„Denn unsere Vorfahren, unsere Eltern, die haben das versäumt. Und dann war alles zu spät.“
Die fesselnde Erzählerin Petra Michalski fordert ihre Zuhörer*innen auf, in guten wie in schlechten Zeiten mutig zu handeln
Toby Axelrod
Petra Michalski (geb. Ulrich) ist eine Botschafterin der Geschichte. Was damit begann, der Lebensgeschichte ihres Mannes Franz zuzuhören, ist zu einer Mission geworden, ihre Botschaft der Hoffnung und ihren Aktivismus mit jüngeren Generationen in Deutschland zu teilen.
2008 fingen Petra und Franz Michalski an, Besucher*innen der Gedenkstätte Stille Helden in Berlin zu erzählen, wie er unter den Nazis überlebt hatte. Die Gedenkstätte ehrt Menschen, die Jüdinnen und Juden retteten, und dazu gehören auch diejenigen, die Franz Michalskis Familie halfen. Ein paar Jahre lang sprach das Paar in Schulen und Gedenkstätten in ganz Deutschland. Nachdem Franz 2010 einen Schlaganfall erlitt, machte Petra weiter und begegnete etwa 200 Gruppen pro Jahr. Und sie macht seit seinem Tod 2023 allein weiter.
Seine Geschichte „ist meine geworden“, sagt Petra, die ihr Publikum inspirieren möchte. „Wenn sie nach Hause gehen, sollen sie mal gucken, ob sie nicht vielleicht irgendwo was helfen können, irgendwas Nützliches machen können“, sagt sie.
Ein Schüler sagte ihr nach einer solchen Begegnung, dass er beschlossen hatte, beim Roten Kreuz ehrenamtlich mitzuarbeiten und seine Freundin mitbringen würde. Schließlich „haben Sie gesagt, wir sollen auch mal was Vernünftiges machen und nicht nur in unser Handy gucken“, sagte er.
Ob es darum geht, Geflüchteten zu helfen oder die Stimme gegen Antisemitismus zu erheben – es ist wichtig „rechtzeitig“ zu handeln. „Denn unsere Vorfahren, unsere Eltern, die haben das versäumt. Und dann war alles zu spät.“
Petra Michalski wurde im April 1937 in Hamburg geboren und wuchs in einer jüdisch-christlich gemischten Familie, die aus Argentinien eingewandert war, auf. Während der Nazi-Zeit, als sie ein Kind war, verschwieg die Familie die Tatsache, dass ihr Stiefgroßvater Mátyás Plesch, Jude war, und dass ihre Mutter von einem indigenen Stamm in Argentinien, den Guaraní, abstammte.
„Das dürfte auch keiner wissen, denn das war auch so unwertes Leben“ in der Sprach der Nazis, erinnert sich Petra. Mátyás Plesch wurde 1935 von der Gestapo verhaftet und starb ein Jahr später an den Folgen der Folter.
„Es tut ja auch gar nicht weh.“
Sie erinnert sich, wie sie während der Bombenangriffe der Alliierten mit ihrer Mutter in einem Bunker war. Und sie wird nie vergessen, wie ihr Vater, ein Ausbilder an der Waffe, ihrer Mutter sagte, sie dürfte auf keinen Fall in die Hände der Russen gelangen. „Wenn die Kinder abends schlafen, dann drehst du den Gashahn auf, und morgen früh ist alles vorbei.“ Und es tut ja auch gar nicht weh“, sagte ihr Vater.
„Und diesen Satz, ,es tut ja gar nicht weh‘, habe ich behalten. Und dann habe ich natürlich gedacht, das darf ich niemandem erzählen, dass ich das gehört habe.“ Ich habe ja meine Eltern belauscht, und das war das Schlimmste, was man machen konnte!“
In den letzten Kriegstagen bestach Petras Mutter einen deutschen Soldaten mit 500 Zigaretten, die ihr Mann im Laufe der Zeit vom Militär bekommen hatte, um mit den Kindern nach Hamburg zu kommen, wo sie allmählich ein neues Leben anfingen.
Als die 16-jährige Petra bei einer Party 1953 Franz Michalski kennenlernte, hatte sie für seine Überlebensgeschichte sofort Verständnis. „Wir haben von Anfang an darüber gesprochen,“ sagt sie. „Weil meine Mutter auch sehr neugierig war: ‚Oh, wieder eine jüdische Person in unserer Familie!‘ So wurde die Geschichte auch in mir immer größer und voller. Bis ich alles wusste.“
Im Oktober 1934 in Breslau geboren – damals deutsch, heute das polnische Wroclaw – war Franz der Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters. Seine Mutter konvertierte, um ihre Familie zu schützen. „Aber ein Jahr später hat Hitler sie wieder zur Jüdin gemacht,“ sagt Petra, mit Bezug auf die Nazi-Rassengesetze.
Mit ihren Söhnen Franz und Peter zogen die Michalskis mehrmals um. Sie überlebten den Krieg aufgrund der Hilfe mehrerer Nicht-Jüdinnen und -Juden. „Das waren stille Helden“, sagt Petra.
Als Teenager vertrauten sich Petra und Franz einander an, freundeten sich an und stellten fest, dass sie beide amerikanischen Jazz mochten und gerne tanzten. Bei einer Party „forderte er ausgerechnet mich auf und trampelte mir beim ersten Schritt so doll auf die große Zehe, dass ich nur noch so schmerzlich säuseln konnte.
Ich sagte ironisch: ‚Sie tanzen ja wirklich fantastisch‘, da sagte er: ‚Ja, dann können wir doch immer zusammen tanzen.‘“
Sie heirateten und zogen zwei Kinder in Hamburg groß, wo sie bis in die späten 1960er Jahre lebten. 1969 zogen sie nach Baden-Württemberg, wo Franz Michalski Geschäftsführer eines Pharmaunternehmens war. Nach seiner Pensionierung 1993 zogen er und Petra nach Berlin, wo er einen Teil seiner Kindheit verbracht hatte.
Die Vergangenheit war immer im Hintergrund präsent. Und manchmal zeigte sie ihre hässliche Fratze.
Zum Beispiel als Petras Vater und Onkel nach dem Krieg das Haus verkaufen wollten, das ihrem jüdischen Stiefvater Mátyás Plesch gehört hatte. Der Beamte beim Grundbuchamt „guckt sich das an, wird so ein bisschen wütend, knallt das alles auf den Tisch und sagt: ‚Mensch, das ist doch jüdischer Besitz, das ist uns doch tatsächlich durch die Lappen gegangen‘“, erzählt sie. „Das heißt, derselbe Mensch, der vorher mit dabei war, den Juden ihre Grundstücke und Häuser wegzunehmen, saß immer noch da.“
Sie und Franz waren immer ein bisschen vorsichtig. „Wenn wir neue Leute kennenlernten, dann haben wir so eine Fangfrage ist vielleicht zu viel, aber wir haben das Gespräch [auf die Nazi-Zeit] gebracht. Und an der Reaktion haben wir dann gemerkt: ‚naja, mit denen wollen wir nichts zu tun haben, oder?‘“
Manche Bekannte verbargen ihre Vorurteile geschickt. In den 1970er Jahren schlug Franz einem langjährigen Geschäftspartner bei einem Gespräch beim Abendessen vor, dass er einen potenziellen Kunden in Holland kontaktieren solle.
Der Geschäftspartner sagte: „Das ist doch ein Jude. Ich würde doch nie mit einem Juden unter einem Dach wohnen.“
„Ich erstarrt vor Schreck“, erinnert sich Petra. „Und Franz? 100 % Pokerface. Ich habe mich so geärgert, dass er das so aufgenommen hat. Ich ging in die Küche, habe die Schublade aufgemacht, hatte so ein Messer in der Hand, habe ich wieder zugemacht. Dann habe ich die Bratpfanne in die Hand genommen, die Grillpfanne, die schwerste, die ich habe.
Bevor ich mich umdrehen konnte, kam Franz in die Küche und fing an, mich zu beruhigen: „Wir sprechen gar nicht darüber. Wir sagen gar nichts.‘“ Petra hatte eine andere Idee. „Manchmal, wenn man ruhig bleibt und auch eigentlich zum Gespräch kommt, kann es ein positives Resultat geben. Aber in diesem Fall wollte er nicht. Franz wollte das Thema überhaupt nicht ansprechen“, sagt sie.
„Wem sagen Sie das!“
Dann, im September 2006, geschah etwas, das sein Schutzschild, sein Schweigen aufbrach. Die Michalskis nahmen an einer Veranstaltung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand teil. Evelyn Woods, geborene Goldstein, eine jüdische Überlebende, die in den USA lebte, sprach darüber, wie sie während der Nazizeit in Berlin im Versteck lebte.
Sie sprach auch über den Antisemitismus, den sie in Deutschland nach dem Krieg erlebte. Da stand Franz auf und sagte, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit: „Wem sagen Sie das!“
„Und dann war es still“, sagt Petra. Als Evelyn Woods zu Ende gesprochen hatte, kamen drei oder vier Historiker zu Franz und fragten, was er gemeint hatte. „Ich war selber ein untergetauchtes Kind“, antwortete er und erzählte Einzelheiten über die Leidensgeschichte seiner Familie.
Zwei Jahre später, 2008, wurde die Geschichte der Familie Michalski und ihrer Retter*innen einer der ersten Berichte, die in der neu eröffneten Gedenkstätte Stille Helden geteilt wurden. Die Michalskis begannen sofort, Schüler*innengruppen, die diese oder andere Gedenkstätten in ganz Deutschland besuchten, Franz‘ Geschichte zu erzählen.
Franz und Petra setzten sich für die Ehrung der Retter*innen der Familie Michalski in der Gedenkstätte Yad Vashem ein. Am 29. Oktober 2012 hat die israelische Holocaust-Gedenkstätte die Namen von Gerda Mez und Erna Raack und ihren Eltern Ida und Ernst Scharf in ihre Liste der „Gerechten unter den Völkern“ eingetragen.
Franz erlitt 2010 einen Schlaganfall, der sein persönliches Engagement hätte beenden können, denn es war für ihn nun schwierig, vor Publikum zu sprechen. Aber Petra wurde zu seiner Stimme und erzählte, mit ihm an seiner Seite, seine Geschichte. Zum Glück „hatte er seine und meine Geschichte aufgeschrieben, so dass das schon mal alles gut und fest war“, erinnert sich Petra.
In den letzten Jahren hat sie auch vor Orientierungsklassen für junge Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Ägypten und dem Iran gesprochen. „Sie hören sich dann meine Geschichte an und am Ende frage ich immer, ‚und was haben Sie in Ihren Ländern über die Juden gelernt?‘ Da fangen sie oft an zu weinen. ‚Nur das Schlimmste, nur das Fürchterlichste.‘ Sie wundern sich, dass wir eigentlich genauso sind wie sie. Und sie sind genau wie wir“, sagt Petra. „Nur mit einigen Dingen ist man auseinander. Meistens sind das so religiöse Dinge.“
„Sie saßen gespannt auf ihren Stühlen.“
Wenn sie mit deutschen Schüler*innen spricht, fragen sie sich manchmal: „Komisch, dass meine Großmutter mir noch nie was erzählt hat, wie die Nazizeit war. Warum nicht?“ sagt Petra. Und sie nehmen sich vor, zum ersten Mal zu Hause nachzufragen.
Franz’ Autobiografie wurde 2013 auf Deutsch und später auf Englisch veröffentlicht: Als die Gestapo an der Haustür klingelte: Eine Familie in „Mischehe“ und ihre Helfer. Den ersten Entwurf hatte er 1994 auf Drängen seiner Nichte Milena geschrieben. Die Erinnerungen waren nur für die Familie gedacht. Mittlerweile waren sie Teil ihrer gemeinsamen Bildungsarbeit geworden.
Im Jahr 2014 traf die Berlinerin Marie Rolshoven die Michalskis während eines Besuchs einer Schulklasse in der Gedenkstätte Stille Helden, wo sie arbeitete. „Ich war unglaublich beeindruckt und berührt. Petra Michalski erzählte, da Franz Michalski aufgrund seines Schlaganfalls dazu nicht wirklich in der Lage war“, erinnert sich Marie Rolshoven, die 2024 mit dem Obermayer Award ausgezeichnet wurde. „Die Schülerinnen und Schüler saßen gespannt auf ihren Stühlen.“
Nach einem solchen Treffen schrieb ein 12-jähriger Junge aus Hamburg den beiden, dass er hofft, dass nie wieder so eine schreckliche Zeit kommen wird, sagt sie. „Falls es aber doch passiert und sie sich wieder verstecken müssen, sollen sie bitte zu ihm kommen. Er wird Petra und Franz dann bei sich zu Hause verstecken.“
Marie Rolshoven drehte 2018 einen Film über die Arbeit der Michalskis mit dem Titel „Als die Gestapo an der Haustür klingelte — Die Familie Michalski und ihre Stillen Helden“.
Petra nimmt regelmäßig am Projekt Denk Mal am Ort teil, das Marie Rolshoven zusammen mit ihrer verstorbenen Mutter Jani Pietsch gegründet hat. Jedes Jahr, um den Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa herum, laden Menschen in Berlin, Hamburg, Frankfurt und München zu Veranstaltungen in ihre Wohnungen ein, oft mit Augenzeug*innen und Überlebenden.
Für Petra ist es Hamburg, das ihr zu Herzen geht. Sie hat dort regelmäßig bei Denk Mal am Ort teilgenommen und im Sportzentrum Hoheluft gesprochen. Von dort kann man sehen, wo ihr Stiefgroßvater Mátyás Plesch im Butenfeld lebte. Ein Stolperstein wurde 2015 vor seinem ehemaligen Wohnhaus verlegt.
Vom Vereinshaus „konnte man immer direkt auf unser Haus gucken“, erinnert sie sich. „Und wenn dort ein Fußballspiel war, dann war unser Haus immer voll besetzt, denn alle wollten oben in der Mansardenwohnung sein, um sich das Spiel angucken zu können.“
Heute kann ich „aus der dritten Etage [des Sportzentrums] immer so rübergucken, dahin, wo unser Haus gestanden hat. Und da erzähle ich dann meine Geschichte“, sagt sie.
Kai Wegner, der Regierende Bürgermeister von Berlin, überreichte den Michalskis 2023 das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement als Zeitzeuge bzw. Zeitzeugin.
Und Petra berührt weiterhin die Seelen tausender Menschen, jung und alt.
„Petra gibt nicht auf“, sagt Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. „Heute erläutert sie selbst Dinge, trotz der Schmerzen durch ihren Verlust.“
Der Kern ihrer Botschaft lautet: „Mut ist möglich, auch in dunklen Zeiten, und ist in einer Demokratie jeden Tag notwendig. Umso mehr angesichts des anwachsenden und zunehmend unverhohlenen Antisemitismus und der brutalisierenden Sprache“, fügt Neumärker hinzu.
Die Michalskis kämpften „viele Jahre lang mit großem Engagement für Erinnerung und gegen Antisemitismus und Rassismus“, merkt Karoline Georg an, Leiterin der Gedenkstätte Stille Helden und des Museums Blindenwerkstatt Otto Weidt in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand. „Die Tatsache, dass Petra Michalski dieses Engagement nun fortsetzt, ist ein großer Gewinn für das ... Denkmal und für die Gesellschaft insgesamt.“
Da Zuhörer*innen immer wissen wollen, wie Petra und Franz sich kennenlernten, erzählt sie von der Party im Jahr 1953, wo sie zum ersten Mal zusammen tanzten.
„Er hat mir nicht nur die eine große Zehe zertrampelt, sondern auch noch die andere“, sagt sie lachend. „Und wenn er mit einer anderen Frau tanzte, habe ich immer dagesessen und auf den Schmerzensschrei gewartet. Nie, nie hat er einer anderen Frau auf die Zehen getreten. Nie.“
Wenn sie Schulkindern ihre Geschichte erzählt, bekommt sie viel positives Feedback. „Wenn ich die Schule dann verlasse, sagen die Kinder: ‚Ach, bitte, bleiben Sie doch noch ein bisschen!... Das ist ja viel besser, wie wenn der Lehrer uns was vorliest aus dem Geschichtsbuch. Bitte erzählen Sie doch noch.‘
Und ich lobe sie auch immer anschließend. Ich sage: ‚ich habe gemerkt, dass keiner in sein Handy guckt, keiner sich mit seinem Nachbarn unterhält. Ihr habt alle zugehört und keiner hat geschlafen. Und das ist eine ganz tolle Sache für mich, dass ihr zugehört habt. Und wenn nur einer von euch diese Geschichte weitererzählt, dann ist das mein größter Lohn.“
— Obermayer Award 2025