Obermayer Award

„Das ist die Treppe, die mein Vater hochgestiegen ist, und mein Großvater“

Marlies und Rudolf Walter berühren die Herzen der Überlebenden und deren Nachkommen

Toby Axelrod

Als junger Mann wollte Rudolf Walter erfahren, was mit den Jüdinnen und Juden in seiner Stadt geschehen war. Deshalb nahm er ein Buch in die Hand, das 1959 von einem Historiker vor Ort veröffentlicht worden war.

„Im Buch stand nur ein Satz über das Schicksal der Jüdinnen und Juden von Bad Kissingen, nämlich: die Synagoge wurde im Novemberpogrom zerstört und ‚alles, was später geschah, ist wohlbekannt‘.“

Allerdings war es gar nicht wohlbekannt. Also fing Rudolf Walter an nachzuhaken, bald gemeinsam mit seiner Frau Marlies.

Heute liegt eine Dokumentation der jüdischen Geschichte Bad Kissingens vor, die für Menschen aller Altersgruppen zugänglich ist. Damit hat eine neue Phase in den Beziehungen zwischen nichtjüdischen Deutschen einerseits und Überlebenden und deren Nachkommen andererseits begonnen. Dies ist zum großen Teil das Verdienst der Walters sowie von Rudolfs ehemaligem Schüler Hans-Jürgen Beck, der zeitweise mit ihnen zusammenarbeitete und 2013 mit einem Obermayer Award ausgezeichnet wurde. 

Als 68er wurden Marlies und Rudolf Walter von der Zeit Mitte der 1960erjahre geprägt und rebellierten gegen die Werte der älteren Generationen. Marlies Walter, 67, wuchs in Miltenberg am Main in der Nähe von Frankfurt auf, und Rudolf Walter, 70, im Nachbarort Kleinheubach.

„Das war die Generation, die anfing, Fragen über den Holocaust zu stellen“, sagt Rudolf, der an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg studierte und bis zu seiner Pensionierung 2015 am Jack-Steinberger-Gymnasium in Bad Kissingen Deutsch, Geschichte und Sozialkunde unterrichtete. „Wir erfuhren sehr wenig darüber von unseren Eltern, weil er verdrängt wurde.“ 

Rudolf erfuhr nicht viel, aber Marlies konnte doch mit ihrer Großmutter mütterlicherseits sprechen. 

„Sie erinnerte sich an die Pogromnacht, sie erinnerte sich an Namen. Sie ging mit meiner Mutter durch den Ort und sah die Ruine der Synagoge“, sagt Marlies, die von 1999 bis zu ihrer Pensionierung 2021 im Stadtarchiv tätig war. „Meine Mutter sagte mir, wo die jüdischen Geschäfte gewesen waren, und sie sagte, dass ein jüdischer Freund ihres Großvaters ihnen zu Pessach Matze brachte. Ich hatte ein paar Informationen, aber es war ein Zeichen der Integration.“

Rudolfs Interesse wurde 1988 geweckt als sein ehemaliger Schüler Beck – der mittlerweile selbst Lehrer geworden war – ihn fragte, ob er ein Veranstaltungsprogramm zur Erinnerung anlässlich des 50. Jahrestags des Novemberpogroms, der „Kristallnacht“, mitorganisieren wolle. 

 „Ich habe dem Oberbürgermeister Georg Straus vorgeschlagen, dass wir eine Ausstellung machen, und er hatte sofort Interesse“, erinnert sich Beck, der seine Examensarbeit über Jüdinnen und Juden in Bad Kissingen während der Weimarer Republik und der Nazizeit geschrieben hatte. Da er sich auf Prüfungen an der Universität vorbereitete, fragte Beck Rudolf Walter, ob er Interesse habe, die Ausstellung zu gestalten. „Er hat sofort zugesagt.“

Von der Herausforderung inspiriert, erarbeitete und gestaltete Rudolf gemeinsam mit seinen Gymnasialschüler*innen die bahnbrechende Ausstellung „Jüdisches Leben in Bad Kissingen“. Die Schüler*innen „fanden viele Fotos und Dokumente, und wir kontaktierten Jüdinnen und Juden aus Bad Kissingen, die emigriert waren“, erinnert sich Rudolf Walter. „Was sie uns schickten hat mich bewegt.“

„Sie waren in dieser Stadt verwurzelt“

Bad Kissingen ist ein Heilbad in Franken mit einer Bevölkerung von heute 22.000. 1925 waren es nur 9.000 Einwohner*innen, von denen etwa 5 Prozent Jüdinnen und Juden waren. „Dass Jüdinnen und Juden in der Stadt lebten, ist bis ins 13. Jahrhundert zurück dokumentiert. Für den Aufstieg Bad Kissingens zum Weltbad spielten sie als Geschäftsleute, Ärzte und im Kurbetrieb eine wichtige Rolle“, sagt Rudolf Walter.

„Man könnte sagen“, sagt Marlies Walter, „dass das jüdische Leben von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Nazizeit florierte. Die meisten Jüdinnen und Juden waren nicht sehr religiös; es war eine typische deutsche jüdische Community.“

Bei ihrer Forschung lernten die Schüler*innen, Quellen wie Zeitungsartikel zu benutzen und wie wichtig es ist, in Archiven zu arbeiten. „Wir dokumentierten die Zerstörung der Synagoge, und die Schüler*innen arbeiteten mit den Akten über die Personen, die das getan hatten“, sagt Rudolf Walter. 

„Für mich war es wichtig, dass sie erkennen, dass die Jüdinnen und Juden angesehene Mitglieder der Gesellschaft waren, und keine Opfer“, sagt Marlies Walter. „Sie waren in dieser Stadt verwurzelt.“

Die Ausstellung sollte für zwei Wochen im Rathaus gezeigt werden. „Etwa 3.000 Menschen kamen, um sie zu sehen, auch von außerhalb der Region“, sagt Rudolf Walter. „Und erstaunlicherweise hat die Stadt der Idee zugestimmt, daraus eine Dauerausstellung zu machen.“

Dank der enthusiastischen Unterstützung von Oberbürgermeister Straus wurde die Ausstellung — „Jüdisches Leben in Bad Kissingen“ — nun im ehemaligen Jüdischen Gemeindehaus der Stadt gezeigt: Es befindet sich in derselben Straße wie das Stadtarchiv, in dem Marlies Walter arbeitete. Bis heute betreut sie die Ausstellung, hält Vorträge und macht Führungen, und bleibt mit Überlebenden aus Bad Kissingen und ihren Nachkommen in Kontakt. Zudem organisiert sie Veranstaltungen für die Jüdischen Kulturtage Bad Kissingen.

„Es ist wichtig, dass die Ausstellung dauerhaft und nicht nur für ein paar Tage gezeigt wird“, sagt Marlies Walter. „Viele jüdische Gäste aus Israel kommen nach Bad Kissingen zur Kur, und ich hatte den Eindruck, dass es für sie wichtig war, in eine Stadt zu kommen, die ihre jüdische Geschichte zeigt.“

Manche dieser Gäste hatten Wurzeln in Bad Kissingen. Manche schrieben sogar ins Gästebuch, dass sie sich eigentlich entschlossen hatten, niemals wieder einen Fuß in die Stadt zu setzen. Nun kamen sie nicht nur zu Besuch, sondern brachten auch ihre Kinder mit. Und sie kamen wieder.

Sie wusste außerordentlich viel. Sie wusste mehr über die Familie als ich, und das will schon etwas heißen, denn ich bin die Chronistin unserer Familie.
— Elizabeth Steinberger

Darunter auch der Physik-Nobelpreisträger Jack Steinberger. „Ohne die persönlichen Kontakte von seinem ersten Besuch wäre er nicht wiedergekommen“, sagt Marlies Walter. Steinberger starb 2021 im Alter von 99 Jahren.

„Mein Onkel lebte in Genf und erhielt den Nobelpreis im selben Jahr, als Rudolf und seine Schüler*innen ihr Projekt über das jüdische Leben in Bad Kissingen durchführten“, erinnert sich seine Nichte Elizabeth Steinberger aus North Carolina/USA. „Er hörte von dem Projekt, und sie lernten sich kennen. Rudolf setzte sich im Lehrerkollegium für die Benennung des Gymnasiums nach Jack Steinberger ein, und seit 2001 trägt es Jacks Namen.“

Als Elizabeth ein paar Jahre später ihren Onkel Jack in der Schweiz besuchte, wollte sie ein paar Tage in Bad Kissingen verbringen „und mich umsehen. Ich kannte niemanden und erwartete nichts.“

Sie wurde wie eine Prominente empfangen. Der ehemalige Oberbürgermeister Straus begrüßte sie am Bahnhof, und Marlies Walter führte sie durch das ehemalige Haus der Familie im ehemaligen Jüdischen Gemeindehaus, wo die Ausstellung gezeigt wird. „Mein Vater und seine Brüder kamen dort zur Welt. Sie sind dort aufgewachsen. Ich konnte ihr früheres Zuhause sehen. Mein Vater hatte es detailliert beschrieben. Es war fantastisch.“

Marlies machte ihr außerdem die Ausstellung zugänglich, erinnert sich Elizabeth Steinberger. „Sie wusste außerordentlich viel. Sie wusste mehr über die Familie als ich, und das will schon etwas heißen, denn ich bin die Chronistin unserer Familie.“

„Es gab einen Raum für den jüdischen Religionsunterricht im Erdgeschoss des Jüdischen Gemeindehauses in der Promenadestraße 2. Das jüdische Ritualbad war noch da. Die Ausstellung war in der ehemaligen Wohnung der Familie Neustädter untergebracht, die direkt unter der Familie meines Vaters wohnte.“ Sogar die Buntglasfenster im Gebetsraum im ersten Stock waren noch original erhalten, merkt Steinberger an, die Bad Kissingen seitdem mehrmals besucht hat.

Die Ausstellung ist nach heutigen Maßstäben zu textlastig und sollte dringend modernisiert werden, sagt Rudolf Walter. Sie ist aber weiterhin ein Ziel von Klassenfahrten, und Jüdinnen und Juden aus aller Welt, die Wurzeln in der Stadt haben, besuchen sie ebenfalls regelmäßig.

Im Laufe der Jahre hat Marlies Walter für viele Besucher*innen mit Wurzeln in Bad Kissingen Führungen gemacht. Sie melden sich bei ihr aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt, etwa Südafrika, den USA und Italien. Häufig, sagt sie, machen sie sich darüber Sorgen, wie sie einen Besuch in Bad Kissingen verkraften werden. Sie versucht, ihnen Mut zu machen.

Sie erzählt von der Führung für Nachkommen der Familie Neustädter, die im Stockwerk unter den Steinbergers wohnten. „Sie kamen ins Haus und wir gingen die Treppe hinauf. Und sie sagten: ‚Das ist die Treppe, die mein Vater hochgestiegen ist, und mein Großvater.‘ Das war für sie sehr bewegend, und auch für mich“, erinnert sie sich.

„Wir müssen das bewahren“

In den folgenden Jahren haben die Walters eine umfangreiche Online-Datenbank mit detaillierten Biografien aller jüdischen Bewohner*innen von Bad Kissingen während der Nazizeit erstellt. Rudolf Walter und Hans-Jürgen Beck haben die Ausstellungstexte in Form eines Buchs veröffentlicht.

Die Walters haben mehrere Publikationen über die jüdische Geschichte von Bad Kissingen herausgegeben, interaktive Bildungsangebote und Vorträge in Schulen für junge Menschen vor Ort organisiert und Führungen zur jüdischen Geschichte angeboten. Sie haben sich in zahlreichen bürgerschaftlichen Projekten zur lokalen jüdischen Geschichte und Kultur engagiert, u.a. Gedenkveranstaltungen, Protesten gegen Vandalismus im alten jüdischen Friedhof, der Verlegung von Stolpersteinen und der Umbenennung des Gymnasiums in Jack-Steinberger-Gymnasium.   

In jüngster Zeit haben die Walters eine umfangreiche Online-Datenbank mit detaillierten Biografien aller jüdischen Bewohner*innen während der Nazizeit erstellt.

Die Datenbank umfasst derzeit fast 700 Biografien und kann jederzeit erweitert und korrigiert werden, sagt Rudolf Walter. Sie enthält auch einen Stadtplan von Bad Kissingen, in den alle jüdischen Geschäfte und die Synagoge eingetragen sind. Eine englische Übersetzung ist inzwischen auch vorhanden.

„Die Nachkommen sprechen kein Deutsch mehr, aber jetzt können sie die Biografien lesen und Informationen ergänzen und richtigstellen“, sagt Rudolf Walter. 

„In einer Gedenkstätte liest man Namen“, ergänzt Marlies Walter. „Aber hier kann man etwas über die Geschichte der Menschen lesen.“ Schüler*innen sind „am meisten von den einzelnen Geschichten bewegt: hier ist er aufgewachsen, hier ist sie zur Schule gegangen, er konnte emigrieren oder wurde deportiert. Es geht um die Geschichte, die hinter den Gedenkstätten und -tafeln steht.“

Die Kontakte zu Überlebenden und deren Nachkommen führten sie zu einem neuen Projekt: eine Recherche zu 230 jüdischen Schüler*innen, die die Kissinger Realschule besuchten, bevor das Naziregime 1936 die letzten jüdischen Schüler von der Schule verwies.  

„Nachkommen erzählten mir ihre Geschichten, und ich dachte: wir müssen das bewahren“, sagt Marlies Walter.  

Rudolf Walter stieg in den Atomschutzbunker der Schule aus der Zeit des Kalten Kriegs hinunter, wo das Archiv der Schule lagert, und vertiefte sich in die Akten dieser Schüler*innen. „Es war vollkommen dunkel, keine Fenster“, sagt er. „Ich habe mitten im Sommer 14 Tage dort verbracht; es war eigentlich sehr kühl.“ In den Akten war für alle Schüler*innen die Religion verzeichnet, was heute undenkbar wäre. „Es war interessant zu sehen, was die Lehrer*innen über die Schüler*innen dachten und wie sie ihre Noten und ihre persönlichen Eigenschaften beschrieben“, sagt er.

„Was hier in Bad Kissingen und in ganz Deutschland geschah, war ungeheures Unrecht“, sagt Beck. Es ist wichtig, die Erinnerung an die Geschichte und das Schicksal dieser Menschen wach zu halten. Und es ist ein großes Geschenk, diese Kontakte zu ihren Nachkommen zu haben.“

„Für mich“, sagt Rudolf Walter, „ist es immer wichtig gewesen, nicht nur zu betrachten, was geschehen ist, sondern was dazu geführt hat – zu erkennen, wie die Demokratie zerstört wurde.“

Marlies Walter ergänzt: „Man muss aufzeigen, was geschehen kann, wenn man nicht zum richtigen Zeitpunkt eingreift.“

Marlies und Rudolf Walter, sagt Steinberger, „sind ein Beispiel dafür, wie die Dinge in Deutschland sich verändert haben, und sie sind einer der Hauptgründe dafür, dass sie sich verändert haben. Sie arbeiten mit Leib und Seele dafür, die Menschen vor Ort über die jüdische Vergangenheit und den Holocaust aufzuklären und der jüdischen Kultur als Teil des Lebens der Stadt weiterhin Raum zu geben. Es sind 34 fantastische Jahre gewesen.“

— Obermayer Award 2023

 
 

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