Obermayer Award

„Es herrscht ein sehr offener Geist, und alle werden respektiert“

Stefan Schirmer und FC Ente Bagdad bauen Verständnis und Akzeptanz auf, bewahren die jüdische Geschichte und spielen eine Menge Fußball

Toby Axelrod

Shady Sharif war 19, als er aus dem kriegszerrissenen Syrien flüchtete. Nach 15 Tagen auf See in einem Boot mit 250 anderen landete er in Italien an. Mittlerweile lebt er in Deutschland.

Sharif wohnte in Mainz in einem Heim für Geflüchtete, als er Stefan Schirmer kennenlernte. Schirmer war beim FC Ente Bagdad, einem weit über den Sport hinaus aktiven Fußballklub, schon lange ehrenamtlich tätig. 

„Er hat immer junge Leute mitgenommen, um Fußball zu spielen“, erinnert sich Sharif, der in seiner angenommenen Heimat allein war. „Das hat bei der Sprache viel geholfen. Sie hatten viel Geduld. Stefan Schirmer war immer da.“


Dank dieser Begegnung ist Sharif, der mittlerweile IT-Spezialist ist, auch ein Botschafter für den Pluralismus in Deutschland. „Ich habe viel erlebt“, sagt er,“ und ich weiß, was wichtig ist. Man sollte nicht wegen der Religion gegeneinander kämpfen.“

Schirmer hat eine enorme Rolle dabei gespielt, diese Botschaft zu vermitteln. In vielerlei Hinsicht ist er die impulsgebende Kraft hinter einer Organisation, die seit Jahrzehnten ein Leuchtturm für Vielfalt, Akzeptanz und Gleichheit, für die Anerkennung und das Verständnis von jüdischer Geschichte und Kultur ist. Diese Leistungen sind umso bemerkenswerter, weil sie in einer Community – nämlich Sportbegeisterte – stattfinden, in der diese Werte nicht immer im Vordergrund stehen und die von herkömmlichen Outreach-Aktivitäten möglicherweise nicht erreicht wird. 

Begonnen hatte alles 1973, als junge Leute, die sich aus der Schule kannten, diesen Amateur-Fußballklub in Mainz gründeten. Den Namen wählten sie wegen seines weltläufigen und exotischen Klangs: sie assoziierten dabei die Stadt Bagdad mit Scheherazades fabelhaften „Märchen aus 1001 Nacht“, sie wollten fabelhaften Fußball spielen, und Enten schwimmen immer oben.

Das unvergessliche Motto des Klubs: „You’ll never watschel alone“ – ein Wortspiel auf den Song von Rodgers und Hammerstein „You’ll Never Walk Alone“, der zur Hymne des FC Liverpool, eines beliebten Teams der englischen Premier League, geworden ist. 

„Wir sagten: ‚das ist ein sehr gutes Motto für uns‘“, sagt Schirmer, der sich seit 1974 im Klub engagiert. „Zunächst einmal ist es lustig. Und es drückt so viel darüber aus, was wir als Klub machen: keines unserer Mitglieder wird jemals allein watscheln. Es wird immer jemand da sein, um zu helfen. Diese paar Worte sagen alles.“

Die Philosophie von Ente Bagdad ist, dass Fußball universell ist; er kann einen Raum bieten, in dem unterschiedliche Menschen sich treffen und sich gegenseitig kennenlernen. Heute hat der Klub Mitglieder aus Dutzenden Ländern, und er hat auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene gespielt. Gleichzeitig engagiert er sich in zahlreichen Aktivitäten zur sozialen Gerechtigkeit: u.a. Arbeit mit Geflüchteten, Reisen in die Heimatländer der Mitglieder (u.a. Syrien vor dem Krieg, Marokko, Bolivien und Israel, und eine Reise nach Ruanda ist für 2023 geplant), Vermittlung von Wissen über den Holocaust durch die Geschichte des Fußballs sowie einem allgemeinen Schwerpunkt auf Vielfalt.

„Es gab keine Diskussion“

Viele Jahre lang hat Schirmer gemeinsam mit dem Präsidenten Ronald Uhlich den Klub geleitet. Heute gibt es ein Führungsgremium mit sechs Mitgliedern. Schirmer ist verantwortlich für die Aktivitäten zu Geschichte und Erinnerung, die Website (er nennt sich scherzhaft Maître de la Toile — Meister des Webs) und die gesamte internationale Arbeit. 

Aus zwei Gründen ist es wichtig, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sagt Schirmer, der in Vollzeit für ein Schweizer Unternehmen arbeitet, das Software für Digitaldrucker produziert. „Erstens, wenn man nicht aus der Erfahrung lernt, dann macht man einfach immer wieder dieselben Fehler.“ Zweitens, „oft steht einfach nicht genügend Zeit zur Verfügung, um im Geschichtsunterricht in der Schule über den Hintergrund dessen, was geschehen ist, zu sprechen und darüber, was es bedeutete. Mit Glück kann man an der Oberfläche kratzen. Und ich denke, dass junge Menschen die Zusammenhänge verstehen müssen – und wollen.“

Sein Engagement ist Ausdruck seiner eigenen Versuche, die Vergangenheit zu verstehen. 1958 in Mainz geboren, ist Schirmer in einem religiösen christlichen Umfeld aufgewachsen. Mit Blick auf die lange Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, die in den Holocaust mündete, hat er sich gefragt, wie Menschen so verlogen sein könnten, sagt er: „Einerseits waren alle religiös, aber andererseits genau das Gegenteil. 

„Zu Hause gab es darüber keine Diskussion“, sagt Schirmer. Eines Tages wurde ihm bewusst, dass einer seiner Großväter Nazi war. „Ich lernte einfach, selbst die Augen und Ohren zu öffnen, und ich versuchte zu verstehen, was ich sah und hörte. So fing das an.“

„Die nächsten Nazis, die ich kennenlernte, waren die Lehrer*innen an meiner Schule, weil es damals noch so viele gab,“ sagt er. „Über vieles, was sie sagten oder zum Ausdruck brachten, habe ich als Junge erst einmal gelacht. Als ich dann älter war, etwa 13 oder 14, wurde mir langsam klar, dass an dem, was sie sagten, irgendetwas eigenartig oder verkehrt war. Einer der Lehrer sagte immer mal wieder: ‚Hätten wir zwei Panzer mehr gehabt, hätten wir Stalingrad gewonnen.‘ Und das war in den frühen 1970erjahren, lange nach dem Krieg.“

Ich lernte einfach, selbst die Augen und Ohren zu öffnen, und ich versuchte zu verstehen, was ich sah und hörte. So fing das an.
— Stefan Schirmer

Schirmer studierte Marketingkommunikation in Deutschland und Wirtschaft in Frankreich. Im Laufe seiner Karriere hat er zahlreiche Positionen mit globaler Verantwortung in vielen Ländern innegehabt, und er spricht, wie er sagt, dreieinhalb Sprachen.  

Von einer italienischen Initiative inspiriert, gründeten Fußballfans in Deutschland 2004 das „!Nie wieder“-Projekt mit dem Ziel, die Diskriminierung im Fußball zu bekämpfen und sicherzustellen, dass der Holocaust nicht vergessen wird. Sie machten den 27. Januar, den Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, zum Erinnerungstag im deutschen Fußball.

Ente Bagdad spielt eine wichtige Rolle in dieser Initiative und hat sie vor Ort zu den Mainzer Erinnerungswochen mit Programmen, Vorträgen und Ausstellungen zu verwandten Themen ausgebaut. 2022 hat Ente Bagdad eine Veranstaltung zu dem Thema der Zwangssterilisation unter den Nazis und den sogenannten Euthanasie-Programmen gewidmet.

Zum Auftakt der Erinnerungswochen organisiert der Klub Vorträge. Der erste Referent war Serge Salomon, dessen Großvater Eugen Salomon im Jahr 1905 den Fußballverein FSV Mainz 05 gründete, heute ein Bundesligaverein, und sein erster Vorsitzender war. Eugen Salomon wurden von den Nazis in Auschwitz ermordet.

„Wir haben Serge Salomon angesprochen, weil wir dachten, dass es eine gute Gelegenheit wäre, den Menschen in Mainz und den Fußballfans zu zeigen, dass der Klub des ersten Vorsitzenden von Mainz 05 gedenkt. Er war ja Jude“, sagt Schirmer.)

„Für Stefan Schirmers Arbeit gibt es nur ein Wort: unglaublich“, sagt Salomon. Schirmer und Ente Bagdad nehmen sich nicht einfach eine Sache nach der anderen vor, sondern immer „viele Baustellen auf einmal.“

Salomon sagt, dass der Anstieg von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und in Europa insgesamt ihm Sorgen macht. „Ob Heime für Geflüchtete in Brand gesteckt werden oder auf eine Synagoge in Essen geschossen wird, man hört davon in den Nachrichten und da kommt einiges zusammen.“ Mehr Anerkennung für Projekte wie Ente Bagdad kann nur hilfreich sein, sagt er: „Worauf es ankommt, ist Kommunikation und Jugendarbeit. Alles andere funktioniert nicht.“  

„Neue Deutsche“

Schirmer ist ein „Wegbegleiter, Freund und verlässlicher Partner im Kampf gegen Antisemitismus und Diskriminierung jeglicher Art, vor allem im Kontext des Vereinsfußballs“, sagt Janik Trummer, Bildungsreferent bei Zusammen1, einem Präventionsprojekt von Makkabi Deutschland, dem jüdischen Turn- und Sportverein in Deutschland.

„Insbesondere die Aufklärungsarbeit mit geflüchteten Menschen innerhalb des Vereins stellt eine der großen Stärken dar“, schrieb Trummer in seiner Nominierung für Schirmer und FC Ente Bagdad für einen Obermayer Award.

Im Jahr 2015, als Hunderttausende Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Kriegsgebieten nach Europa flüchteten, hat FC Ente Bagdad gemeinsam mit Mainz 05 und dem Jugendhilfeträger Stiftung Juvente Mainz und mit Unterstützung der DFL-Stiftung das erste bundesweite Willkommensbündnis gestartet. 

„Sie wollen nicht Geflüchtete genannt werden“, sagt Schirmer. „Sie sind neue Deutsche.“

Zu dieser Zeit hat Schirmer Shady Sharif kennengelernt.

„Sie waren an einem Ort in Mainz untergebracht, wo niemand mehr leben möchte“, erinnert sich Schirmer. Mit Unterstützung mehrsprachiger Freiwilliger „sind wir dorthin gegangen und haben uns vorgestellt. Wir sagten, dass uns bewusst war, dass sie hier waren, weil sie aus ihrem Land fliehen mussten, und deshalb haben wir sie eingeladen, mitzukommen und mit uns Fußball zu spielen, um sich hier ein wenig einzuleben und vielleicht zwei Stunden pro Woche nicht über ihre Situation nachdenken zu müssen.

Heute sind viele der Jugendlichen, die am Programm teilgenommen haben, selbst Freiwillige geworden. Und mittlerweile sind auch Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, dabei.

Eine der Herausforderungen ist, dem Antisemitismus unter Geflüchteten aus dem Nahen Osten zu begegnen. „So sind sie geschult – Israel ist der Feind, und Jüdinnen und Juden sind der Feind, und so weiter“, sagt Schirmer. „Anfangs haben wir das Thema nicht direkt angesprochen, aber sie haben gesehen: bei Ente Bagdad herrscht ein sehr offener Geist, und alle werden respektiert. Das hat ihnen bereits etwas über den Klub gesagt, und es hat sie beeinflusst – das war Teil dessen, was ich ihre Germanisierung nennen würde – aufgeschlossen zu sein.“

„Dennoch gab es darüber Diskussionen, weil sie sagten: ‚Man hat uns in der Schule gesagt, dass Jüdinnen und Juden böse sind, sie sind alles Negative.‘ Da haben wir sie gefragt: ‚Okay, was hältst du von diesem Typen hier?‘ Sie antworteten: ‚Ein toller Typ!‘ Wir sagten: ‚Nun, er ist Jude.‘ — ‚Oh!‘ — Wir haben darüber gesprochen, und sie fingen an zu verstehen: wenn man gegen Israel ist, bedeutet das nicht, dass alle Jüdinnen und Juden böse sind“, sagt Schirmer.„

Aus Worten wurden Taten. Im April 2018 wurde jemand in Berlin angegriffen, weil er eine Kippa trug. „Wir haben gleich ein Freundschaftsspiel gegen die Fans von Mainz 05 organisiert, und alle Spieler gingen mit Kippa aufs Feld, als Zeichen der Solidarität“, sagt Schirmer.

Sharif hat damals mitgespielt. „In meinem Freundeskreis gibt es Christ*innen und Jüdinnen und Juden“, sagt er. „Ich wusste, was eine Kippa ist, und ich habe sie selbstverständlich getragen.“

„Einige meiner Freund*innen haben sich gewundert, aber das war mir egal. Solche Typen gibt es immer“, sagt er und ergänzt, dass er auf die jüdische Geschichte Syriens stolz ist. „Mein Vater sagte: ‚Das ist Fußball, und es ist gut, dass du da mitmachst und über die Geschichte lernst.‘“

Schirmer hat auch zum Ziel, das jüdische Leben in Mainz sichtbarer zu machen. Deshalb tauscht er sich mit Alon Meyer, Präsident von Makkabi Deutschland, darüber aus, eine „Sportbrücke“ zur Jüdischen Gemeinde Mainz aufzubauen. 

Meyer schrieb in seiner Nominierung: „Nach vielen gemeinsamen Gesprächen und fachlichen Austauschen bin ich der festen Überzeugung, dass der visionäre Geist Herrn Schirmers diese Brücke in ferner (oder auch schon naher) Zukunft bauen kann und wird. Der Sport als Bindeglied zwischen Gesellschaften und Kulturen wird dabei immer eine tragende Rolle spielen.“

— Obermayer Award 2023

 
 

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