Obermayer Award
„Kinder wollen nicht von Erwachsenen hören: ‚Das verstehst du noch nicht‘“
Roswitha Weber führt Grundschulkinder an die jüdische Kultur, die Verbrechen der Nazis und die Bedeutung der Empathie heran
Toby Axelrod
Die Lehrerin Roswitha Weber hat in ihrem gesamten Berufsleben Kindern geholfen, ihre natürliche Fähigkeit zur Empathie zu erkennen und sie sich zu eigen zu machen. Gleichzeitig hat sie ihnen beigebracht, wie das Schlimmste geschehen kann, wenn Menschen sich nicht umeinander kümmern.
Von 1988 bis zu ihrer Pensionierung 2015 hat Weber an der Grundschule in Kenzigen, einem Ort in Baden-Württemberg, Deutsch, Französisch, Religion und andere Fächer unterrichtet. Mitte der 1990erjahre brachte sie Kindern der 3. und 4. Klasse die Nazivergangenheit nahe, um Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt zu fördern.
In Deutschland ist es höchst ungewöhnlich, mit Schüler*innen in diesem Alter das Schicksal der Jüdinnen und Juden in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs durchzunehmen. Weber ist jedoch davon überzeugt, dass dies in altersgemäßer Art und Weise thematisiert werden kann – und soll.
Für die ganz jungen Kinder bedeutet dies, ihnen die jüdische Kultur beispielsweise durch Lieder, Feiertage und Speisen nahezubringen. Für ältere Kinder, ihnen zu helfen, sich mit jüdischen Kindern zu identifizieren, die in Nazideutschland verfolgt wurden.
Und die Kinder sind wissbegierig. „Kinder wollen nicht von Erwachsenen hören: ‚Das verstehst du noch nicht‘ oder ‚lassen wir das Thema, wir wissen da eigentlich nicht Bescheid‘ oder ‚das ist so lange her, lassen wir das‘“, sagt Weber.
Im Laufe der Jahre hat sie viel Widerstand überwunden, ob von Menschen, die denken, dass jüngere Kinder dieses Thema nicht bewältigen könnten oder von anderen, die meinen, man sollte das Thema endlich auf sich beruhen lassen und nicht mehr darüber sprechen.
Webers Antwort auf die skeptischen Stimmen: Unterschätzen Sie Kinder nicht! Sie wissen mehr als man vielleicht denkt, und es gibt Möglichkeiten, sie sogar an die schwierigsten Themen heranzuführen. Am wichtigsten: ein Kind, das lernt, die eigene natürliche Empathie zu aktivieren, wird sich mehr für Geschichte interessieren und wird besser in der Lage sein, die Lehren daraus in die eigenen Interaktionen mit Familienmitgliedern, Freund*innen und Fremden einzubringen.
Mit ihrer Beharrlichkeit hat sie diese Kritiker*innen überzeugen können. Als Pensionärin ist sie noch heute damit beschäftigt zu schreiben, neue Lehrkräfte als Mentorin zu betreuen und Veranstaltungen zu organisieren, die an das jüdische Leben ihrer Stadt und der Region erinnern.
Um nur einige ihrer zahlreichen Aktivitäten zu nennen: sie gibt die Buchreihe „Die Pforte“ über die Geschichte der Region heraus, veröffentlicht viele Artikel zur jüdischen Geschichte, hat ein interdisziplinäres Netzwerk von Multiplikator*innen in der Holocaust-Pädagogik gegründet, um neue Lehrkräfte zu coachen, und sie hat ein regelmäßiges ökumenisches Treffen von Religionslehrer*innen aus der Umgebung initiiert, um sie in die Holocaust-Pädagogik einzubinden.
Ihre ehemaligen Kolleg*innen digitalisieren gerade ihren Lehrplan zum Holocaust für den Einsatz innerhalb und außerhalb der Schule.
„Sie hat ihre Angst beschrieben...“
Weber wurde aktiv, nachdem sie 1992 „Ich bin ein Stern“ von Inge Auerbacher gelesen hatte. Die Holocaustüberlebende hatte ihre Autobiografie 1986 veröffentlicht. Auerbacher kam in Kippenheim zur Welt, nur 15 Autominuten nördlich von Kenzingen. Sie und ihre Eltern wurden 1942 in das Nazi-Konzentrationslager Theresienstadt in der ehemaligen Tschechoslowakei deportiert. Auerbacher war damals sieben Jahre alt.
„Es war das erste Buch zu dem Thema, von dem ich überzeugt war, dass ich es unbedingt meiner 4. Klasse nahebringen musste“, sagt Weber, die 1952 in Müllheim, etwa 60 Kilometer südlich von Kenzingen, geboren wurde.
Auerbacher „nimmt die Perspektive eines Kindes“ auf die Geschichte ein, sagt Weber. „Sie hat ihre Angst beschrieben, wenn sie Menschen mit Stiefeln sah oder hörte – es lief ihr kalt den Rücken herunter. Sie erzählte davon, wie sie im Lager Geburtstag feierte – einmal bastelte ihre Mutter etwas für ihre Puppe aus einem alten Lappen“ als Geschenk.
„Ich frage die Kinder, wie sie ihren eigenen Geburtstag feiern, und dann sollen sie das mit Inges Geburtstagsfeier vergleichen“, sagt Weber. „Ich kann nicht in die Klasse kommen und sagen: ‚Heute lernen wir über den Holocaust‘. Das würde nicht funktionieren. Zunächst muss ich mir sicher sein, dass sie verstehen und sich einfühlen können. Und dann gebe ich ihnen den Impuls, zu Hause darüber zu sprechen.“
Ausgehend von dem, was sie im Unterricht gelernt haben, waren die Schüler*innen daran beteiligt, Regeln zu entwickeln, um Mobbing in der Klasse zu verhindern, sagt Weber. „Alle können ihre Meinung sagen, niemand wird beschimpft, und wir haben Streitschlichter*innen. Wenn es während der Pause zu einer Rauferei kommt, dann versuchen ‚Pausenengel‘, die selbst Schüler*innen sind, zu helfen, das Problem zu lösen. Wenn das nicht gelingt, müssen sie sich an eine Lehrkraft wenden.“
„Erwachsene unterschätzen oft Kinder, aber das sollten sie nicht tun“, ergänzt Weber. „Kinder verstehen. Was geschah, war ungerecht. Es waren Kinder wie alle anderen, nur dass sie jüdisch waren. Warum mussten sie so sehr leiden? Warum haben die Menschen mitgemacht?“
Auerbacher hat sich im Laufe der Jahre häufig mit den Schüler*innen in Kenzingen getroffen, besonders am jährlichen Inge-Auerbacher-Tag, den Weber vor mehr als 20 Jahren ins Leben gerufen hat. „Man muss den Kindern etwas Bekanntes zeigen“, sagt Auerbacher, die immer noch Badisch spricht, obwohl sie seit 1946 in den USA lebt. „Die Kinder erkennen: nein, sie sieht gar nicht anders aus als wir. Sie trägt dieselben Kleider wie wir und sie spricht wie wir.‘“
Roswitha Weber „ist ein enormer Glücksfall“, ergänzt sie. „Seit vielen Jahren erfüllt sie diese ganze Situation, die jüdische Situation, mit Leben und hilft den Kindern dabei, bessere Menschen zu werden, sodass das nicht wieder geschehen kann.“
„Es ging nicht um Schuld...“
Als Jugendliche besuchte Weber in der Nachkriegszeit ein Internat mit liberalen Werten nahe der Grenze zu Frankreich und der Schweiz. Ein Onkel war in der SS gewesen. „Meine Großeltern haben sich wegen ihres Sohnes geschämt“, sagt Weber. „Aber er hatte keine Wahl. Er war blond, hatte blaue Augen, und er musste mitmachen. Er diente im Osten, in Lettland. Ich wollte nicht über alles, was dort geschehen ist, Bescheid wissen, und ich habe festgestellt, dass einige in meiner eigenen Familie überhaupt nichts wissen wollten.“
Weber hatte also Verständnis dafür, dass manche Eltern und Großeltern ihrer Schüler*innen nicht wollten, dass dieses Thema in der Schule durchgenommen wurde. „Ich habe mich mit den Großvätern getroffen und sie in den Unterricht eingeladen“, erinnert sie sich. Sie versuchte, sie davon zu überzeugen, „dass es nicht um Schuld ging, sondern dass sie die Verantwortung haben, über ihre Erinnerungen zu sprechen und diese Erinnerungsarbeit zu leisten.“
Nach und nach, sagt sie, haben die meisten das verstanden und sogar mit den Schüler*innen über ihre eigenen Erfahrungen während des Krieges gesprochen. Daraufhin haben sich andere Kinder bemüht, etwas über ihre eigene Familie herauszufinden.
Ein paar Mal haben Eltern ihre Methoden kritisiert, beispielsweise als sie den Kindern jüdische Kultur nahegebracht hat, unter anderem Tänze und wie man traditionelle jüdische Leckereien bäckt. Als Hausaufgabe sollten sie mit ihrer Familie darüber sprechen. „Denn jetzt wisst ihr mehr als sie“, sagte sie den Schüler*innen.
„Dafür wurde ich angegriffen“, sagt sie.
Ein anderes Mal hat ein Elternteil sie bedroht, nachdem sie ältere Kinder zurechtgewiesen hatte, weil sie Mitschüler*innen, deren Vater aus dem Kongo war, gemobbt hatten. „Sie konnten kein Deutsch außer ‚guten Tag‘ und ‚danke‘. Kinder aus rechten Familien haben sie in der Pause angegriffen und beschimpft. Ich brachte sie dazu, um Entschuldigung zu bitten, und wir haben darüber gesprochen. Ich erklärte, dass diese Kinder aus Frankreich kommen, aber es war ihnen egal. Sie wollten nicht verstehen. An dem Nachmittag wurde ich von einem Elternteil bedroht: ich sollte auf unsere eigenen Kinder aufpassen. Damals hatten wir drei kleine Kinder zu Hause. Sie wollten mich einschüchtern. Es ging lange hin und her. Das ist aber das einzige Mal gewesen, dass so etwas vorgekommen ist, und letztlich sind die Spannungen im Sande verlaufen.“
Einige Kolleg*innen waren auch nicht richtig überzeugt. „Sie sagten: ‚Warum machen Sie so viel Aufhebens darum?‘ Irgendwann hat sich das auch totgelaufen.“
Sie ergänzt: „Ich hatte das Gefühl, dass meine Bildungsarbeit mit den Eltern sich ausgezahlt hat. Am Ende haben die Eltern sich bei uns dafür bedankt, dass wir dieses Thema behandelten und diese Werte in der Schule förderten. Bis heute bekomme ich viel Unterstützung.“
Filmemacher Bodo Alaze konnte Roswitha Webers Engagement ganz aus der Nähe betrachten, als sein jüngstes Kind in ihrer Klasse war. Damals war Alaze in der Schule ehrenamtlich tätig und wurde gebeten, den Besuch von Inge Auerbacher zu filmen. „Das war der Anfang einer wunderbaren Zusammenarbeit bis heute“, sagt Alaze, der die Schule jetzt auch als Webmaster unterstützt.
Zunächst hat er sich gefragt: „Wie können wir mit Kindern in dem Alter über den Holocaust sprechen?“ Im Laufe einiger Monate haben die Kinder, darunter auch sein Sohn, Auszüge aus Auerbachers Büchern gelesen. Sie wurden angeregt, sich in ihre Lage zu versetzen. Als Auerbacher aus den USA anreiste, um die Schule zu besuchen, hat Alaze gefilmt. „Sie war eine wunderbare Brücke, weil sie aus der Perspektive eines Kindes geschrieben hat“, erinnert er sich.
Ein anderes Mal hatte Weber „einen alten Koffer und machte ihn gemeinsam mit den Kindern auf. Drinnen war ein Davidstern, und sie erklärte den Kindern, was das ist.“
Webers Leidenschaft für das Thema hat nicht nur die Kinder angesteckt, sagt Alaze. „Sie hat mit ihrer unermüdlichen Phantasie und einer unglaublichen Ausdauer ihre Vision in dieser Schule umsetzen können“, schrieb er in seinem Empfehlungsschreiben für ein Obermayer Award. Das Kollegium wurde auf dieser Reise mitgenommen. Inge Auerbacher kommt – das betrifft die ganze Schule. Eltern waren eingebunden. Ich auch.“
Die Bundesregierung hat Auerbacher eingeladen, im Januar 2022 am jährlichen Holocaust-Gedenktag vor dem Bundestag zu sprechen. Weber hatte dies vorgeschlagen und die Idee mit Nachdruck verfolgt. Danach hatten Schüler*innen an der UNESCO-Schule in Emmendingen, nicht weit von Kenzingen, die Gelegenheit, mit Auerbacher ein Interview zu führen. Ihr Gespräch wurde live an andere Schulen in der Region übertragen.
„Sie spricht vor Angela Merkel und anderen Politiker*innen, und es ist verrückt, dass Roswitha Weber es geschafft hat, sie hierher in ein kleines Dorf zu holen, sodass sie mit uns spricht“, sagt Nina Adolph, 17, die beim Interview dabei war.
„Man konnte spüren, wie stark sich alle darauf konzentrierten, was [Auerbacher] sagte“, ergänzt Leo Sillmann, 16.
„Sie gab uns das Gefühl, dass wir damals in dem Moment bei ihr waren“, sagt Sophia Fischer, 18.
Die jungen Leute sammeln jetzt Geld, sodass sie nach New York reisen und ein Interview mit Auerbacher aufzeichnen können, sagt Geschichtslehrer Benjamin Kleinstück, Leiter des Inge Auerbacher Zeitzeugenprojekts an der Schule. „Wenn wir mit Kindern über den Tod und über Gott sprechen können, dann können wir mit ihnen über den Holocaust sprechen, in ihrer spezifischen Sprache“, sagt Kleinstück, dessen Tochter früher in Webers Klasse war. „Sie können fühlen, sie können lernen und – am wichtigsten – sie können Fragen stellen.“
„Jetzt können wir erkennen, dass sie in den oberen Klassen immer noch interessiert sind“, ergänzt er. „Sie alle wollen Inge Auerbacher nächstes Jahr sehen. Jeden Montag sitzen zehn dieser jungen Leute in der Schule und planen: ‚Wie können wir nach New York fliegen? Wie können wir mit Inge ein Interview führen und sie für die Zukunft bewahren?‘ Ohne Roswitha gäbe es das alles nicht.“
— Obermayer Award 2023
This wall brings people together
Students at this Berlin elementary school, built on the site of a synagogue, have been building a wall for the past two decades. It delivers a powerful message about community.
“I have to do something so that children’s first contact with Judaism is not the [Holocaust].”
Meet Shlomit Tripp, with her puppet Shlomo and his friends. Their fun-loving shows are adored by children and adults alike, all while demystifying Jewish culture and normalizing intercultural relationships.
A home for Holocaust survivors, a complex history
What happened to the survivors when they were liberated from Nazi concentration camps? Citizens for the Badehaus shines a light on a little-known history and has connected with a generation of children born to Holocaust survivors as they reclaimed their lives.