Obermayer Award

Ein Schutzraum und Ort der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Der Treibhaus e.V. zieht mit seinem vielfältigen Angebot viele junge Menschen an, die dazu beitragen, die Geschichte ihrer Stadt neu zu schreiben. 

Toby Axelrod

Als Teenager erlebte Stephan Conrad in Döbeln Gewalt und Bedrohungen, die Jugendclubs wurden von Neonazis dominiert oder terrorisiert. Er selbst wurde einmal zusammengeschlagen.

Einen Zufluchtsort gab es jedoch: den Treibhaus-Verein. 

Der Name ist Programm, betrachtet sich der Verein doch im Wortsinn als Treibhaus für soziokulturelle Aktivitäten in Döbeln und als Ort, an dem Gutes sprießt. Seit seiner Gründung im Jahr 1997 bietet der „Treibhaus e.V.“ Jugendlichen einen Schutzraum, in dem sie sich in Eigenregie und ganz unkompliziert treffen können. Heute ist er auch ein Ort des Lernens über die Lokalgeschichte während der NS-Zeit – eine Geschichte, die im sächsischen Döbeln mehr oder weniger unter den Teppich gekehrt worden war. 

In der Anfangszeit des Vereins waren aber die Neonazis das akute Problem. Erik Oßwald gehörte zu den Gründungsmitgliedern und erinnert sich, wie er und seine Freunde sich als Jugendliche jede Woche trafen und einen Ort suchten, „an dem wir sein können und den wir frei gestalten können.“ Die Gruppe schuf den Treibhaus-Verein für sich selbst – und Menschen wie Conrad.

Oßwald und seine Freunde fuhren Skateboard, hörten Punk und Hardcore. „Und wenn ich ein Problem mit Nazis hatte, konnte ich mit ihnen reden. Mit 16 waren sie ziemlich wichtig für mich“, erzählt Conrad.

Sprung ins Jahr 2021: Stephan Conrad, den alle nur als Conny kennen, ist heute 36 Jahre alt und ausgebildeter Sozialarbeiter. Seit 10 Jahren arbeitet er mit den Jugendlichen im Treibhaus-Verein. Davor engagierte er sich ehrenamtlich, unter anderem als Vorstand. Der Verein hat sein Leben verändert – auf eine Weise, wie er es später auch bei vielen anderen beobachten konnte.

Conrad öffnet jeden Tag die Türen und steht den Teenagern als Ansprechpartner zur Verfügung. Sie sprechen über „Probleme mit den Eltern, in der Schule oder mit der Justiz. Ich helfe ihnen beim Schreiben von Lebensläufen und Bewerbungen. Und ich bin auch für das Reinigen der Toiletten und das Geschirrspülen zuständig“, lacht er. 

Über die Jahre wurde das Angebot laufend erweitert, zum Beispiel um Kunstprojekte oder Fahrradreparaturkurse. Geflüchtete finden hier Beratung, Unterrichtsangebote und Anschluss. Vom Café Courage, einem ehrenamtlich geführten Begegnungs- und Veranstaltungsort für Jugendliche, über Skate Force Döbeln, wo die Kids mit ihren Skates oder Skateboards abseits der Straße üben können, bis hin zur AG Geschichte, die das Schicksal der jüdischen Bevölkerung und Zwangsarbeiter*innen unter dem NS-Regime recherchiert: Treibhaus hinterfragt den Status Quo, öffnet Türen und ebnet den Weg.

„Man braucht Mut und darf nicht schüchtern sein“, sagt Jenny Leisker, die vom Treibhaus-Verein bei der Umsetzung eines neuen Skateparks für die örtliche Jugend unterstützt wurde. „Man muss sich Hilfe holen – alleine schafft man das nicht.“

Geschichte aufdecken

Die AG Geschichte geht auf Conrads Studienzeit zurück. Im Jahr 2010 besuchte er im Rahmen seines Studiums der Sozialen Arbeit viele Gedenkstätten. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie wenig er eigentlich über die Geschichte seiner Heimatstadt wusste. Conrad und eine damalige Kommilitonin und spätere Kollegin, Sophie Spitzner, fragten sich, „was in der NS-Zeit in Döbeln passiert war, und wir versuchten zu recherchieren.“

Ihnen war bekannt, dass es während des Krieges am Ort eine Munitionsfabrik gegeben hatte, und Conrad wusste, dass seine Großeltern nach dem Krieg aus Schlesien nach Döbeln geflohen waren, wo sie sich kennen lernten. „Es gibt mich, weil es den Nationalsozialismus und den Krieg gab und alles, was nach dem Krieg passiert ist. Das wusste ich. Aber wir wussten nicht, ob es in Döbeln jüdisches Leben gegeben hatte oder ob Menschen zur Arbeit in der Fabrik gezwungen worden waren.“

Gemeinsam mit Spitzner fand er heraus, dass es tatsächlich eine jüdische Gemeinde gegeben hatte, die nach 1945 aber nicht mehr existierte, und dass in der Fabrik auch Zwangsarbeiter*innen eingesetzt wurden. „Dieses Wissen wollten wir weitergeben“, sagt er.

Ausgehend von der Arbeit des Gymnasiallehrers Michael Höhme, der bereits 2007 die Verlegung der ersten fünf Stolpersteine in Döbeln initiiert hatte, konnten sie weitere 11 Stolpersteine in Döbeln vor den letzten bekannten Wohnhäusern deportierter Jüdinnen und Juden auf den Weg bringen. Später kamen in umliegenden Orten 27 Stolpersteine hinzu. Seit 2013 bietet der Treibhaus-Verein auch Führungen für die Öffentlichkeit und Schulen an. „Wir zeigen ihnen die Häuser, wo jüdische Familien lebten, und die Fabriken, in denen Zwangsarbeiter*innen eingesetzt wurden. Und wir recherchieren immer weiter“, erzählt Conrad.

Der Verein hat eine Broschüre herausgebracht („Niemand kam zurück – Jüdisches Leben im Altkreis Döbeln bis 1945“) und eine App entwickelt, mit der man den Routen der Führungen auf eigene Faust folgen kann.

Am Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 organisiert der Treibhaus-Verein Gedenkveranstaltungen in Döbeln und umliegenden Orten. „Wir treffen uns in den Orten um 18:00 Uhr an den Stolpersteinen, reinigen sie, entzünden Kerzen und legen Blumen nieder“, erklärt Conrad. „Schülerinnen und Schüler oder jemand aus dem Jugendzentrum liest den Lebensweg der Menschen vor, die dort lebten. Wir gehen von Stein zu Stein und erinnern an diese Menschen.“

Vor einigen Jahren entstand über die Arbeit des Vereins der Kontakt zu einer jüdischen Familie mit Wurzeln in Döbeln. 

Kontakt zu Nachfahren

Die Cousinen und Journalistinnen Hella und Sandra Rottenberg aus Amsterdam erfuhren 2014, dass ihr Großvater, Isay Rottenberg, eine Zigarrenfabrik in Döbeln besessen hatte. Er überlebte den Krieg durch die Flucht in die Niederlande, wo er sich versteckt hielt. Aber er sprach nie über den Verlust seiner Fabrik.

In einer der letzten Phasen der Entschädigungsverfahren für die Enteignungen der Nationalsozialisten erhielt die Familie Rottenberg vor etwa sechs Jahren eine Wiedergutmachungszahlung für die Fabrik. In Kürze ein Buch über ihre Familiengeschichte erscheinen unter dem Titel „The Cigar Factory of Isay Rottenberg“ (Die Zigarrenfabrik von Isay Rottenberg).

 „Wir wussten irgendwie, dass unser Großvater nahe Dresden eine Fabrik gehabt hatte, die von den Nationalsozialisten enteignet worden war, und dass er in den 1930er Jahren unter dem NS-Regime in inhaftiert gewesen war“, erzählt Hella Rottenberg. „Mehr wussten wir nicht: weder den Namen der Fabrik noch was dort produziert wurde oder wo genau sie stand.“

Anhand von Recherchen in Archiven in Berlin und Döbeln begannen sie, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Die Cousinen wandten sich schließlich an den Treibhaus-Verein, der den Standort der heute geschlossenen Fabrik eruierte und den Kontakt zum heutigen Eigentümer herstellte. Gemeinsam mit den Treibhaus-Mitgliedern Conrad, Spitzner und Judith Sophie Schilling besuchten sie den Ort. „Das war ein riesiges Gebäude, das als Kaserne genutzt worden war“, erinnert sich Hella Rottenberg. Drinnen „war es, als wäre alles noch da, als wäre einfach nur die Zeit stehen geblieben. Wir reisten zurück in die Vergangenheit.“

„Die jungen Leute vom Treibhaus bildeten die Brücke zu den ,Heimatfreunden‘“, einer Arbeitsgruppe älterer Bürger*innen, die die Lokalgeschichte recherchiert hatten. Die „AG Döbelner Heimatfreunde“, erzählt sie, „hatte eine sehr gute Chronik der Ereignisse in Döbeln erstellt, es aber dabei belassen. … Das Schöne an den jungen Leuten war, dass sie die Geschichte an die Öffentlichkeit bringen wollten, um darauf aufmerksam zu machen, was wirklich geschah.“ Es ging ihnen darum, Jahrzehnte der Beschönigung zu überwinden und zu zeigen, dass „Döbeln eine ganz andere Geschichte hat, als die dort Lebenden immer dachten.“

Hella und Sandra Rottenberg luden Conrad und Schilling im Mai 2018 zum Jahrestag der Befreiung von der deutschen Besatzung in die Niederlande ein. Dort sprach Conrad vor dem ehemaligen Wohnhaus von Isay Rottenberg über die Arbeit der AG Geschichte. „Es waren viele niederländische Juden dort, und sie waren sehr beeindruckt von den Aktivitäten [des Treibhaus]“, sagt Hella Rottenberg.

„Man muss nicht weit reisen, um etwas über diese Geschichte zu erfahren“, meint Conrad. „Wenn man die Kinder heute fragt, ob sie wussten, dass es in Döbeln jüdisches Leben gegeben hatte, sagen alle: ,Nein, das wusste ich nicht.‘ Wenn man in der eigenen Stadt anfängt, schafft das eine stärkere Verbindung zum eigenen Leben, als wenn man nach Auschwitz fährt. Es ist wichtig zu wissen, was in Auschwitz passiert ist, aber diese Menschen haben früher hier gelebt.“

Erik Oßwald, der heute als Event-Manager in Berlin arbeitet, ist beeindruckt von der Entwicklung des Treibhaus-Vereins seit seinen Anfängen mit einer Gruppe von Skatern und Punks im Jahr 1997. Die AG Geschichte „war ein großer Schritt für diese kleine Stadt und wird noch vielen zukünftigen Generationen wichtige Lehren vermitteln“, ist er überzeugt. „Diese jungen Leute machen sich das Treibhaus zu eigen und entwickeln es weiter. Darauf bin ich wirklich stolz.“

— Obermayer Award 2022

(Deutsche Übersetzung: Heike Kähler)

 
 

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