Obermayer Award

„Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“

Zweitzeugen sammelt die Geschichten von Überlebenden und benutzt sie, um jungen Menschen den Stellenwert der Geschichte und die Bedeutung von Empathie nahezubringen

by Toby Axelrod

Die letzten Zeitzeug*innen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust sind noch unter uns. Wie wird es aber sein, wenn sie nicht mehr leben? Zweitzeugen, ein gemeinnütziger Träger der Jugendhilfe im Bildungsbereich, hat mehr als 16.000 jungen Menschen und Erwachsenen die Geschichten von Überlebenden nahegebracht.

Wie der Name sagt, ist das Ziel von Zweitzeugen, Zeug*innen zweiter Hand, zweite Zeug*innen der Geschichte zu schaffen, insbesondere unter Kindern, in altersgemäßer Art und Weise. Es geht nicht darum, sich als einen anderen Menschen auszugeben. Vielmehr ist das Ziel, die Geschichten von Holocaustüberlebenden auf die Probleme im eigenen Leben, in der eigenen Gemeinschaft und der Welt anzuwenden, sowie dem Antisemitismus und anderen Formen der Diskriminierung und des Extremismus heute entgegenzutreten. Es geht darum, mit den Geschichten der Überlebenden das Herz anzusprechen, mit Wissen und Verständnis den Kopf, und durch die Ermutigung der Menschen, selbst aktiv zu werden, die Hand, sagen die beiden Gründerinnen Ruth-Anne Damm und Sarah Hüttenberend.

In den 12 Jahren seit Beginn von Zweitzeugen als Studienprojekt haben Ehrenamtliche (derzeit mehr als 130) und Mitarbeitende 37 Lebensgeschichten deutschsprachiger Holocaustüberlebender dokumentiert. Da Zeitzeug*innen nicht mehr lange in der Lage sein werden, selbst zu sprechen, befähigen die Überlebenden Mitglieder der jüngeren Generationen, ihre Biografien zu bewahren und zu teilen, und zwar durch Ausstellungen, Bildungsprojekte, Digital Storytelling, Podcasts, Magazine und Bücher sowie Veranstaltungen und Vorträge.

Ein zentraler Baustein der Arbeit von Zweitzeugen ist das Bildungsprogramm an Schulen. Die Workshops bestehen aus mehreren Phasen, in denen die Schüler*innen die folgenden Themen bearbeiten: antijüdische Gesetze und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden, die Lebensgeschichte eines bzw. einer Zeitzeug*in, Briefe schreiben an die Überlebenden und ihre Familien sowie die Bezüge dieser Geschichte zur heutigen Welt und zur Situation von Geflüchteten. 

Manchmal stellen sie Fragen wie ‚Haben Sie eine Gaskammer gesehen?‘ Ich möchte Kindern in dem Alter klarmachen: erkennst du, wie gut du es hast? Und denke an die Geflüchteten, die heute leiden.
— Eva Weyl

Seit September 2022 betreibt Zweitzeugen die digitale Lernplattform „Werde Zeitzeug*in“, die drei Überlebende in den Mittelpunkt stellt. Die Lernplattform ist für alle ab 12 Jahren frei zugänglich, und Lehrkräfte können sie nutzen, um ihr eigenes Lehrangebot zu schaffen. Finanziert wird sie von der Stiftung Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen.

Barrierefreiheit ist ein wichtiges Ziel, weswegen Zweitzeugen Materialien auch in Leichter Sprache und Gebärdensprache sowie Audiodeskription und Untertitelung anbietet. Zudem gibt es einen Podcast mit Schwerpunkt Perspektiven der Zeitzeug*innen. Zweitzeugen hat eine Ausstellung erstellt, die in Dortmund unter freiem Himmel gezeigt wurde und Passant*innen zum Anhalten und zum Nachdenken anregte – und dazu, eine neue Rolle einzunehmen, sagt Ruth-Anne Damm, 34, Geschäftsführerin von Zweitzeugen. 

Sie zitiert den Nobelpreisträger Elie Wiesel: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden. Ich bin tief und fest davon überzeugt: jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden, sodass diejenigen, die uns zuhören, die uns lesen, für uns weiterhin Zeugnis ablegen müssen. Bis jetzt tun sie dies mit uns. Ab einem gewissen Zeitpunkt werden sie es für uns alle tun.“

„Dies ... darf nie vergessen werden“

Der Ursprung von Zweitzeugen war, dass Damms Schwägerin Anna Damm und ihre Studienfreundin Sarah Hüttenberend 2010 einen Dokumentarfilm über Holocaustüberlebende sahen. „Im Film hieß es, dass in Israel noch 200.000 lebten, mehr als ein Drittel von ihnen unter der Armutsgrenze. Es schockierte sie so stark zu sehen, wie schwierig es für viele Überlebende war, zurande zu kommen. Was sie aber am meisten schockierte war, dass wir uns darüber noch nie Gedanken gemacht hatten. Und sie schämten sich dafür“, sagt Damm. 

„Damit fing die Idee an, selbst Antworten zu finden und Überlebende zu treffen und mit ihnen zu sprechen“, ergänzt sie. „Als sie mir davon erzählten, fand ich die Idee reizvoll.“

In der Schule hatten sie gelernt, dass „der Krieg zu Ende ging und der Antisemitismus erledigt war. Einfach so. Wir wissen alle, dass das überhaupt nicht stimmt“, erinnert sich Damm.

Sie fragten sich: wer sind diese Menschen, die überlebten, und wie ist es ihnen gelungen, die Lage zu meistern? Konnten sie lernen, wieder Vertrauen zu finden?

Damm transkribierte das Interview, das Anna und Sarah mit Eliezer Ayalon in Israel geführt hatten. „Ich hörte seine Stimme im Kopfhörer – das war meine erste wirkliche Begegnung mit einem Überlebenden“, erinnert sie sich. „Ich war zutiefst berührt. Ich dachte: das ist so groß und gewaltig, das darf niemals vergessen werden.“

Damm reiste danach nach Israel und traf sich ebenfalls mit Überlebenden. „Aber Eliezer durch den Kopfhörer zu hören machte mich zum ersten Mal zur Zweitzeugin.“

Sie fing an, mit Lehrkräften zu netzwerken, und die Arbeit mit Kindern begann 2012.

Die jüngsten sind zehn Jahre alt, sagt ihre Kollegin Nina Taubenreuther. „Das ist ein Alter, in dem man aufsaugt, was die Eltern über Menschen, Gruppen, Religionen sagen. In diesem Alter beginnt man, eigene Einstellungen zu entwickeln. Und aus meiner Sicht braucht man Leitlinien und Unterstützung für den Umgang mit diesen Informationen. Kinder brauchen einen Anker, und diese persönlichen Geschichten können als Anker dienen und helfen, Perspektiven zu ändern.“

„Wir sprechen über die Kindheit der Überlebenden, ihren Alltag, ihren Schulweg und die antijüdischen Gesetze, die umgesetzt wurden“, sagt sie. „Man kann die Kinder fragen: was würdet ihr tun, wenn man euch verbieten würde, ein Haustier zu haben oder Sport zu treiben?“

Kinder stellen Fragen über das, was sie gerade beschäftigt, sagt Eva Weyl, 87, die ihre Lebensgeschichte mit Zweitzeugen geteilt hat. Weyl wurde 1945 mit ihrer Familie aus dem Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden befreit.

„Manchmal stellen sie Fragen wie ‚Haben Sie eine Gaskammer gesehen?‘“, sagt Weyl. Sie versucht, eine einfache Botschaft zu vermitteln: „Ich möchte Kindern in dem Alter klarmachen: erkennst du, wie gut du es hast? Und denke an die Geflüchteten, die heute leiden.“

„Und dann ging alles ganz schnell“

Weyl traf Ruth-Anne Damm und Sarah Hüttenberend vor etwa zehn Jahren nach einem Programm in einer Schule in Haldern am Niederrhein, wo ihre Vorfahren geboren wurden. Weyls Gastgeber sagten ihr: „Ein paar junge Damen möchten mit Ihnen sprechen.“

„Sarah sagte mir, dass ihr als junge Frau bewusst wurde, dass so wenig über die noch lebenden Holocaustüberlebenden niedergeschrieben worden war, und dass sie mit zwei befreundeten Studentinnen entschieden hatte, eine Initiative zu starten. Das hat mich sehr beeindruckt“, sagt Weyl.

Die beiden Frauen besuchten Weyl in Amsterdam und brachten ein Interview-Magazin über ihr Leben heraus. „Ich sah, wie sie sich entwickelten. Zunächst war es ein paar Freiwillige ohne Einkommen ... und dann ging alles ganz schnell“, sagt Weyl. 

Sie bildeten ein halbes Dutzend Ehrenamtliche aus, „um in Schulen unsere Geschichten zu erzählen. Die Ehrenamtlichen gehen mit Bildern von mir und meiner Geschichte in die Schulen und machen mit den Kindern Workshops. Sie stellen Fragen: ‚Was meint ihr, was Eva im Lager gemacht hat? Wie war das Essen dort?‘“

Manchmal schreiben ihr die Kinder. „Für mich ist es am bewegendsten, wenn ihnen klar wird, wie privilegiert sie sind“, sagt sie. „Und wenn sie schreiben, ‚ich werde diese Geschichte am Leben halten‘, dann bin ich mir sicher, dass sie sich immer an meinen Vortrag erinnern werden.

„Ich brauche die Zweitzeugen, und sie brauchen mich“, ergänzt sie.

Für Taubenreuther ist die Verknüpfung zwischen Überlebensgeschichten von gestern und denen von heute konkret. 2016 gab sie ihre Karriere in öffentlichen und privaten Medien auf, um in Deutschland ankommenden syrischen Geflüchteten zu helfen, und nach einiger Zeit übernahm sie die Leitung des Projekts Life Back Home, das Begegnungen von 30 jungen Geflüchteten mit Schüler*innen in deutschen Schulen organisierte. 

„Ehrlich gesagt habe ich befürchtet, dass all die persönlichen Geschichten mich zu sehr berühren würden, und dass ich immer traurig sein würde. Ich wusste aber auch, dass ich damit umgehen könnte. Sie waren sehr mutig. Sie standen vor Gleichaltrigen und teilten ihre Geschichten von Flucht und Überleben“, erinnert sie sich. 

Life Back Home wurde mit einem Preis ausgezeichnet, und bei der Preisverleihung im Bundeskanzleramt lernte Taubenreuther frühere Preisträger*innen kennen, darunter auch Zweitzeugen.

Dieses zufällige Treffen, sagt Damm, „war so bedeutend und wirkungsvoll“. Sie organisierten eine gemeinsame Veranstaltung, „bei der wir die Geschichte eines Überlebenden erzählten, und Nina lud eine syrische Frau ein, die ihre Geschichte erzählte“, sagt sie. „Ich hatte die ganze Zeit Gänsehaut.“

Obwohl die Umstände und die Geschichte sehr unterschiedlich waren, erinnert sich Taubenreuther, „gab es so viele ähnliche Orte, wo sie gewesen waren, und es lagen 70 Jahre dazwischen. Das war der erste Moment, wo wir sehr eng zusammengearbeitet haben. Und als sich die Gelegenheit ergab, habe ich ohne zu zögern entschieden, mich beim Team zu bewerben.“

Damm sagt: „Manche sagen über den Holocaust, ‚das ist ein altes Thema, leg es beiseite – was hat das mit der Gegenwart zu tun?‘ Nun, es hat viel mit der Gegenwart zu tun.“

„Auch ich habe das nicht gewusst“

2016 hat Zweitzeugen den Kurzfilm „Auf gute Nachbarschaft“ produziert, in dem zwei Bewohner eines Pflegeheims in Frankfurt zusammensitzen und sich über ihre sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten unterhalten: Siegmund Pluznik, ein Jude aus Polen, und Carlo (Karl-Heinz) Lietz, ein ehemaliger Wehrmachtsoldat.

„Hätte das Schicksal sie 70 Jahre früher zusammengeführt, wäre das kein besonders angenehmes Treffen gewesen“, sagt Michael Jung, Pluzniks Sohn. „Mein Vater flüchtete ganz aktiv vor der SS und der Gestapo usw. Da sie aber jetzt in einem Altersheim wohnten, entwickelten sie eine herzliche, freundliche, nachbarschaftliche Beziehung und blickten aus der heutigen Perspektive auf ihr Leben zurück.“

Im Laufe der Jahre hat Pluznik vor vielen Schulklassen gesprochen. Er war als Teenager aus seinem Schtetl geflüchtet und hatte sich dem Widerstand angeschlossen. Zweitzeugen hat seine Lebensgeschichte online und in einem Magazin veröffentlicht. „Ich habe ihn nie so klar, so glücklich, so erfüllt gesehen wie bei diesen Gesprächen“, sagt Jung.

In Diskussionen mit Teenagern erzählte Pluznik, wie gern er als Jugendlicher in seinem Heimatort zur Schule gegangen war und Fußball gespielt hatte.

Einmal fragte ihn eine Schülerin, ob er jemals Zeit hatte, sich zu verlieben.

„Er sagte: wäre er nicht in ein junges Mädchen verliebt gewesen, hätte er sich einer bestimmten Gruppe nicht angeschlossen, und diese Gruppe hat es geschafft zu fliehen“, sagt Jung. „Er wäre ums Leben gekommen, wenn er sich der Gruppe angeschlossen hätte, die seine Eltern bevorzugten. Auch ich kannte diese Vorgeschichte nicht. Und jetzt ist sie für meine eigene Vorgeschichte wichtig.“

„Er verspürte eine Verpflichtung, nicht nur die Geschichte und Erfahrung seiner eigenen Familie zu teilen“, sagt Jung, „sondern auch das Andenken an diejenigen, die schließlich ums Leben gekommen sind, zu pflegen.“

Heute „wiederholt Zweitzeugen seine Geschichte gegenüber jüngeren Generationen in ganz Deutschland, da er sie nicht mehr selbst erzählen kann.“  

— Obermayer Award 2023

 
 

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