna Schönhagen

Unter ihrer Leitung startete das Museum verschiedene ehrgeizige Projekte, um die Geschichte wieder zum Leben zu erwecken. „Es war mir sehr wichtig, einerseits jüdischen Menschen die Geschichte der Stadt zu zeigen, aber andererseits auch den Augsburgern zu vermitteln, wie wichtig der jüdische Teil ihrer Geschichte ist – und ihnen ins Bewusstsein zu rufen, dass dies Teil ihrer eigenen Geschichte ist“, sagt sie.

2006 eröffnete das Museum eine Dauerausstellung zur Geschichte der Juden von Augsburg vom frühen 13. Jahrhundert bis heute. Die Ausstellung umfasst auch die faszinierende Geschichte der umliegenden jüdischen Dörfer (so genannte Judenorte), wo sich Juden nach ihrer Vertreibung aus Augsburg niedergelassen hatten und die jüdische Kultur gedieh – eine Periode, die im Mittelalter begann und erst 1861 offiziell beendet wurde.

„Wir haben versucht, die Beziehung zwischen der Stadt und den jüdischen Landgemeinden aufzuzeigen und die vielen jüdischen Gedenkorte in der Umgebung miteinander zu verbinden“, sagt Schönhagen. Mit ihrer Forschungsarbeit hat sie zur Dokumentation eines außergewöhnlichen Netzwerkes von Landsynagogen, Friedhöfen, rituellen Bädern und einst von Juden bewohnten Häusern beigetragen, das die jüdische Geschichte der Region umspannt.

Das war aber nur ein Teil des leidenschaftlichen, langjährigen Engagements von Schönhagen, um Augsburgs jüdisches Vermächtnis wieder lebendig werden zu lassen. Zwischen 2001 und 2016 leitete sie das Programm Lebenslinien, in dessen Rahmen alljährlich ehemalige jüdische Bürger von Augsburg zur Gedenkfeier anlässlich der Reichspogromnacht eingeladen wurden. Die Besucher erzählten in einer persönlich gestalteten Veranstaltung im Theater ihre Familiengeschichten und nahmen im Laufe einer Woche an Diskussionen und Workshops mit Schülern teil, die aufgezeichnet und später als DVDs herausgebracht wurden. Und Schönhagen konnte sogar die Finanzierung für eine Buchreihe zu den Familiengeschichten der Besucher sichern. Jedes Buch erforderte akribisch vorbereitete Interviews und fundierte Recherchen – eine Aufgabe, die Schönhagen jeweils vor den jährlichen Treffen allein übernahm.

„Die Idee war, sie nicht nur ihre Verfolgungserfahrungen nach 1933, sondern die Geschichte ihrer Familien erzählen zu lassen, um zu zeigen, dass es vor 1933 Juden gegeben hat und wie sie gelebt haben, und auch zu vermitteln, wie es ihnen dann nach der Emigration erging“, sagt sie. Eine der Teilnehmerinnen des Programms war Liese Fischer (geborene Einstein, nicht verwandt mit dem bekannten Wissenschaftler) aus Silver Spring, Md., USA. Sie stammte aus dem Augsburger Stadtteil Kriegshaber, und ihr Vater war einer von sechs Brüdern, die alle Viehhändler gewesen waren. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Menschen aus Augsburg kamen, um Liese Fischer zu treffen – ihre Familie, die Familie Einstein, war nicht vergessen“, sagt Schönhagen und erklärt, dass die Besuche im Rahmen des Lebenslinien-Programms für die Familien eine sehr bereichernde Erfahrung waren. „Die jungen Menschen kennen zu lernen, die an ihrer Geschichte interessiert waren und sie hören wollten – das war das Wichtigste für die Eingeladenen. Sie alle wollten den jungen Leuten eine Botschaft vermitteln: ,Seid achtsam, seid offen.‘“

Ein weiteres herausragendes Beispiel für Schönhagens Engagement sind die so genannten Erinnerungsbänder, die an Häusern angebracht wurden, wo früher einmal Juden gelebt hatten. „Zuerst wollten wir Stolpersteine verlegen, aber dann sagten wir uns: ,Nur Steine im Bürgersteig, [...] das ist nicht genug. Wir wollen, dass man in Augsburg die Lebens geschichte dieser Menschen kennen lernt, die während der NS-Zeit verfolgt wurden‘“, sagt sie.

2004 erstellte Schönhagen eine Broschüre zu den Erinnerungsstätten, und 2010 wurden auf ihre Initiative Informationstafeln an den Eingängen zu jüdischen Friedhöfen in der Region angebracht, die zuvor keine Beachtung erfahren hatten.

2013 schuf sie eine Website und eine Ausstellung über Synagogen in der Region, die unter anderem in München, Bamberg und Würzburg gezeigt wurde; 17. Station war im Jahr 2018 Stuttgart. „Wir haben versucht zu zeigen, dass die Synagoge als ein historisches ,Dokument‘ gelesen werden kann, und dass man eine Menge über die Geschichte der Juden lernen kann, wenn man sich die Architektur der Synagogen anschaut“, erklärt sie.

Zu Ehren des 100-jährigen Jubiläums der Augsburger Synagoge im Jahr 2017 war Schönhagen Mitorganisatorin einer Feier mit der jüdischen Gemeinde von Augsburg. An der Veranstaltung nahmen 99 ehemalige jüdische Bürger und Nachfahren teil. Bei dieser „Augsburg Reunion“ trafen sich erstmals die Nachfahren Augsburger Juden der zweiten, dritten und sogar vierten Generation aus aller Welt. Bei Besuchen auf den Friedhöfen oder in den Häusern, wo ihre Vorfahren gelebt hatten, kam es zu Begegnungen von Familienmitgliedern, die sich noch nie getroffen hatten. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie bewegend das war“, sagt Schönhagen.

Schönhagen wuchs in den 1950er und 60er Jahren in Koblenz am Rhein auf und hatte keinen Kontakt zu jüdischen Menschen. Als Kind gläubiger evangelischer Eltern kannte sie „nur die Juden aus der Bibel“. Einer ihrer Großväter war Pastor, und ihre Familie sprach offen über die NS-Zeit und die Geschichte der Juden in Koblenz. Dennoch, so sagt sie, „war das für mich etwas Abstraktes [...]. Später habe ich Geschichte studiert, und es gab weder Juden in meinem Studiengang noch Vorlesungen oder Seminare zur jüdischen Geschichte.“

Ihre Doktorarbeit an der Universität Stuttgart schrieb sie zur Geschichte von Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Dafür suchte und fand sie auch Nachfahren ehemaliger jüdischer Bürger von Tübingen. „Diese Begegnungen waren enorm inspirierend für mich. Ich lernte Menschen kennen, die so ein wunderbares Deutsch sprachen, deren Denkhorizont so weit war und die so offen waren – und ich begann mich für ihre Kultur und ihre Geschichte zu interessieren.“

Anstatt nach dem Studium wie geplant als Lehrerin zu arbeiten, nahm Schönhagen eine Stelle als Kuratorin an, um geschichtliche Ausstellungen zu gestalten. In Stuttgart befasste sie sich in diesem Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und der jüdischen Geschichte. 1993 ging sie dann in die kleine baden-württembergische Stadt Laupheim, die im 19. Jahrhundert die größte jüdische Gemeinde beherbergte. Die Stadt war auf der Suche nach einem neuen Konzept für ihr Regionalmuseum, aber ein jüdisches Thema war nicht vorgesehen. „Mein Ziel war, ihnen zu zeigen, dass die jüdische Geschichte Teil ihrer eigenen Geschichte ist“, erinnert sich Schönhagen.

„Als ich nach Laupheim kam, hatte ich immer das Gefühl, dass ein Teil der Stadt fehlte. Es gab allerdings Widerstand, sogar vom Bürgermeister, [weil] Familien, die Teil der NS-Vergangenheit waren, immer noch dort lebten. Aber mir war sehr wichtig, auch zu zeigen warum und unter welchen Bedingungen die Koexistenz gut war.“ Ihr Konzept wurde schließlich akzeptiert, und Schönhagen brachte das Museum zur Geschichte von Christen und Juden auf den Weg, das heute eine bedeutende, von der ganzen Stadt unterstützte Institution ist.

Später, als Direktorin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben, konnte Schönhagen sich ganz auf die frühe jüdische Präsenz in der Stadt und ihrer Nachbarschaft konzentrieren, wo die Juden im 19. Jahrhundert beispielsweise führend in der Textilindustrie waren. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die jüdische Gemeinde rund 1000 Mitglieder.

Es ist der menschliche Kontakt, den Schönhagen mit Überlebenden und ihren Nachfahren gepflegt hat, der sie zu so einer wichtigen Persönlichkeit in der Gedenkkultur für jüdisches Leben macht. In ihrem Bemühen um den Aufbau von Toleranz und gegenseitigem Verständnis hat sie gemeinsam mit den christlichen Gemeinden von Augsburg und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die LEHRHAUS-Veranstaltungen ins Leben gerufen. Diese bringen Christen und Juden zusammen, um über Religion und die Propheten zu diskutieren. „Man kann so viel Gemeinsames aufzeigen, aber nur, wenn auch die Unterschiede klar benannt werden. Und es ist wichtig, dies ganz offen zu tun“, sagt Schönhagen, die auch einen jungen Kantor für einen Chor gewinnen konnte, in dem heute Juden und Christen gemeinsam Synagogalmusik singen.

Für Schönhagen „sind es die Geschichten hinter der Geschichte – die individuellen Lebensläufe hinter der Katastrophe –, die mich faszinieren. Wir sehen heute wachsenden Antisemitismus auch wieder in Deutschland, und ich denke, es ist sehr wichtig, dass diese Museen den Menschen die Möglichkeit geben, anhand von Biographien zu sehen, was es bedeutete, als Juden, die Teil dieser Gesellschaft [waren], herausgerissen und ausgestoßen zu werden. Man muss die Demokratie verteidigen, die einem das Recht gibt, anders zu sein. Es ist wirklich wichtig, daran zu arbeiten und zu zeigen, was damals geschah.“

 
 

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