Obermayer German Jewish History Award

Sibylle Tiedemann

Berlin


Sibylle Tiedemann ist um die ganze Welt gereist, um die letzten noch lebenden Juden aus ihrer Heimatstadt Ulm zu finden. Sie hat ihre Geschichten im Film festgehalten und damit Erinnerungen an das jüdische Leben vor dem Krieg erhalten, die sonst womöglich verloren gewesen wären.

Die heute 59-jährige Tiedemann (Stand 2011) hat im Laufe der Jahre mehrere Dokumentarfilme über das jüdische Leben in ihrer Region gedreht und dabei auch bleibende Beziehungen zu jüdischen Familien in aller Welt aufgebaut, deren Wurzeln in Ulm liegen. Die preisgekrönten Filme wurden im In- und Ausland in Schulen und Museen gezeigt. Ihre Inspiration zieht Tiedemann aus dem Bedürfnis sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Lehren für die Zukunft zu vermitteln: "Es ist wichtig diese Biographien für die nächste Generation zu bewahren", erklärt sie.

Auslöser für ihr Lebenswerk war eine Kinderfreundschaft mit einem jüdischen Jungen, dessen Eltern sich nach dem Krieg in einem bayrischen Lager für Displaced Persons kennen gelernt hatten. "Durch ihn erfuhr ich viel über die jüdische Religion und das jüdische Familienleben", so Tiedemann. Und sie fragte sich, wie wohl die Juden in Ulm vor dem Krieg gelebt hatten.

Eine zufällige Begegnung mit älteren Ulmer Bürgern führte Tiedemann schließlich auf eine Entdeckungsreise. Es begann mit einem Ehemaligentreffen der Mädchenschule, die ihre Mutter besucht hatte. Als Tiedemann die Klassenkameradinnen ihrer Mutter - damals alle in den 70ern - fragte, was aus ihren jüdischen Freundinnen geworden war, musste sie feststellen, dass sie darauf nicht antworten konnten oder wollten.

Tiedemann, die inzwischen ein Filmstudium absolviert hatte, beschloss selbst nach den ehemaligen Klassenkameradinnen zu suchen. Schließlich fand sie mehrere Frauen in Israel, Kalifornien, Texas, Chicago, Kentucky, New York und Kanada und besuchte sie. Ihr erster Film, die preisgekrönte Dokumentation "Kinderland ist abgebrannt" von 1997, zeigt Interviews mit vier jüdischen und acht nichtjüdischen Frauen. 

Darin erinnern sich die jüdischen Frauen vor allem an die schmerzliche Erfahrung, plötzlich ausgeschlossen zu sein und von ihren Freundinnen abgelehnt zu werden. Bei den nichtjüdischen Frauen klingt dagegen manchmal fast Wehmut durch, wenn sie das überwältigende Gefühl des Stolzes beschreiben, den sie als Mitglieder des Bundes Deutscher Mädel empfunden hatten - komplett mit Uniformen, Paraden, Liedern, Gruppenreisen, Arbeitseinsätzen und Sportveranstaltungen. "Ihre Standpunkte hätten kaum gegensätzlicher sein können, aber ich führte sie zusammen … und brachte sie dazu miteinander zu reden", erklärt Tiedemann. "Wir haben viel gelernt, und die Wirkung ging weit über den Film hinaus."

Ehemalige jüdische Mitbürger fanden wieder den Kontakt zu Nichtjuden in Ulm, und man knüpfte an Freundschaften an, die heute auch in die zweite Generation hineinreichen. Zur Erstaufführung des Films kamen mehr als 300 geladene Gäste, darunter 175 ehemalige jüdische Mitbürger aus Ulm sowie Verwandte von Sophie und Hans Scholl, den Widerstandskämpfern der Weißen Rose, die 1943 als Volksverräter hingerichtet wurden. 

In einem weiteren Film, "Hainsfarth hatte einen Rabbi: Jüdische Spuren im Nördlinger Ries" (2001), zeichnet Tiedemann in Interviews mit älteren Einwohnern ein Porträt der örtlichen jüdischen Gemeinde.

Tiedemann ist dem Thema treu geblieben. In ihrem neuesten Film "Briefe aus Chicago" dokumentiert sie das Leben der aus Ulm stammenden Lore Frank (geb. Hirsch), die dort die Mädchenschule besucht hatte, und ihres inzwischen verstorbenen Ehemanns Gustav David Frank, der als passionierter Hobbyfotograf zahlreiche Fotos hinterließ. Der Film zeigt die Bedeutung der Erinnerung und was es heißt, im Exil alt zu werden.

Für die Filmpremiere in Ulm organisierte Tiedemann eine Ausstellung mit Fotos von Gustav David Frank. Sie "durchforstete mit großer Leidenschaft tagelang Tausende von Fotos und Negativen, die mein Vater hinterlassen hatte", erzählt Karen Frank Scotese aus Evanston, Ill., USA. "Und sie besuchte meine Mutter jeden Tag. Es hat mir nur Leid getan, dass mein Vater die Ausstellung nicht mehr erleben durfte."

Die Sammlung umfasst neben Fotos, die Frank als Teenager in Ulm machte, auch Aufnahmen aus dem Jahr 1945. Damals kehrte er als US-Soldat in seine Heimatstadt zurück. "Er kam auch nach Ulm, um seine Eltern zu suchen - sie waren jedoch deportiert und ermordet worden", so Tiedemann. Seine Stadt lag in Trümmern. "Sie war zu 80 Prozent durch Bomben zerstört. Trotz allem verlor er nie die Liebe zu seinem Heimatland." Vor kurzem half Tiedemann dabei, Franks Archiv im New Yorker Leo Baeck Institut zur Erforschung der Geschichte der deutschen Juden unterzubringen.

Durch ihre Filme und ihre Arbeit zur Zusammenführung von Juden und Nichtjuden mehrerer Generationen hat Tiedemann nicht nur wichtige Lehren aus der Geschichte vermittelt, sondern vor allem zur Heilung und Versöhnung beigetragen. "Mit großem Geschick und Taktgefühl [hat] Sibylle gezeigt, dass es wichtig ist, der heutigen Jugend ,Gut und Böse' begreiflich zu machen", erklärt Ann Dorzback, die für den ersten Film interviewt wurde und Sibylle Tiedemann für den Preis nominiert hat.

Tiedemann, die derzeit einen Dokumentarfilm zu den Displaced Persons Camps nach dem Krieg plant, erklärt: "Es blieb der Nachkriegsgeneration überlassen Filme zu machen und Bücher und Artikel zu schreiben", im Rückblick auf die Vergangenheit. "Das Thema der Erinnerung lässt mich nicht los: Wenn die Erinnerung Einzelner verloren geht, ist auch die kollektive Erinnerung verloren."

 
 

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