Obermayer Award

„Sie lernen nicht aus einem Geschichtsbuch, sondern vom Leben selbst.“

Jörg Friedrich inspiriert Schüler*innen, genauer hinzuschauen und über die Geschichte nachzudenken, und es geht um die heutige Bedeutung der Geschichte.

Toby Axelrod

Mitten im Leben den Beruf zu wechseln erfordert in Deutschland einen gewissen Wagemut. Und Jörg Friedrich ist der Wagemut in Person. 

„Ich wollte einen Beruf ergreifen, bei dem ich mit jungen Menschen zusammenarbeiten und etwas bewirken kann! Das konnte ich als Banker nicht tun“, sagt Friedrich, 49, der mit 30 seine Position als Bankbetriebswirt bei der Kreissparkasse St. Wendel aufgegeben hat, um Lehramt zu studieren. Seit 2009 unterrichtet er an der Gemeinschaftsschule Nohfelden.

Heute ist er dafür bekannt, dass er seine Schüler*innen befähigt, sich mit der jüdischen Geschichte im Saarland auseinanderzusetzen. Und er hat ihr Leben verändert, so wie er auch sein eigenes Leben verändert hat.

„Bereits seit 11 Jahren führt er kreativ und nachhaltig Projekte gegen das Vergessen, für mehr Toleranz, Offenheit und Solidarität sowie gegen Vorurteile und Schubladendenken durch“, schrieb Monika Greschuchna, Schulleiterin an seiner Schule, in ihrer Nominierung für ein Obermayer Award. „Ohne das Engagement von Herrn Friedrich, der die Schüler:innen seiner AG fordert und fördert, begleitet, anleitet und unterstützt, hätte sich diese einmalige Erinnerungsarbeit nicht entwickeln können.“ 

Aus der Perspektive von Friedrich sind es die Jugendlichen, ohne die nichts geschehen wäre: „die Initiative ging immer von den Schüler*innen aus.“ Dabei betrachtet er sich als eine Art Coach. 

„Ich möchte meinen Schüler*innen zeigen, was zu extremen Ansichten führen kann, und ich will demokratisches Denken fördern“, sagt er. „Die Geschichte kann uns zeigen, wohin intolerantes Denken führen kann. Und andererseits kann die Geschichte uns zeigen, dass die Menschen vor 200 Jahren hier vor unserer Haustür friedlich zusammengelebt haben.“

Ich wollte etwas aufbauen, das auf Dauer angelegt ist, sodass neue Kinder sich immer wieder mit diesem Material beschäftigen können.
— Jörg Friedrich

 Jörg Friedrich hat sich schon immer für Geschichte interessiert. Wie viele andere Deutsche, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, fragte er seine älteren Verwandten nach ihren Erinnerungen. Seine Großeltern waren zu alt, um im Krieg zu dienen. In seinen Worten: „in dem Sinne hatten wir ‚Glück‘.“ Vor kurzem hat er von seiner Mutter erfahren, dass sein Urgroßvater, ein Schuster, sein Leder von einem Juden aus seinem Dorf in der Nähe von Trier bezogen hat. „Für mich bedeutet das, dass solche Interaktionen damals einfach normal waren. Sie lebten mehr oder weniger in Frieden zusammen, und 12 Jahre [des Naziregimes] haben das auf den Kopf gestellt“, sagt er.

Obwohl er an Geschichte interessiert war, folgte Friedrich zunächst in den Fußstapfen seines Vaters, eines Bankers. Ihm wurde aber klar, dass er vom Leben mehr wollte als dieser Beruf ihm geben konnte.

„Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich kündigte“, sagt er. „Ich war dort glücklich gewesen, hatte viele Freund*innen und Bekannte, und das Betriebsklima war gut. Ich hatte Tränen in den Augen. Es war kein leichter Schritt, einen relativ gut bezahlten Job aufzugeben, um ein Studium aufzunehmen. Für manche meiner Bekannten und für meine Mutter war es nicht einfach. Ich habe es allerdings nie bereut.“

Er wurde Deutschlehrer und beschäftigte sich nebenher mit Geschichte. Schon bald engagierte sich Friedrich mit seinen Schüler*innen ab der 5. Klasse an Erinnerungsprojekten. Im Jahr 2011 lud das Adolf-Bender-Zentrum für Menschenrechte und Demokratie in St. Wendel die Schule ein, die Verlegung des ersten Stolpersteins, eines kleinen Gedenksteins aus Messing, in Nohfelden zu begleiten. Daraufhin forderte Friedrich die Schüler*innen auf, sich an dem Projekt zu beteiligen.

„Die Idee ging von den Schüler*innen aus“

Sie gründeten eine Stolperstein AG und recherchierten mit Unterstützung von Historiker*innen vor Ort, die bereits die Namen der letzten Jüdinnen und Juden von Nohfelden ausfindig gemacht hatten, deren Biografien. Bislang haben sie 19 dieser kleinen Gedenksteine verlegen lassen, und es könnten viel mehr sein, wenn sie dafür das Geld hätten, sagt Friedrich. „Wir kennen die Namen von 137 jüdischen Menschen, die von den Nazis ums Leben gebracht wurden.“

Das Projekt hat eine starke Wirkung entfaltet. „Die Schüler*innen waren wirklich bewegt, als sie sich in die ersten 19 Biografien vertieften“, sagt er. „Ein Mädchen war dabei, das genauso alt war wie sie. Dabei lernen sie nicht aus einem Geschichtsbuch, sondern vom Leben selbst. Und wenn wir den Holocaust durchnehmen, dann schauen wir uns nicht die Geschichte von München oder Berlin an, sondern die unseres eigenen Ortes. Die Kinder fangen an, zu Hause darüber zu sprechen und stellen ihren Großeltern Fragen. Und dann bringen sie das, was sie erfahren haben, in den Unterricht mit.“

Als das Stolpersteine-Projekt zu Ende war, sagten die Schüler*innen, dass sie weitermachen wollten. Jörg Friedrich leitete sie dabei an, sieben Ausstellungstafeln für eine Wanderausstellung über die jüdische Geschichte vor Ort zu erstellen. Es gab so viel Material, dass sie sich dazu entschlossen, eine Website mit dem Namen Jüdisches Leben Nohfelden zu machen. „Die Idee ging von den Schüler*innen aus“, sagt Friedrich.

Im Laufe von 11 Jahren haben vier Schüler*innengenerationen bei dem Projekt mitgemacht, das mittlerweile den Namen „Multimediale und inklusive Erinnerungsarbeit – Jüdisches Leben in der Gemeinde Nohfelden“ trägt. Sie haben Versionen in Leichter Sprache und in Brailleschrift sowie eine Audiospur ausgearbeitet, Teile der Website ins Englische übersetzt, zwei Filme und einen Erinnerungsweg (Wege der Erinnerung) auf den Spuren der lokalen jüdischen Geschichte – mit einem Flyer und einer App – geschaffen, und ein Konzept für einen Wandertag zur jüdischen Geschichte mit entsprechenden Arbeitsmaterialien für die Schulen vor Ort erstellt.

Auf dem Erinnerungsweg „sieht man Schilder mit alten Fotos“, sagt Mathias Zell, 22, ein ehemaliger Schüler Friedrichs, der jetzt Geschichte und Philosophie studiert. „Man kann sehen, dass dieses Gebäude eine Mikwe [Ritualbad] war, hier stand eine Synagoge, hier wohnte eine bestimmte Familie.“

„Bevor Herr Friedrich mit dieser Arbeit anfing, wusste ich überhaupt nichts darüber“, sagt Zell weiter, der sich in der 12. Klasse am Stolpersteinprojekt beteiligte. „Freunde haben mich angesprochen: ‚wir machen das und brauchen noch ein paar Leute‘.“

Jan Zubix, 21, Student der Kunstgeschichte und Germanistik: „Man sagt, der Geschichtsunterricht beschäftigt sich mit der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft. Das ist ein schwieriger Teil unserer deutschen Geschichte, und wir sollten unsere Augen nicht davor verschließen.“

„Ich hatte keinen anderen Lehrer, der so viel Zeit investierte, um uns diese Geschichte näherzubringen“, ergänzt er. „Er hat nächtelang Sachen abgetippt, mit ihm war die Arbeit angenehm und nicht nervig. Es hat Spaß gemacht: er war eher ein Freund als ein Lehrer.“

Marie Müller, 19, entschied sich, beim Stolpersteinprojekt mitzumachen, als sie in der 10. Klasse war. Schließlich hat sie ihre Schule bei einem Jugendkongress in Berlin vertreten. Es war inspirierend zu sehen, sagt sie, „wie junge Menschen sich bei diesem Thema engagieren und zu wissen, dass sie später im Leben vielleicht weitermachen.“ Müller hat vor, bei der Polizei zu arbeiten, wo „es Möglichkeiten gibt, Diskriminierung und Vorurteilen entgegenzuwirken.“

Die Arbeit, die Friedrich geleistet hat, findet einen größeren Kreis – er hat eine Unterrichtseinheit zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nohfelden für die Klassenstufe 9 entwickelt und in Zusammenarbeit mit dem BildungsNetzwerk St. Wendeler Land einen außerschulischen Lernort für Kinder aus der ganzen Region geschaffen.

„Ich habe das für unser künftigen Schüler*innen gemacht“, erklärt Friedrich. „Ich wollte etwas aufbauen, das auf Dauer angelegt ist, sodass neue Kinder sich immer wieder mit diesem Material beschäftigen können.“

Für ihn war es zudem wichtig, mehr über das jüdische Leben in Deutschland heute zu erfahren. „In unserer Gegend haben wir keine jüdischen Mitbürger*innen mehr“, sagt er. „Aber vor etwa sieben Jahren haben wir eine Abfrage gemacht und festgestellt, dass es unter den Schüler*innen 20 muslimische, ein*e buddhistische*n und ein*e jüdische*n gab.“ Diese Befragung hat das Interesse gestärkt, etwas über unterschiedliche Glaubensrichtungen zu lernen. Friedrich hat Schüler*innen zu Besuchen bei den nächstgelegenen jüdischen und muslimischen Gemeinden mitgenommen und deren Mitglieder eingeladen, sie zu besuchen. „Einander kennenzulernen hilft, Stereotype zu überwinden“, sagt Friedrich.  

Auch wenn er der Ansicht ist, dass Einzelheiten über das Schicksal von Jüdinnen und Juden im Holocaust nur den älteren vermittelt werden sollte, ermutigt er Lehrer*innen, den jüngeren Schüler*innen die jüdische Kultur, Religion und Tradition nahezubringen. Zum Beispiel kann der Besuch eines der beiden jüdischen Friedhöfe in der Region sie dazu anregen, Fragen über die jüdischen Symbole auf den Grabsteinen, das hebräische Alphabet, den jüdischen Kalender und jüdische Traditionen bezüglich Tod, Gebet usw. zu stellen.

„Miteinander, nicht gegeneinander“

Friedrichs Freundschaft mit dem Holocaustüberlebenden Alex Deutsch, der in der Region gelebt hatte, war für ihn prägend. „Ich habe an einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrkräfte zum Rechtsextremismus teilgenommen. Vormittags haben wir einen Aussteiger aus der [rechtsextremen] Szene kennengelernt, danach Alex Deutsch.“

Die erste Ehefrau von Deutsch und ihr Sohn wurden in Auschwitz ermordet. „Er hat viele Schicksalsschläge erfahren, aber er sagte immer: ‚wir müssen miteinander, nicht gegeneinander leben.‘ Ich hatte für ihn großen Respekt“, sagt Friedrich, der mit Doris Deutsch, der Witwe von Alex Deutsch, weiter Kontakt pflegt. Sie trifft sich weiterhin mit Schüler*innen, um sicherzustellen, dass die Geschichte ihres Mannes nicht vergessen wird.

„Wir haben durch seine Projekte ‚die Schule verlassen‘: er hat die jüdische Geschichte für jeden sichtbar in die Dörfer ‚gebracht‘“, schrieb Schulleiterin Monika Geschuchna. „Somit zeigt er allen Besuchern, was passieren kann, wenn man die Grundprinzipien einer offenen, toleranten und solidarischen Gesellschaft missachtet, aber auch, dass ein friedvolles, gemeinsames Leben der unterschiedlichen Religionen in unserer Gemeinde schon früh praktiziert wurde. … Herr Friedrich agiert mit Herz und Verstand, großer Unerschrockenheit, Zielstrebigkeit, Offenheit und Klarheit.“

Gegen die Erinnerungsarbeit, die Friedrich angeregt hat, hat es wenig Widerstand gegeben. Einmal, sagt er, wurden einige der Tafeln mit Hakenkreuzen beschmiert. „Das Schlimmste ist, wenn man dieses nationalistische Gedankengut hat – ‚die Deutschen zuerst‘.“

„Rassismus und Antisemitismus kommen in unserer Gesellschaft immer häufiger vor“, sagt die Schülerin Marie Müller. „Und wenn man bemerkt, dass das beginnt, muss man gezielt dagegensteuern. Genau das tut die Arbeit von Herrn Friedrich.“

Der Student Mathias Zell sagt: „Ich könnte den ganzen Tag über seine Arbeit sprechen. Es hat mein Leben geprägt.“

„Ich habe es Herrn Friedrich zu verdanken, dass ich die Holocaustüberlebende Margot Friedländer kennenlernen durfte“, die der Stolperstein AG den nach ihr benannten Preis 2019 in Berlin überreichte. „Sie ist die einzige Überlebende, die ich persönlich kennengelernt habe, und ich finde diese Frau einfach wunderbar“, sagt Zell.

„Sie ist ganz zierlich und schlank und hat diese großen Augen, dann nimmt sie mich am Arm und sagt: ‚Seid Menschen.‘ Und ich sehe immer noch, wie sie das sagt, diese zierliche Frau mit den großen Augen. Wir haben es Herrn Friedrich zu verdanken, dass wir diese Gelegenheit hatten.

„Beim Holocaust geht es um Menschen“, ergänzt Zell. Nicht nur um abstrakte Zahlen, um etwas, das vor langer Zeit geschah. „Es gibt von ihnen Fotos, sie hatten Kinder, ihre Kinder hatten Freund*innen, ihr Leben hatte einen Wert, sie hatten Hoffnungen und sie hatten Träume.“

— Obermayer Award 2023

 
 

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